Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Geltendmachung eines Anspruchs gegen die gesetzliche Unfallversicherung. Bestimmung der Höhe der MdE. Verletzung des rechtlichen Gehörs. Keine Äußerungsmöglichkeit der Beteiligten. Beurteilung einer Distorsionsverletzung. Einstufung nach Erdmann. Keine allgemeinkundige Tatsache
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Urteil darf nur auf solche Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hatte ein Beteiligter hierzu keine Gelegenheit, so sind § 128 Abs. 2 SGG und gleichzeitig auch der in Art. 103 Abs. 1 GG garantierte und in § 62 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 1500 § 62 Nr 11).
2. Wenn das Gericht eigene Gerichtskunde bei der Urteilsfindung berücksichtigt, muss für die Beteiligten die Grundlage für diese Sachkunde (Gerichtskunde) ersichtlich sein. Das Gericht muss gegenüber den Beteiligten darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung entsprechend einrichten können (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr 98; SozR 3-1500 § 62 Nr 5, 12).
3. Wird für die Bestimmung der MdE zur Bemessung eines Anspruchs aus der gesetzlichen Unfallversicherung die Einteilung der Distorsionsverletzungen der HWS nach Erdmann mit den unterschiedlichen Folgen hinsichtlich der danach anzunehmenden Schwere und Dauer der gesundheitlichen Beeinträchtigung je nach dem danach festgestellten Schweregrad (I, II oder III) herangezogen, so muss sich aus dem angefochtenen Berufungsurteil, aus der Sitzungsniederschrift oder aus den Gerichts- und Verwaltungsakten ergeben, dass die herangezogene Einteilung dem Kläger zuvor zugänglich gemacht wurde. Anderenfalls liegt ein Verfahrensfehler vor.
4. Allgemeinkundige Tatsachen sind solche, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen unschwer überzeugen können (vgl. BVerfGE 10, 177, 183) oder auch solche, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann (vgl. BSG aaO). Diese Voraussetzungen erfüllen die Einteilung der Distorsionsverletzungen nach Erdmann und insbesondere die Kenntnisse zu ihrer Anwendung im Einzelfall nicht, da hierzu zumindest die Einsicht in die Fachliteratur und vor allem auch medizinische Sachkunde erforderlich sind.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 2, § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Beteiligte
Verwaltungs-Berufsgenossenschaft |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Februar 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls über den 6. Februar 1994 hinaus Verletztengeld zusteht und ob ihm im Anschluss daran Verletztenrente zu gewähren ist.
Der Kläger, der damals als selbstständiger Unternehmensberater freiwillig bei der Beklagten unfallversichert war, befuhr in Ausübung seiner Tätigkeit am 10. November 1993 die Bundesautobahn von Eisenach in Richtung Dresden. Dabei platzte der linke Reifen seines Reisemobils; um nicht mit dem fließenden Verkehr zu kollidieren, steuerte der Kläger sein Fahrzeug gegen die linke Leitplanke. Zum genauen Unfallhergang und dessen Folgen, etwa dem Eintritt von Bewusstlosigkeit, einer Gehirnerschütterung und Verletzungen durch Einwirkung des Sicherheitsgurtes, machte der Kläger beginnend mit seiner Unfallmeldung vom 12. November 1993 und im weiteren Laufe des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens nach den vorliegenden Unterlagen zT unterschiedliche Angaben. Nach umfangreichen Ermittlungen, insbesondere der Einholung medizinischer Gutachten von Prof. Dr. H. Dr. J. und Dr. B., lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente ab, weil der Arbeitsunfall keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade über die 13. Woche hinaus hinterlassen habe; eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit wurde bis zum 6. Februar 1994 anerkannt (Bescheid vom 18. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 1995).
Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Verletztengeld bis zum 1. Juli 1994 und von Verletztenrente für die nachfolgende Zeit nach einer MdE um wenigstens 20 vH gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 31. Juli 1997). Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. O. nebst einem neuro-psychologischen Zusatzgutachten von Frau Prof. Dr. S. und weiter ein psychotraumatologisches Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. und der Diplom-Psychologin V. eingeholt. Sodann hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 7. Februar 2001). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Nach dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers für die im Streit stehende Zeit ab 7. Februar 1994 nicht um wenigstens 20 vH gemindert. Der Senat stütze sich zum einen auf die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. H., Dr. J. und Dr. B., deren Gutachten in Form und Inhalt den an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen entsprächen und dadurch, dass sie von der Beklagten eingeholt worden seien, nicht zu Parteigutachten geworden seien. Zum anderen hätten die im ersten Rechtszug eingeholten Gutachten von Dr. R. und Dr. V. bestätigt, dass der Arbeitsunfall keine bleibenden Gesundheitsstörungen hinterlassen habe. Solche seien auch nicht in den Gutachten des Dr. B. und der Psychologin Prof. Dr. S. beschrieben worden. Soweit dagegen Dr. O. als Unfallfolge ein posttraumatisches cervicocephales Syndrom bei atlantoaxialer Rotationsfehlstellung I. Grades und ein ohne nachweisbare Folgen abgelaufenes gemischt radikuläres und pseudoradikuläres Cervicobrachial-Syndrom rechts beschrieben und eine abgestufte unfallbedingte MdE bis zum 30. September 1994 angenommen habe, sei seiner Beurteilung nicht zu folgen. Es sei durch nichts bewiesen, dass der Kläger über die bei dem Unfall erlittene, folgenlos ausheilte Distorsion der HWS hinaus weitere Verletzungen erlitten habe.
Distorsionsverletzungen der HWS würden „nach Erdmann” in drei – vom LSG im Einzelnen dargestellte – Schweregrade eingeteilt, wobei bei dem Kläger allenfalls eine Beschleunigungsverletzung vom Schweregrad I vorgelegen habe. Dafür sprächen der Unfallhergang, das Verhalten des Klägers nach dem Unfall, das beschwerdefreie Intervall von 24 Stunden und die drei Tage nach dem Unfall durchgangsärztlich erhobenen Befunde. Die von Prof. Dr. S. in seinem vom Kläger vorgelegten Privatgutachten und von dem nach § 109 SGG als Sachverständigen gehörten Dr. O. gestellten Diagnosen, die darüber hinausgingen, seien nicht wesentlich auf den Unfall zurückzuführen; auch der von Dr. O. gestaffelt vorgenommenen MdE-Einschätzung könne nicht gefolgt werden. Nach der herrschenden unfallmedizinischen Auffassung komme bei einer Distorsion des Schweregrades I nach Erdmann nur eine Arbeitsunfähigkeit von 1 bis 3 Wochen und danach eine MdE von allenfalls 20 vH für einen Zeitraum von bis zu 4 Wochen in Betracht; ein Anspruch auf zeitlich unbefristete Rente sei danach nur bei einer Distorsionsverletzung des Schweregrades III denkbar. Dementsprechend könne hier nur im Hinblick auf den verzögerten Heilungsverlauf auf Grund der vorbestehenden HWS-Veränderungen unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zum 6. Februar 1994 angenommen werden; soweit Dr. R. und Dr. V. davon ausgegangen seien, dass in den Verwaltungsakten eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zum 1. Juli 1994 dokumentiert sei, handele es sich um ein Versehen. Zugleich stehe damit fest, dass ein Anspruch auf Verletztenrente wegen der HWS-Zerrung nicht gegeben sein könne. Das psychologische Zusatzgutachten habe insbesondere keine für eine organisch bedingte Folgeschädigung vor allem des visuellen Systems sprechenden unfallbedingten Befunde gezeigt. Gegen eine solche Schädigung spreche vor allem, dass eine Schädelprellung ebenso wie ein posttraumatisches Belastungssyndrom nicht nachgewiesen sei.
