Leitsatz (amtlich)
Die Berufungsfrist ist ohne Verschulden versäumt, wenn die Berufungsschrift in einem Zeitpunkt zur Post gegeben worden ist, in welchem der Berufungskläger erfahrungsgemäß mit hinreichender Sicherheit erwarten durfte, daß sie bei regelmäßigem Beförderungsverlauf noch rechtzeitig bei dem Berufungsgericht eingehen würde.
Dies gilt auch bei Absendung der Berufungsschrift am zweiten Tage vor Fristablauf, wenn die Umstände des Einzelfalles bei regelmäßiger Beförderung noch zeitig genug am Bestimmungsort eintreffen, um dem Empfänger fristgerecht zugestellt werden zu können.
Leitsatz (redaktionell)
Die vor Beginn der Frist des SGG § 67 Abs 2 S 3 nachgeholte Rechtshandlung ist mit der während des Laufes der Frist nachgeholten Rechtshandlung gleichzubehandeln.
Der Berufungskläger braucht nicht beim LSG anzufragen, ob die Berufungsschrift rechtzeitig eingegangen ist, um die Jahresfrist des SGG § 67 Abs 3 zu wahren.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1953-09-03, Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 151 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. November 1956 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Das Sozialgericht Bayreuth verurteilte die Beklagte am 13. April 1954, dem Kläger die durch Bescheid vom 6. Oktober 1952 entzogene Invalidenrente über den 31. Oktober 1952 hinaus weiterzuzahlen. Das Urteil wurde der Beklagten nach § 63 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit §§ 2, 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 (BGBl. I S. 379) am 18. Mai 1954 zugestellt. Mit Schreiben vom 15. Juni 1954 legte die Beklagte beim Bayerischen Landessozialgericht in München Berufung ein. Der Briefumschlag der Berufungsschrift wurde durch eigene Stempelmaschine der Beklagten mit Datum vom 16. Juni 1954 - ohne Stundenangabe - freigemacht. Der 17. Juni 1954 war ein gesetzlicher Feiertag, der 18. Juni ein Werktag. Am 19. Juni 1954 ging die Berufungsschrift beim Bayerischen Landessozialgericht in München ein. Am 22. Oktober 1956 machte das Landessozialgericht die Beklagte darauf aufmerksam, daß die Berufung verspätet eingegangen sei. Daraufhin beantragte die Beklagte mit Schriftsatz vom 26. Oktober 1956 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie hätte damit rechnen dürfen, daß die am 16. Juni 1954 zur Post gegebene Berufungsschrift noch am 18. Juni 1954 einginge. Den Wiedereinsetzungsantrag hätte sie nicht früher stellen können, weil sie erst am 22. Oktober 1956 auf den verspäteten Eingang des Berufungsschreibens aufmerksam gemacht worden sei.
Das Landessozialgericht hat die Berufung durch Urteil vom 6. November 1956 als unzulässig verworfen; es hat die Revision zugelassen. Die Berufung sei verspätet eingegangen. Ein Wiedereinsetzungsgrund liege nicht vor. Fraglich sei schon, ob die Berufungsschrift - wie die Beklagte behaupte - noch am 16. Juni 1954 zur Post gegeben worden sei. Selbst wenn dies aber unterstellt werde, habe sie dennoch die Berufungsfrist nicht ohne Verschulden versäumt. Sie hätte die Berufungsfrist nicht bis zuletzt ausnutzen dürfen. Wenn sie das Berufungsschreiben erst ein oder zwei Tage vor Fristablauf zur Post gebe, hätte sie damit rechnen müssen, daß der Brief nicht mehr rechtzeitig einginge, zumal der 17. Juni 1954 ein gesetzlicher Feiertag gewesen sei; zumindest hätte sie den Schriftsatz als Eilbrief aufgeben müssen. Bei dieser Rechtslage brauche nicht geprüft zu werden, ob der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Jahresfrist des § 67 Abs. 3 SGG überhaupt noch fristgerecht gestellt sei.
