Beteiligte
Landesversorgungsamt Baden-Württemberg |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. August 1997 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Der im Juni 1982 geborene Kläger entzündete am 13. Dezember 1991 zusammen mit anderen Kindern auf dem Marktplatz in W. Feuerwerkskörper. Da ihm der damals zehnjährige F.B. einen angezündeten Feuerwerkskörper in die linke Hosentasche gesteckt hatte, gerieten seine darin befindlichen Feuerwerkskörper in Brand. Der Kläger erlitt dabei Verbrennungen 2. und 3. Grades am linken Oberschenkel, die mit einer Spalthauttransplantation therapiert und mehrfach weiterbehandelt werden mußten. F.B. wurde durch rechtskräftiges Versäumnisurteil des Landgerichts Freiburg (2 O 526/93) zur Zahlung von Schmerzensgeld und weiteren Schadensersatz an den Kläger verurteilt.
Das Versorgungsamt Freiburg lehnte den im Januar 1994 gestellten Antrag des Klägers auf Versorgung nach dem OEG mit der Begründung ab, es habe lediglich eine fahrlässige Körperverletzung vorgelegen (Bescheid vom 18. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 1994).
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, den Kläger für die Folgen der am 13. Dezember 1991 erlittenen Verletzung nach dem OEG zu entschädigen. F.B. habe den Kläger iS des § 1 OEG vorsätzlich und rechtswidrig tätlich angegriffen und verletzt (Urteil vom 29. September 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil bestätigt (Urteil vom 7. August 1997). In den Entscheidungsgründen heißt es im wesentlichen: Der Kläger sei Opfer eines (bedingt) vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffes iS des § 1 OEG geworden. F.B. sei, wie er eingeräumt habe, bewußt gewesen, daß von derartigen Krachern eine (Verletzungs-) Gefahr ausgehe, denn er habe solche Knallkörper in den Sand gesteckt, sie dann angezündet und sei danach weggelaufen, damit ihm und den anderen Kindern nichts passiere. Zwar habe er nicht gewollt, „daß so etwas passiert”. Dies sei jedoch rechtlich unerheblich, denn darauf, daß der Schädiger die Folgen der Verletzung beabsichtigt habe, komme es rechtlich nicht an. Daß F.B. damals erst zehn Jahre alt gewesen sei, sei ebenfalls unerheblich, denn ein handlungsfähiges, aber schuldunfähiges Kind könne vorsätzlich einen rechtswidrigen tätlichen Angriff begehen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend, das LSG habe die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 OEG verkannt. F.B. sei nicht in feindseliger Absicht gegen den Kläger vorgegangen. Er habe sich bei seinem Tun wahrscheinlich überhaupt nichts gedacht. Aber auch wenn dem nicht so sei, schließe der vom LSG angenommene kindliche Leichtsinn ein rechtsfeindliches Handeln des F.B. aus. Dies gelte um so mehr, als dem Geschehen weder ein Streit noch andere Auseinandersetzungen zwischen den Kindern vorausgegangen seien. Auch die Beweiswürdigung des LSG sei zu beanstanden, denn es stehe nicht einmal fest, ob F.B. gewußt habe, daß der Kläger Feuerwerkskörper in der Hosentasche gehabt habe und welcher Schaden entstanden wäre, wenn nur der angezündete Feuerwerkskörper abgebrannt wäre.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. August 1997 und des Sozialgerichts Freiburg vom 29. September 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung nach § 1 Abs 1 OEG.