Anlass zu weiteren medizinischen oder sonstigen Ermittlungen habe nicht bestanden. Hinweise auf unfallbedingte Schäden auf HNO-ärztlichem bzw augenärztlichem Fachgebiet lägen auf Grund der vom Kläger selbst insoweit vorgelegten fachärztlichen Berichte nicht vor und kämen mangels einer Kopfverletzung auch nicht in Betracht. Eine biomechanische Untersuchung oder ein verkehrsanalytisches Gutachten zur Feststellung der Schwere des Unfalls, wie dies der Kläger angeregt gehabt habe, sei nicht erforderlich, weil dadurch nicht bewiesen werden könne, welche Verletzungsfolgen der Unfall herbeigeführt habe. Insofern sei allein entscheidend, dass bei der Erstuntersuchung des Klägers schwer wiegende Verletzungsfolgen nicht hätten nachgewiesen werden können. Auch das Verhalten des Klägers nach dem Unfall und das beschwerdefreie Intervall spreche dagegen, dass der Unfall vom Schweregrad her geeignet gewesen sei, schwer wiegende Folgen mit einer MdE in rentenberechtigendem Grade herbeizuführen. Dem Hilfsantrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG sei nicht zu entsprechen gewesen, weil das Antragsrecht durch die im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten verbraucht und der Antrag im Übrigen „verfristet” sei.
Mit seiner – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision macht der Kläger geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verletzung der §§ 62, 128, 109, 136 Abs 2 Satz 2, 106 Abs 1 Satz 1, 103, 118 Abs 1 SGG iVm § 406 der Zivilprozessordnung (ZPO). Zur Begründung bezieht er sich auf seinen im Beschwerdeverfahren vor dem BSG – B 2 U 92/01 B – eingereichten Schriftsatz vom 15. Juni 2001 und trägt weiter vor, das LSG habe die Grundsätze der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) verletzt, indem es sich aus eigener Sachkenntnis über die von den Sachverständigen Dr. R. und Dr. V. angenommene Feststellung hinsichtlich des Endes der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit zum 1. Juli 1994 hinweggesetzt habe; richtigerweise hätte es zur Klärung auf eine schriftliche Ergänzung der Gutachten durch die Sachverständigen hinwirken oder diese zur Erläuterung ihrer Gutachten laden müssen.
Die Vorschriften der §§ 62, 128 SGG habe das LSG dadurch verletzt, dass es sich aus eigener Sachkunde den für ihn im Ergebnis ungünstigen Sachverständigengutachten angeschlossen habe, ohne vor seiner Entscheidung darzulegen und dazu anzuhören, woher es diese besondere Sachkunde habe. Die als gerichtsbekannt vorausgesetzte und im Einzelnen in den Entscheidungsgründen zu Grunde gelegte Klassifizierung der Distorsionen der HWS nach Erdmann sei aus keinem der eingeholten Sachverständigengutachten zu entnehmen gewesen. Das LSG habe sich vielmehr auf seine eigene Sachkunde gestützt. Nach § 62 SGG hätte es aber die Beteiligten über diejenigen entscheidungserheblichen Tatsachen unterrichten müssen, die es als gerichtskundig behandeln gewollt habe. Die Entscheidung könne auch auf dieser Rechtsverletzung beruhen, weil er bei Bekanntgabe der Gerichtskunde zur Widerlegung auf die Stellungnahme von Prof. Dr. W., nach der sich die unfallversicherungsrechtliche Bewertung von posttraumatischen Zervikalsyndromen einer solchen Klassifizierung entziehe, vielmehr eine komplexere Betrachtungsweise angezeigt sei, hingewiesen und weitere wissenschaftliche Stellungnahmen darüber eingeholt hätte, dass die Klassifizierung nach Erdmann nicht mehr dem neuesten Stand der Wissenschaft entspreche. Selbst wenn ihm dies nicht gelungen wäre, hätte er weitere Anträge zum Beweis darüber gestellt, dass in seinem Fall eine Kollision des Schweregrades II vorgelegen habe. Ferner hätte er beantragt, zur exakten Feststellung des Unfallhergangs einen Tagebuchauszug der zuständigen Polizeiautobahnstation einzuholen, die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten als Zeugen zu vernehmen und ein verkehrsmedizinisches Sachverständigengutachten einzuholen; dieses hätte erwiesen, dass sein posttraumatisches Zervikalsyndrom mindestens den Schweregrad II aufgewiesen und eine MdE von mindestens 20 vH auf Dauer zur Folge gehabt habe.