Das Urteil wurde der Beklagten am 18. Januar 1957 zugestellt. Sie legte mit Schriftsatz vom 24. Januar 1957 am 26. Januar 1957 Revision ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 18. Februar 1957 am 19. Februar 1957. Sie rügt, das Landessozialgericht habe zu Unrecht die Berufung als unzulässig verworfen; es hätte in der Sache selbst entscheiden müssen. Der Wiedereinsetzungsantrag sei zu Unrecht abgelehnt worden. Die Berufungsschrift sei tatsächlich am 16. Juni 1954 zur Post gegeben worden; denn sie stempele jeweils nur diejenigen Postsendungen mit ihrer Stempelmaschine ab, welche noch an demselben Tage aufgegeben würden. Auch hätte sie annehmen dürfen, daß die Post innerhalb von zwei Tagen von Bayreuth nach München befördert und dort ausgetragen würde. Dies gelte trotz des Umstandes, daß der 17. Juni 1954 ein gesetzlicher Feiertag gewesen sei, da hierdurch möglicherweise zwar die Zustellung, nicht aber die Beförderung der Post verzögert würde. Der Wiedereinsetzungsantrag sei auch trotz des Ablaufs der Jahresfrist des § 67 Abs. 3 SGG noch zulässig, da sie erst im Oktober 1956 durch das Landessozialgericht davon Kenntnis erhalten habe, daß die Berufungsschrift verspätet eingegangen sei.
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 6. November 1956 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, ihm die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Er hält die Gründe des angefochtenen Urteils für zutreffend. Die Beklagte habe insbesondere damit rechnen müssen, daß an gesetzlichen Feiertagen die Postzustellung verzögert werde; sie hätte daher die Berufungsschrift als Eilbrief zur Post geben müssen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt werden.
Das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 13. April 1954 ist der Beklagten am 18. Mai 1954 zugestellt worden. Nach § 151 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 64 SGG endete die Berufungsfrist mit dem Ablauf des 18. Juni 1954. Da die Berufungsschrift erst am 19. Juni 1954 bei dem Berufungsgericht eingegangen ist, ist die Berufung nicht fristgerecht eingelegt worden.
Das Berufungsgericht hätte der Beklagten jedoch nach § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen; denn sie ist ohne Verschulden verhindert gewesen, die Berufungsfrist einzuhalten. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts darf der Berufungskläger die ihm gesetzlich zustehende Berufungsfrist voll ausnutzen; es genügt, wenn er die Berufungsschrift in einem Zeitpunkt aufgibt, in welchem er erfahrungsgemäß mit hinreichender Sicherheit erwarten darf, daß sie bei regelmäßigem Beförderungsverlauf noch rechtzeitig bei dem Berufungsgericht eingeht. Gewöhnliche Verzögerungen in der Beförderung, mit denen üblicherweise gerechnet werden muß, müssen zwar hierbei berücksichtigt werden, nicht dagegen außergewöhnliche Verzögerungen. Stand dem Berufungskläger hiernach noch genügend Zeit zur Verfügung, so brauchte er entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts den Schriftsatz nicht etwa als Eilbrief aufzugeben. Geht eine Berufung, obwohl sie unter Beachtung dieser Grundsätze zur Beförderung gegeben worden ist, verspätet bei dem Berufungsgericht ein, so liegt ein Verschulden des Berufungsklägers nicht vor. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze durfte sich die Beklagte entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts darauf verlassen, daß die am zweiten Tage vor Ablauf der Berufungsfrist in Bayreuth zur Post gegebene Berufungsschrift noch vor Ablauf der Berufungsfrist beim Bayerischen Landessozialgericht in München eingehen würde. Wenn auch nicht allgemein gesagt werden kann, daß ein am zweiten Tag vor Ablauf einer Frist zur Post gegebener Brief ohne Rücksicht auf die örtliche Lage des Absende- und des Bestimmungsortes, ihrer Entfernung voneinander sowie der zwischen ihnen bestehenden Zugverbindungen in allen Fällen noch rechtzeitig seinen Bestimmungsort erreicht, dies vielmehr von den besonderen Umständen des Einzelfalles abhängt, bestehen doch in dem zu entscheidenden Falle keine Bedenken gegen eine solche Annahme; denn die Entfernung zwischen Bayreuth und München ist unter Berücksichtigung der heutigen Beförderungsmöglichkeiten nicht erheblich, und es verkehren mehrmals täglich Postzüge zwischen beiden Städten. Dies gilt auch, obwohl der 17. Juni 1954 ein gesetzlicher Feiertag war; denn auch an diesem Tage verkehrten eine Reihe von Postzügen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts muß im übrigen davon ausgegangen werden, daß der Berufungsschriftsatz am 16. Juni 1954 zur Post gegeben worden ist. Briefe pflegen bei großen Verwaltungen erst dann in die Absendestelle zu gelangen, wenn sie absendungsfertig sind. Ist dies aber der Fall, so werden sie in aller Regel auch an demselben Tage noch bei oder gleich nach Dienstschluß zur Post gegeben. Da hier keine besonderen Umstände erkennbar sind, welche im Einzelfall dieser Annahme entgegenstehen, muß davon ausgegangen werden, daß der Berufungsschriftsatz am 16. Juni 1954 spätestens gegen Abend zur Post gegeben worden ist, so daß seiner Weiterleitung spätestens am nächsten Morgen nichts im Wege stand. Die Beklagte hat nach alledem ohne Verschulden die Berufungsfrist versäumt.
Die Beklagte hat auch binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Die der Einhaltung der Berufungsfrist entgegenstehenden Hindernisse - außergewöhnliches Hemmnis im Postverkehr sowie unverschuldete Unkenntnis der Beklagten von diesem Hemmnis - sind restlos erst am 22. Oktober 1956 durch die Mitteilung des Berufungsgerichts von dem verspäteten Eingang der Berufungsschrift weggefallen. Da die Beklagte bereits am 26. Oktober 1956 den Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat, ist die Frist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG eingehalten. Die Berufungseinlegung ist auch rechtzeitig im Sinne des § 67 Abs. 2 Satz 3 a.a.O. nachgeholt. Die Berufungsschrift ist zwar bereits vor Beginn dieser Frist, am 19. Juni 1954, bei dem Berufungsgericht eingegangen; dennoch aber sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt, weil die vor Beginn dieser Frist nachgeholte Rechtshandlung mit der während des Laufes der Frist nachgeholten Rechtshandlung gleichbehandelt werden muß.
Auch aus § 67 Abs. 3 SGG sind die Bedenken gegen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht herzuleiten. Der Antrag ist zwar später als ein Jahr seit dem Ende der versäumten Frist gestellt worden. Dennoch ist er nicht verspätet, weil er infolge höherer Gewalt vorher unmöglich war. Auch bei Beachtung der äußersten, nach Lage der Sache von ihr zu erwartenden Sorgfalt hätte die Beklagte vor der Benachrichtigung durch das Landessozialgericht nicht erkennen können, daß die Berufungsschrift verspätet eingegangen war. Insbesondere brauchte sie nicht von sich aus beim Berufungsgericht anzufragen, sondern durfte sich darauf verlassen, daß die am zweiten Tag vor Ablauf der Berufungsfrist in Bayreuth aufgegebene Berufungsschrift noch rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsfrist beim Berufungsgericht in München eingegangen war.
Das angefochtene Urteil mußte nach alledem aufgehoben werden, weil das Landessozialgericht zu Unrecht eine Entscheidung in der Sache selbst unterlassen hat. Der erkennende Senat konnte, da es an den erforderlichen Feststellungen mangelt, nicht selbst entscheiden, sondern mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.
Über die Kosten wird in dem abschließenden Urteil zu entscheiden sein.
Fundstellen