Nach dieser Vorschrift erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig, allerdings in Anknüpfung an Vorschriften des Strafgesetzbuchs (StGB), insbesondere §§ 113 Abs 1 und 121 Abs 1 StGB, geregelt. Entschädigt werden regelmäßig nur Opfer von solchen Gewalttaten, die wenigstens zu einer Körperverletzung führen. Dies hat § 1 Abs 1 Satz 1 OEG durch die Voraussetzung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs ausgedrückt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist damit eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen gerichtete gewaltsame, zumeist also handgreifliche Einwirkung gemeint. Der Senat hat inzwischen klargestellt, daß insoweit nicht die innere Einstellung des Täters oder ein aggressives Verhalten, sondern die Rechtsfeindlichkeit der Tathandlung für das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen des tätlichen Angriffs maßgeblich ist und keine strenge Bindung an die strafrechtliche Bedeutung des entsprechenden Begriffs besteht (vgl zuletzt BSGE 81, 42 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11 und BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12). Weiter hat der Senat herausgearbeitet, daß unter Vorsatz grundsätzlich der direkte Vorsatz zu verstehen ist, es aber auch genügt, wenn der Angreifer mit bedingtem Vorsatz handelt. Dafür spricht vor allem der Zweck des OEG. Die öffentliche Hand soll für gesundheitliche Schäden des durch eine Gewalttat verletzten Opfers dann einen Ausgleich gewähren, wenn es dem Staat nicht gelungen ist, die Gewalttat zu verhindern, dh die Einhaltung seiner dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit (auch) des Opfers dienenden Rechtsnormen durchzusetzen. Deshalb kann es sowohl aus der Sicht des Staates als auch aus der des Opfers bzw der Hinterbliebenen nicht darauf ankommen, ob die Gewalttat mit direktem oder bedingtem Vorsatz begangen worden ist (vgl BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12).
Für das Vorliegen von Vorsatz genügt es, daß der Täter eine körperliche Beeinträchtigung des Opfers in seinen Willen aufgenommen (natürlicher direkter Vorsatz) oder aber eine solche Beeinträchtigung zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz). Das heißt, der Täter muß sich im Augenblick der Tathandlung zumindest über die Möglichkeit des Erfolgseintrittes (zB einer Körperverletzung) im klaren gewesen und diese in Kauf genommen haben (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 5). Im Gegensatz zum Strafrecht ist es jedoch nicht erforderlich, daß sich der Täter weiterer Folgen der unmittelbaren körperlichen Einwirkung bewußt ist, er sich zB einen entsprechenden Kausalverlauf mit bestimmten Verletzungen oder sonstigen Folgen vorgestellt bzw solche für möglich gehalten hat (vgl Cramer in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Auflage 1997, § 15 RdNr 180 ff). Der Vorsatz muß sich danach nur auf den Angriff als solchen, also auf die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers, nicht aber auf den entstandenen Körperschaden gerichtet haben (BSG SozR 3-3800 § 10a Nr 1).
Ist das Handeln des Täters vorsätzlich und auf Rechtsbruch gerichtet gewesen, steht der Annahme der Voraussetzungen des § 1 OEG nicht entgegen, daß sich der Angreifer möglicherweise nur einen groben oder gewalttätigen Scherz erlauben wollte und gegenüber dem Opfer keine feindselige Einstellung gehabt hat. Lediglich soweit Handlungen im Rahmen des sozial Üblichen geschehen, etwa durch körperliche Kontakte auf Volksfesten (BSG SozR 3800 § 1 Nr 6), ist ihre Rechtswidrigkeit zu verneinen und sind etwa fahrlässige Verletzungsfolgen von der staatlichen Entschädigungspflicht ausgeschlossen. Auch dies hat der Senat bereits ausgesprochen (vgl BSG SozR 3-3800 § 10a Nr 1). Damit hat er seine früher vertretene Auffassung differenziert, eine vorsätzliche, zu einer Verletzung führende Handlung sei dann kein feindseliger Angriff, wenn sie als gefährlicher Scherz zu werten sei (so BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 1). Daran ist – wie bereits im Urteil vom 28. Mai 1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714 ausgeführt – festzuhalten. Denn wenn ein sog Erfolgsdelikt, wie zB eine Körperverletzung, vorsätzlich versucht oder vollendet worden ist, liegt – auch wenn der Täter nur einen Scherz machen wollte – ein tätlicher Angriff vor. Nichts anderes gilt für sogenannte Dummejungenstreiche, wenn mit ihnen eine Gewalthandlung iS einer körperlichen Einwirkung auf das Opfer einhergeht (vgl zur Körperverletzung und zum strafrechtlichen Gewaltbegriff Eser in Schönke/Schröder, aaO, § 223 RdNrn 1, 3, 5 sowie Vorb §§ 234 ff RdNr 7) und sie zu einer Körperverletzung führen.
