Leitsatz (amtlich)
Ist zu entscheiden, ob vor dem 1957-10-01 ein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne des KGG § 2 Abs 1 S 3 bestanden hat, so richtet sich dies nach der mit Ablauf des 1957-09-30 außer Kraft getretenen und nicht nach der auf Grund des ÄndG KGG Art 1 Nr 1 Buchst c vom 1957-07-27 (BGBl 1 S 1061) am 1957-10-01 in Kraft getretenen Fassung dieser Vorschrift. Dies gilt auch für Bezugszeiten über den 1957-09-30 hinaus.
Normenkette
RVO § 1267 Fassung: 1957-02-23, § 1262 Fassung: 1957-02-23; KGG § 2 Fassung: 1954-11-13; KGGÄndG Art. 1 Nr. 1 Buchst. c Fassung: 1957-07-27
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger ist das uneheliche Kind der K B, welche zusammen mit ihren Eltern, dem am 30. November 1879 geborenen Versicherten und dessen Ehefrau, auf deren kleiner landwirtschaftlicher Besitzung lebte. Da die Eltern hoch betagt waren, wurde der landwirtschaftliche Besitz von der Mutter des Klägers im wesentlichen allein bewirtschaftet. Der Kläger ist am 25. November 1944 im Städt. Krankenhaus R geboren und wurde Anfang Dezember 1944 mit seiner Mutter aus dem Krankenhaus entlassen. Der Versicherte, der vom 1. Dezember 1944 an Altersinvalidenrente bezog, ist am 4. Juni 1955 gestorben. Seine Witwe bezieht seither Witwenrente.
Den am 13. Februar 1957 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung von Waisenrente aus der Versicherung seines verstorbenen Großvaters, des Versicherten, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 4. Dezember 1957 mit der Begründung ab, daß die Voraussetzungen des Anspruchs nicht gegeben seien, da der Kläger nicht als Pflegekind des Versicherten angesehen werden könne.
Durch Urteil vom 19. Juni 1958 wies das Sozialgericht in Reutlingen die gegen diesen Bescheid erhobene Klage ab.
Das Landessozialgericht wies die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung durch Urteil vom 27. Januar 1959 zurück; es ließ die Revision zu. Der Kläger könne nicht als Pflegekind des Versicherten im Sinne des § 1267 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO und § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG) angesehen werden. Zur Zeit des Todes des Versicherten habe kein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen Versichertem und Kläger bestanden. Nach der bis zum 30. September 1957 maßgebenden Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG könnten nur Pflegekinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f des Einkommensteuergesetzes (EStG) vom 15. September 1953 (BGBl. I S. 1355) sowie elternlose Kinder, die von Großeltern oder Geschwistern versorgt werden, als Pflegekinder anerkannt werden; zur Auslegung des Pflegekindbegriffs müßten die Einkommensteuerrichtlinien 1955 (EStR 55) herangezogen werden. Die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f EStG und der Nr. 182 und 183 der EStR 55 lägen jedoch ebensowenig vor wie - da der Kläger kein elternloses Kind sei - die Voraussetzungen des eigenen Tatbestandes des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG a.F. Aus diesem Grunde stehe dem Kläger für die Zeit bis zum 30. September 1957 keine Waisenrente zu. Durch Art. 1 Nr. 1 c des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeldgesetze vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1061) - KGÄndG - sei mit Wirkung vom 1.Oktober 1957 der Begriff des Pflegekindes im KGG selbst erläutert worden. Im Verhältnis zu Großeltern oder Geschwistern komme es nicht mehr darauf an, daß ein Kind elternlos sei. Ein Pflegekindschaftsverhältnis sei vielmehr dann anzunehmen, wenn ein Kind entweder in den Haushalt von Großeltern oder Geschwistern aufgenommen worden sei oder wenn es von diesen überwiegend unterhalten werde. Diese Voraussetzungen lägen jedoch ebenfalls nicht vor. Zwar lebe der Kläger praktisch bereits seit seiner Geburt zusammen mit seiner Mutter bei seinen Großeltern. Seine Mutter führe auch keinen eigenen Haushalt. Wirtschaftlich gesehen liege jedoch keine Aufnahme des Klägers und seiner Mutter in den Haushalt der Großeltern, sondern eine Aufnahme in den gemeinsamen Haushalt von Mutter und Großeltern vor; denn die zur Haushaltführung erforderlichen Mittel seien keineswegs nur von den Großeltern aufgebracht worden, sondern seien zu einem großen Teil von der Mutter des Klägers durch deren Arbeitsleistung in dem landwirtschaftlichen Betrieb erzielt worden. § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG, erste Alternative, erfasse aber nicht die Fälle, in welchen die Kinder in dem gemeinsamen Haushalt ihrer Eltern bzw. eines Elternteils und der Großeltern lebten. Auch die Voraussetzungen der zweiten Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 3 zweiter Halbsatz KGG, wonach ein Pflegekindschaftsverhältnis anzunehmen sei, wenn das Kind von seinen Großeltern überwiegend unterhalten werde, lägen nicht vor. Der Versicherte habe mit seiner Rente von rd. 100,- DM nicht einmal den Unterhalt für sich und seine Ehefrau, geschweige denn den für den Kläger bestreiten können. Dieser habe daher nur mit Hilfe der landwirtschaftlichen Erträge unterhalten werden können. Diese seien aber zum wesentlichen Teil der Arbeitsleistung seiner Mutter zuzurechnen, da der Versicherte und seine Ehefrau wegen ihres hohen Alters kaum mehr hätten mitarbeiten können. Der aus diesen Erträgnissen bestrittene Unterhalt des Klägers müsse daher als von der Mutter gewährter Unterhalt angesehen werden, denn diese habe für ihre Arbeitsleistung eine entsprechende Entschädigung für sich und ihr Kind beanspruchen können. Es sei auch zu bedenken, daß die Mutter vor den Großeltern gesetzlich zur Unterhaltsleistung verpflichtet sei. Dem Kläger stehe daher auch für die Zeit vom 1. Oktober 1957 an kein Anspruch auf Waisenrente zu.