Außerdem habe das LSG § 62 SGG iVm §§ 128 Abs 1 und 2, 106 SGG dadurch verletzt, dass es ihn vor Einholung des Sachverständigengutachtens von Dr. O. gemäß § 109 SGG nicht darauf hingewiesen habe, dass es diesen als medizinischen Außenseiter betrachten, sein Gutachten schon deshalb einer für ihn positiven Entscheidung nicht zu Grunde legen und den Sachverständigen des chirurgisch/orthopädischen Fachbereichs ein höhere Kompetenz beimessen werde. Wäre er hierauf hingewiesen worden, hätte er einen anderen Sachverständigen benannt, der auch unter Zugrundelegung der vom LSG anerkannten Lehrmeinung zu einem posttraumatischen Zervikalsyndrom des Schweregrades II nach Erdmann gelangt wäre.
Gegen die §§ 128, 103, 106 SGG habe das LSG dadurch verstoßen, dass es die zur Feststellung des Unfallhergangs zur Verfügung stehenden Beweismittel nicht ausgeschöpft habe. Die Entscheidungsgründe enthielten für die entscheidungserhebliche Frage des Unfallhergangs keine ausreichenden Feststellungen. Da das LSG der Bewertung der Unfallfolgen die Klassifizierung nach Erdmann zu Grunde gelegt habe, hätte es aber davon ausgehen müssen, dass diese zwingend erforderlich seien und entsprechende Ermittlungen anstellen müssen. Die Entscheidung verletze auch die §§ 128 Abs 1, 136 Abs 2 Satz 2 SGG, weil sie keine nachvollziehbare Aussage zu den von ihm behaupteten Sehstörungen enthalte. Die Verwertung des Gutachtens des Dr. J. im Wege des Urkundsbeweises verstoße gegen §§ 128, 118 Abs 1 SGG. Schließlich verletze die angefochtene Entscheidung die §§ 109 und 103 Abs 1 SGG, weil das Gericht es unterlassen habe, ein unfallphysikalisches Zusatzgutachten einzuholen, obwohl sich dies aufgedrängt habe. Schließlich habe das LSG auch gegen § 109 SGG verstoßen, weil es seinem in der Berufungsverhandlung gestellten Hilfsantrag, Prof. Dr. C. zu hören, nicht gefolgt sei, obwohl das LSG bezüglich der Sehstörungen keine ausreichende Entscheidungsgrundlage gehabt habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Februar 2001 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31. Juli 1997 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 1995 zu verurteilen, ihm auf Grund des Arbeitsunfalls vom 10. November 1993 Verletztengeld bis einschließlich 1. Juli 1994 sowie vom 2. Juli 1994 an Verletztenrente nach einer MdE um wenigstens 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung beruhen könnte, seien nicht gegeben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für die abschließende Entscheidung über die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche auf Weitergewährung von Verletztengeld über den 6. Februar 1994 hinaus bis einschließlich 1. Juli 1994 und die anschließende Gewährung von Verletztenrente nicht aus. Dem Kläger ist das rechtliche Gehör versagt worden, wie er zu Recht rügt.
Die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche richten sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil sich der Unfall am 10. November 1993 und damit vor Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII) ereignet hat.
Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere Verletztengeld und Verletztenrente. Dass der Kläger am 10. November 1993 einen Arbeitsunfall iS des § 548 RVO erlitten hat, ist von der Beklagten bereits bindend anerkannt und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Verletztengeld erhält der Verletzte gemäß § 560 Abs 1 Satz 1 RVO, solange er infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig iS der Krankenversicherung ist und keinen Anspruch auf Übergangsgeld hat. Nach § 581 Abs 1 Nr 1 iVm § 580 Abs 1 RVO wird dem Verletzten als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt, der dem Grade der MdE entspricht, solange seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus um wenigstens ein Fünftel (20 vH) gemindert ist; ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann vom Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht endgültig entschieden werden.
Das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 6. Februar 1994 bestand und dass die Unfallfolgen bereits zu diesem Zeitpunkt vollständig ausgeheilt waren, mithin weder ein Anspruch auf Verletztengeld über diesen Zeitpunkt hinaus gegeben war noch eine unfallbedingte MdE im rentenberechtigenden Grade vorlag. Hierbei hat es sich ua auf die Einteilung der Distorsionsverletzungen der HWS „nach Erdmann” in drei – vom LSG im Einzelnen dargestellte – Schweregrade bezogen, wobei bei dem Kläger allenfalls eine Beschleunigungsverletzung vom Schweregrad I vorgelegen habe, bei der nach der herrschenden unfallmedizinischen Auffassung eine Arbeitsunfähigkeit von lediglich einer bis zu drei Wochen und danach eine MdE um allenfalls 20 vH für einen Zeitraum von bis zu vier Wochen in Betracht komme, der nach der vom LSG angenommenen Beendigung der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit am 6. Februar 1994 bereits verstrichen war. Hierauf durfte das LSG seine Entscheidung indes nicht stützen, weil es diese medizinischen Erkenntnisse unter Verstoß gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung des rechtlichen Gehörs in das Verfahren einbezogen und seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat.
Das Urteil darf nur auf solche Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Hatte ein Beteiligter hierzu keine Gelegenheit, so sind § 128 Abs 2 SGG und gleichzeitig auch der in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) garantierte und in § 62 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nr 11). Wenn das Gericht etwa eigene Gerichtskunde bei der Urteilsfindung berücksichtigt, muss für die Beteiligten die Grundlage für diese Sachkunde (Gerichtskunde) ersichtlich sein. Das Gericht muss gegenüber den Beteiligten darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung entsprechend einrichten können (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 98; SozR 3-1500 § 62 Nr 5, 12). Hiergegen hat das LSG verstoßen.
Denn es hat seine Entscheidung auf medizinische Erkenntnisse (Tatsachen) gestützt, die jedenfalls dem Kläger zuvor nicht zur Kenntnis gebracht worden sind, sodass er sich dazu nicht äußern konnte. Weder aus dem angefochtenen Berufungsurteil noch aus der Sitzungsniederschrift vom 7. Februar 2001 noch aus den Gerichts- und Verwaltungsakten ist zu entnehmen, dass die vom LSG herangezogene Einteilung der Distorsionsverletzungen der HWS nach Erdmann mit den unterschiedlichen Folgen hinsichtlich der danach anzunehmenden Schwere und Dauer der gesundheitlichen Beeinträchtigung je nach dem danach festgestellten Schweregrad (I, II oder III) dem Kläger zuvor zugänglich gemacht worden sind. Aus den im Verwaltungsverfahren, im Verfahren vor dem SG und im Berufungsverfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten gehen diese Erkenntnisse nicht hervor. Dort wird lediglich vom „Schweregrad I” bzw „Halswirbelsäulen-Schleudertrauma Grad I” gesprochen, ohne dass der Zusammenhang mit der Einteilung der Distorsionsverletzungen nach Erdmann und die Voraussetzungen der einzelnen Schweregrade und deren Folgen im Einzelnen dargetan werden (s zB Gutachten Dr. B. / F. vom 21. Oktober 1994, Bl 