Die Leistungspflicht des Versorgungsträgers ist auch nicht durch die Schuldunfähigkeit des jugendlichen Täters ausgeschlossen. Das OEG verlangt nur einen natürlichen Vorsatz, nicht Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne. Dies hat der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung deutlich zum Ausdruck gebracht (vgl BT-Drucks 7/2506 S 14; ebenso Sailer in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 1 OEG RdNr 7; Kunz/Zeller, Opferentschädigungsgesetz, Kommentar, 3. Aufl 1995, § 1 RdNr 29). Auch ein schuldunfähiges, aber handlungsfähiges Kind kann danach einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 OEG begehen (vgl BT-Drucks 7/2506 S 14). Nur unter dieser Annahme ist der mit dem OEG bezweckte objektive Schutz von Opfern von Gewalttaten durchgehend zu verwirklichen. Denn der Gesetzgeber hat den „Gewaltbegriff” inhaltlich ausdrücklich als außerordentlich weit gefaßt angesehen (vgl BT-Drucks 7/2506 S 10).
Der Vorsatz des Angreifers bedarf des Nachweises. Ist der Täter unbekannt geblieben oder läßt sich der Sachverhalt insoweit nicht oder nicht ausreichend aufklären, zB weil der Täter zum Tatgeschehen schweigt oder nur ungenügende Angaben macht, darf aus den festgestellten äußeren Umständen auf das Vorliegen des (bedingten) Vorsatzes geschlossen werden (vgl zB BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 1 und zuletzt BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12 mwN). Ist auch dies nicht möglich, geht das Nichtfestgestelltsein des Vorsatzes nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- bzw Feststellungslast zu Lasten des Klägers (vgl BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr 34; BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12).
Aufgrund der unangegriffenen Feststellungen des LSG hat der Senat von folgendem Sachverhalt auszugehen: F.B. hat dem Kläger einen angezündeten Feuerwerkskörper in die linke Hosentasche gesteckt. Dadurch haben sich auch die in der Tasche befindlichen Feuerwerkskörper entzündet und zu erheblichen Brandverletzungen des Klägers geführt. Dem F.B ist bekannt gewesen, daß von Feuerwerkskörpern eine (Verletzungs-) Gefahr ausgeht. Bei seiner Befragung vor dem SG hat er eingeräumt, die Knallkörper in den Sand gesteckt zu haben und dann nach dem Anzünden weggelaufen zu sein, damit den Kindern „nichts passiert”. Aufgrund dieser festgestellten Umstände hat das LSG mit Recht angenommen, daß F.B. den Kläger vorsätzlich, rechtswidrig tätlich angegriffen hat.
Der Senat hat bereits entschieden, daß das Zünden eines Feuerwerkskörpers in unmittelbarer Nähe einer anderen Person, weil damit die Gefahr einer Körperverletzung verbunden ist, als rechtswidriger tätlicher Angriff im oben bezeichneten Sinn anzusehen ist (Urteil vom 28. Mai 1997 - 9 RVg 1/95 - USK 9714). Erst recht besteht die Gefahr einer erheblichen Verletzung der körperlichen Integrität eines anderen, wenn diesem ein angezündeter Feuerwerkskörper in eine Hosentasche gesteckt wird. Da es – wie dargestellt – rechtlich nicht darauf ankommt, daß sich der Täter möglicherweise nur einen groben Scherz erlauben wollte, ist das LSG zutreffend auch von einem rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen den Kläger ausgegangen. Die hier von dem Täter und den anderen Kindern gezündeten „Wilden Hummeln”, „Feuerringe” und sonstigen Kracher oder anderen Knallkörper waren offensichtlich nicht derart harmlos, daß sie überhaupt keine Verletzung eines anderen zur Folge haben konnten, wenn sie angezündet einem anderen in die Hosentasche gesteckt wurden (vgl die ähnliche Sachverhalte betreffenden Urteile des BGH vom 26. Mai 1998 - VI ZR 183/97 und 9. Juni 1998 - VI ZR 238/97 - in JZ 1999, 48, 50). Daß der Kläger selbst Feuerwerkskörper in der Hosentasche bei sich trug und wahrscheinlich erst deren Inbrandsetzung den eingetretenen Umfang der Schädigung ganz erheblich mitbeeinflußt hat, ist für die Annahme eines tätlichen Angriffs – wie ausgeführt – rechtlich nicht erheblich, denn auch nur ein angezündeter Knallkörper kann eine Hosentasche in Brand setzen und Verletzungen verursachen.
Entgegen den Angriffen der Revision ist auch der vom LSG gezogene Schluß, daß F.B. den Kläger zumindest bedingt vorsätzlich angegriffen hat, nicht zu beanstanden. F.B. hat es nach den festgestellten Tatumständen jedenfalls für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, daß der Kläger durch den ihm in die Hosentasche gesteckten angezündeten Knallkörper verletzt werden könnte. Dagegen kann hier – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht angenommen werden, F.B. habe lediglich fahrlässig gehandelt. Denn das LSG durfte aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen insbesondere einen Fall bewußter Fahrlässigkeit verneinen. Auszugehen ist davon, daß bei dem damals bald zehnjährigen Täter, einem normal entwickelten, im Umgang mit Knallkörpern bereits erfahrenen Jungen, die Einsichtsfähigkeit und Vorstellung vorhanden waren, daß sein „Streich” eine gegen einen anderen Menschen gerichtete Handlung war, die diesen körperlich beeinträchtigen konnte. Deshalb hat er im Hinblick auf den eigenen Umgang mit Feuerwerkskörpern auch eingeräumt, daß entzündete Feuerwerkskörper gefährlich sind, weil etwas passieren kann. Dies indiziert, daß ihm klar war, daß angezündete oder explodierende Kracher möglicherweise auch Verletzungen verursachen können. Deshalb ist auch die weitere Schlußfolgerung des LSG nicht zu beanstanden, F.B. habe eine mögliche Verletzung des Klägers nicht nur erkannt, sondern dadurch, daß er diesem den angezündeten Feuerwerkskörper dennoch in die Tasche steckte, im Augenblick seines Handelns auch billigend in Kauf genommen.
Von bewußter Fahrlässigkeit spricht man im Zivilrecht, wenn der Handelnde darauf vertraut, ein Schaden werde nicht eintreten (vgl Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Recht, Kommentar, 57. Aufl 1998, § 276 RdNr 10, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Im Strafrecht wird darauf abgestellt, daß der Täter darauf vertraut oder gehofft hat, daß bei seinem Handeln „alles gut geht”, obwohl ihm die Gefährlichkeit seines Tuns bekannt war (vgl Cramer in Schönke/Schröder, aaO, § 15 RdNr 203). F.B. hat nicht darauf vertraut, daß alles gut gehen werde. Das ergibt sich bereits aus seinem Verhalten nach der Tat. Er ist nämlich, nachdem er dem Kläger den Kracher in die Tasche gesteckt hatte, weggelaufen, weil er die Gefährlichkeit von angezündeten Feuerwerkskörpern kannte und wußte, daß etwas passieren konnte.
Gründe für die Versagung des Anspruchs iS des § 2 OEG sind, wie das LSG knapp und treffend ebenfalls ausgeführt hat, nicht erkennbar. Die Revision des Beklagten hat nach alledem keinen Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 543057 |
NJW 1999, 2207 |
MDR 1999, 1007 |
SGb 1999, 355 |
NPA 1999 |
Breith. 1999, 967 |