Gegen dieses seinem gesetzlichen Vertreter am 16. Februar 1952 zugestellte Urteil hat der Kläger durch seinen gesetzlichen Vertreter, den Landrat - Jugendamt - in Rottweil, durch Schriftsatz vom 10. März 1959, eingegangen am 12. März 1959, unter Stellung eines Revisionsantrages, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Er sei, anders als das Berufungsgericht meine, in den Haushalt seiner Großeltern und nicht in den gemeinsamen Haushalt seiner Großeltern und seiner Mutter aufgenommen worden. Die Ansicht des Berufungsgerichts, die zur Haushaltführung erforderlichen Mittel würden keineswegs nur von den Großeltern, sondern zu einem großen Teil von seiner Mutter, deren Arbeitsleistung die aus der Landwirtschaft erzielten Erträgnisse im wesentlichen zuzurechnen seien, aufgebracht, stelle eine unzulässige Verquickung der beiden Begriffe des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG "Aufnahme in den Haushalt" und "Überwiegender Unterhalt" dar. Es bestehe daher ein Anspruch auf Waisenrente aus der Versicherung seines verstorbenen Großvaters. Unabhängig hiervon sei sein Anspruch auf Waisenrente aber auch deshalb gegeben, weil die Großeltern seinen überwiegenden Unterhalt bestritten hätten. Wenn das Berufungsgericht die Auffassung vertrete, daß er nur mit Hilfe der landwirtschaftlichen Erträge hätte unterhalten werden können und diese zum wesentlichen Teil der Arbeitsleistung seiner Mutter zuzurechnen seien, so könne dem nicht zugestimmt werden. Für die Gewinnermittlung der nicht buchführenden Landwirte sei die Verordnung über die Aufstellung von Durchschnittssätzen für die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft (VOL) vom 2. Juli 1949 bzw. vom 29. Juni 1949 (WiGBl. S. 95 und RegBl. für Württemberg-Hohenzollern S. 311) maßgebend. Danach betrage der Gewinn annähernd 900,- DM pro Jahr und sei somit niedriger als die Invalidenrente des Versicherten. Zudem sei die Arbeitsleistung einer Tochter, die im landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern mitarbeite, nach dieser VOL und den hierzu ergangenen Steuerrichtlinien nur mit 350,- DM zu bewerten, so daß es nicht richtig sei, den Gewinn aus dem landwirtschaftlichen Betrieb als Entschädigung für die Arbeitsleistung seiner Mutter anzusehen. Ein Teil dieses Gewinnes sei vielmehr dem Versicherten als dem Inhaber des Betriebes anzurechnen, auch wenn er und seine Ehefrau infolge ihres Alters kaum noch hätten mitarbeiten können. Er sei also überwiegend von seinem Großvater unterhalten worden.
Er hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts vom 27. Januar 1959 zu verurteilen, ihm vom 1. Juli 1955 an, spätestens vom 1. Oktober 1957 an Waisenrente zu gewähren und der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen daher nicht. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.
Der Entscheidung des Berufungsgerichts, daß dem Kläger ein Anspruch auf Waisenrente nicht zusteht, ist im Ergebnis jedenfalls zuzustimmen. Da sich der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) ereignet hat, ist nach Art. 2 § 5 ArVNG grundsätzlich altes Recht anzuwenden, soweit nicht in den dieser Vorschrift folgenden Vorschriften etwas anderes bestimmt ist. Dies ist der Fall. Nach Art. 2 § 20 a.a.O. gilt § 1267 RVO, und nach Art. 2 § 16 a.a.O. gilt § 1262 RVO auch für alte Versicherungsfälle. Der Anwendung dieser Vorschriften steht Art. 2 § 44 ArVNG nicht entgegen, weil die Sache am 1. Januar 1957 noch nicht vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebte und auch noch kein rechtskräftiger oder bindender Bescheid vorlag. Es sind also die §§ 1267, 1262 Abs. 2 RVO anzuwenden.
Nach § 1262 Abs. 1 RVO gelten als Kinder des Versicherten u.a. die Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden ist (Nr. 7). § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG lautete bis zum 30. September 1957: "Als Pflegekinder gelten alle Pflegekinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 15. September 1953 (BGBl. I S. 1355) sowie die elternlosen Kinder, die von Großeltern oder Geschwistern versorgt werden." Dieser Satz wurde durch Art. I Nr. 1 Buchst. c KGÄndG geändert und lautet jetzt: "Pflegekinder sind Kinder, die in den Haushalt von Personen aufgenommen sind, mit denen sie ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verknüpft, wenn diese zu dem Unterhalt der Kinder nicht unerheblich beitragen; Kinder, die in den Haushalt von Großeltern oder Geschwistern aufgenommen sind oder von ihnen vorwiegend unterhalten werden, gelten als Pflegekinder." Da der zu beurteilende Sachverhalt vor dem Inkrafttreten des KGÄndG eingetreten ist, ist nach allgemeinen Grundsätzen das zur Zeit des Eintritts dieses Sachverhalts geltende Recht, also die mit Ablauf des 30. September 1957 außer Kraft getretene Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG anzuwenden, da sich das KGÄndG keine rückwirkende Kraft zugelegt hat. Es enthält weder eine ausdrückliche Rückwirkungsanordnung noch ergibt sich irgendein Anhalt dafür, daß es sich stillschweigend rückwirkende Kraft zugelegt hätte. Dies könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn es sich bei der in § 2 Abs. 3 KGG getroffenen Regelung um eine authentische Interpretation des Begriffs "Pflegekind" handeln würde, da bei authentischen Interpretationen in der Regel anzunehmen ist, daß sie auch die vor ihrem Inkrafttreten liegenden Sachverhalte erfassen (Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil des bürgerlichen Rechts, 14. Aufl., 1. Halbband, § 61 II). Um eine authentische Interpretation handelt es sich hier jedoch nicht, sondern um eine gesetzliche Bestimmung des Pflegekindbegriffes. Im vorliegenden Fall ist also noch die mit Ablauf des 30. September 1957 außer Kraft getretene Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG anzuwenden. Wie das Berufungsgericht verkannt hat, gilt dies aber nicht nur für die vor dem 1.Oktober 1957 liegenden, sondern auch für die nach dem 30. September 1957 liegenden Bezugszeiten, da das KGÄndG überhaupt keine Rückwirkungsanordnung enthält; denn es ist auch nicht angeordnet, daß für die nach Inkrafttreten des KGÄndG liegenden Bezugszeiten das neue Recht anzuwenden ist. Ob der Kläger als Pflegekind anzusehen ist, richtet sich daher ausschließlich nach § 2 Abs. 3 KGG in der bis zum 30. September 1957 geltenden Fassung. Ohne Rechtsirrtum hat das Berufungsgericht entschieden, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht gegeben sind. Da der Kläger nicht elternlos ist, liegen die Voraussetzungen der eigenständigen Definition des KGG, nämlich die der zweiten Alternative dieser Vorschrift, nicht vor. Aber auch die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f EStG 1953, auf welche § 2 Abs. 3 KGG a.F. verweist, sind nicht erfüllt. Diese Vorschrift enthält selbst keine eigene Begriffsbestimmung. Sie wird aber erläutert durch die EStR (55) zu Nr. 182, die zwar keine verbindliche Rechtsnorm darstellen, von denen aber anzunehmen ist, daß sie der Gesetzgeber des KGG (alte Fassung) mitberücksichtigt sehen wollte, da die Verweisung auf § 32 EStG sonst ohne Sinn wäre. Danach liegt ein Pflegekindschaftsverhältnis nur vor, wenn das Pflegekind im Haushalt der Pflegeeltern seine Heimat hat und wenn zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekind ein familienartiges, auf die Dauer berechnetes Band besteht, was bei einem unehelichen Kind z.B. anzunehmen ist, wenn die Beziehungen des Kindes zu der Kindesmutter vollständig gelöst sind und die Pflegeeltern das Kind wie ein eigenes halten. Obwohl der Kläger, seine Mutter und die Großeltern zusammenleben, sind - gleichgültig, ob es sich um den alleinigen Haushalt der Großeltern oder um den gemeinsamen Haushalt der Großeltern und Mutter des Klägers handelt - zumindest im wesentlichen die Beziehungen des Klägers zu seiner Mutter erhalten geblieben, so daß man nicht sagen kann, daß zwischen den Großeltern und dem Kläger ein familienartiges Band bestanden hätte. Wenn auch zu den Großeltern ein verwandtschaftliches Band besteht, so doch nicht ein familienähnliches Band im Sinne dieser Vorschrift, als welches nur ein dem Eltern-Kind Verhältnis ähnliches Band angesehen werden kann. Das konnte sich nicht bilden, weil die Beziehungen des Klägers zu seiner Mutter nicht gelöst waren. Ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Versicherten und dem Kläger lag also in der Zeit vor dem Tode des Versicherten nicht vor.
Da somit die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs nicht erfüllt sind, mußte die Revision des Klägers als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 2325839 |
BSGE, 35 |