228 der Verwaltungsakten). Lediglich in dem Gutachten des Prof. Dr. S. vom 9. März 1995 wird im Rahmen der Auseinandersetzung mit einem Vorgutachten ausgeführt, der darin enthaltene Hinweis auf ein Schleudertrauma lege den Verdacht „nahe, dass hier auf die Einteilung der Schleudertraumen nach Erdmann Bezug genommen wird”; diese sei jedoch inzwischen obsolet. Eine Darstellung der genannten Einteilung im Einzelnen, insbesondere des vom LSG letztlich auf Grund eigener – von keinem der angehörten Sachverständigen so dargelegten – Erwägungen angenommenen Schweregrades I und der daraus herzuleitenden Folgen findet sich nicht. Das LSG hat sich als Beleg für seine diesbezügliche Sachkunde auch allein auf Zitate aus der Fachliteratur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl 1998, S 516; Wessels/Castro VersR 2000, 384) bzw Gerichtsurteile (KG NJW 2000, 877; OLG Hamm NJW 2000, 878) berufen, diese den Beteiligten zuvor indes nicht zur Kenntnis gebracht. Insbesondere hat es diesen gegenüber auch nicht dargetan, auf Grund welcher Sachkunde es selbst im Stande sei, diese aus der Fachliteratur bzw Rechtsprechung entnommenen medizinischen Erkenntnisse auf einen von ihm festgestellten Sachverhalt (Unfallhergang, Verhalten des Klägers nach dem Unfall usw) ohne weitere medizinisch-wissenschaftliche Unterstützung anzuwenden und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die angeführten medizinischen Erkenntnisse sind auch keine allgemeinkundigen Tatsachen, auf die ein Gericht seine Entscheidung stützen kann, ohne auf deren Verwertung vorher ausdrücklich hinweisen zu müssen, wenn diese allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen sie wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sein können (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 15 mwN). Allgemeinkundige Tatsachen sind solche, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich aus allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen unschwer überzeugen können (vgl BVerfGE 10, 177, 183) oder auch solche, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann (vgl BSG aaO). Diese Voraussetzungen erfüllen die Einteilung der Distorsionsverletzungen nach Erdmann und insbesondere die Kenntnisse zu ihrer Anwendung im Einzelfall nicht, da hierzu zumindest die Einsicht in die Fachliteratur und vor allem auch medizinische Sachkunde erforderlich sind.
Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen, wie der Kläger in nachvollziehbarer Weise dargelegt hat. Das LSG hat seine Entscheidung sowohl hinsichtlich der Dauer der Arbeitsunfähigkeit und damit des Anspruchs des Klägers auf Verletztengeld als auch hinsichtlich der Höhe der unfallbedingten MdE und damit des Anspruchs auf Verletztenrente ua auf die Klassifizierung nach Erdmann und die danach von ihm vorgenommene Einstufung der Verletzung des Klägers gestützt. Es besteht die Möglichkeit, dass das LSG ohne die Gehörsverletzung zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Denn möglicherweise hätte der Kläger durch seinen auf Grund der Verletzung des rechtlichen Gehörs unterbliebenen und nunmehr dargelegten ergänzenden Vortrag sowie die Einreichung weiterer medizinisch-wissenschaftlicher Stellungnahmen das Gericht davon überzeugt, dass entweder die Klassifizierung nach Erdmann nicht (mehr) dem Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Lehre entspricht und nach anderen, überzeugenderen Erkenntnissen die bei ihm bestehenden Unfallfolgen als schwer wiegender einzustufen sind oder dass ein höherer Schweregrad nach Erdmann als „I” gegeben war und demgemäß eine andere Beurteilung der Unfallfolgen mit möglicherweise einer längeren Dauer der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und einem rentenberechtigenden, über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauernden Grad der MdE nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit vorzunehmen ist.
Die Sache war schon allein aus diesen Gründen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Es kann daher dahinstehen, ob die weiteren vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen