Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit eines Facharbeiters. Vollzeittätigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Bei Vollzeittätigkeiten, die in Tarifverträgen erfaßt sind, ist regelmäßig vom Vorhandensein eines offenen Arbeitsmarktes auszugehen. Für Facharbeiter sind Tätigkeiten zumutbar, die sich "aus dem Niveau der einfachen ungelernten Arbeiten herausheben und keiner besonderen Ausbildung bedürfen, sondern nach kurzer Einweisung am Arbeitsplatz ausgeübt werden können" wie zB Überwachungs- und Kontrollarbeiten, Apparatebedienung und ähnliche. Ein Erfahrungssatz, daß ein 55-jähriger Maurer sich in solche Tätigkeiten in Fertigungsbetrieben nicht einarbeiten könnte, besteht nicht.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Mai 1975 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 22. November 1974 werden aufgehoben.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 20. April 1972 wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob der Kläger berufsunfähig ist.
Der im Jahre 1920 geborene Kläger hat den Maurerberuf erlernt und vom 1938 bis 1970 - mit Unterbrechung durch Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft - ausgeübt. 1970 erlitt er bei einem Arbeitsunfall einen Bruch am rechten Handgelenk. Die Bau-Berufsgenossenschaft erkannte als Unfallfolgen an: Bewegungseinschränkung im rechten Handgelenk, Einschränkung der Drehbeweglichkeit um die Längsachse des rechten Unterarms, unvollständiger Faustschluß, mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 v. H. Seit April 1971 ist der Kläger bei der Firma Louis L als Arbeiter beschäftigt; sein Stundenlohn betrug im Mai 1975 brutto 7,01 DM.
Die Beklagte gewährte eine Zeitrente bis zum 31. Januar 1972. Sie lehnte einen späteren Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente mit Bescheid vom 20. April 1972 ab.
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die Beklagte zur Gewährung der Berufsunfähigkeits(BU)-Rente verpflichtet (Urteil vom 22. November 1974). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 28. Mai 1975). Es hat festgestellt, daß der Kläger die normalen Arbeiten eines Maurers und die Spezialtätigkeiten im Rahmen des Maurerberufes nicht mehr verrichten könne, daß er aber alle leichten bis mittelschweren Arbeiten, die nicht die volle Gebrauchsfähigkeit des rechten Arms und der rechten Hand erfordern, noch vollschichtig verrichten könne. Zur Verweisung des Klägers auf andere Tätigkeiten hat es sinngemäß im wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne wegen der Behinderung im Gebrauch der rechten Hand im Hinblick auf seine bisherige Tätigkeit in Baubetrieben und wegen seines Alters von 55 Jahren nicht als Lagerverwalter, Materialverwalter, Polier, nicht im kaufmännischen und technischen Bereich, nicht als Hausmeister und Industriearbeiter tätig werden. Auf die gegenwärtige Tätigkeit als Transportarbeiter könne er nicht verwiesen werden, weil diese Arbeiten - An- und Abfahren von Paletten, die durch Gabelstapler be- und entladen werden - sich nicht aus dem Niveau ungelernter Arbeiten hervorhöben.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie weist auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR Nr. 103, 104, 110 und insbesondere auf Nr. 107 zu § 1246 Reichsversicherungsordnung - RVO -, sowie auf SozR 2200 § 1246 Nr. 4 hin, wonach für Verweisungstätigkeiten auf dem weiten Feld der Revisions-, Überwachungs-, Kontrolltätigkeiten, Apparatebedienung bei mechanisierten Produktionsarbeiten, in der Regel eine am Arbeitsplatz vorzunehmende Einweisung in den Betriebsablauf genügt. Der Übergang in eine nach den in den angeführten Entscheidungen des BSG zumutbare Tätigkeit sei in der Mehrzahl der Fälle ohne besondere Ausbildung oder Umschulung möglich. Der Kläger sei bis auf die Beeinträchtigung der Beweglichkeit des rechten Handgelenks und des Faustschlusses voll einsatzfähig für alle Arbeiten; es sei nicht richtig, daß er von jeder zumutbaren Tätigkeit im berufsnahen oder auch berufsfremden Bereich ausgeschlossen sei.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente, weil er nicht berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 RVO) ist.
Zur Recht hat das LSG den Kläger nach Ausbildung und Berufstätigkeit vor dem Unfall für die Frage der Verweisbarkeit auf andere Tätigkeiten als Facharbeiter qualifiziert. Es hat sich insofern an die Rechtsprechung des BSG über zumutbare Tätigkeiten gehalten, als es die Verweisung eines Facharbeiters auf berufsfremde, ungelernte Tätigkeiten, die sich durch besondere Qualifikationsmerkmale aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, wofür u. a. die tarifliche Einstufung einen Anhaltspunkt gibt, grundsätzlich bejaht (vgl. SozR Nr. 107 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1246 Nr. 4; Urteil vom 11. Juli 1974 - 4 RJ 19/74).
Dagegen ist der Annahme des LSG, daß es für den Kläger zumutbare Tätigkeiten nicht gäbe, nicht zu folgen. Das LSG hat die Entscheidung des BSG vom 15. Dezember 1972 - 5 RKn 74/70 (SozR Nr. 108 zu § 1246 RVO) nicht genügend beachtet. Dort ist ausgesprochen, daß bei Vollzeittätigkeiten, die in Tarifverträgen erfaßt sind, regelmäßig davon auszugehen ist, daß ein offener Arbeitsmarkt vorhanden ist. Dies gilt in besonderem Maße hier, wo die gesundheitliche Beeinträchtigung des Klägers durch die Behinderung der rechten Hand und des rechten Arms im Bereich der Unfallversicherung mit einer MdE um 10 v. H. gering ist. In der Entscheidung vom 30. November 1972 - 12 RJ 118/72 (SozR Nr. 107 zu § 1246 RVO) ist ein weites Gebiet der für Facharbeiter zumutbaren Tätigkeiten, die sich aus dem Niveau der einfachen ungelernten Arbeiten herausheben und keiner besonderen Ausbildung bedürfen, sondern nach kurzer Einweisung am Arbeitsplatz ausgeübt werden können, aufgezeigt, nämlich die sich aus der Mechanisierung und Automation des Arbeitsprozesses ergebenden Überwachungs- und Kontrollarbeiten, Apparatebedienungen u. ä. Sie sind in sehr vielen Wirtschaftsbereichen üblich und in den jeweiligen Tarifverträgen erfaßt. Es besteht kein Erfahrungssatz, daß ein 55-jähriger Bauarbeiter sich in solche Tätigkeiten in Fertigungsbetrieben nicht einarbeiten könnte. Es ist zu beachten, daß es sich dabei nicht um eine berufliche Umschulung für einen neuen qualifizierten Beruf handelt, die allerdings bei älteren Arbeitskräften auf Schwierigkeiten stoßen könnte. Tatsächlich hat der Kläger sich durch seine Beschäftigung bei der Fa. L in einen Betrieb eingegliedert.
Die Ausführungen der Beklagten in ihrer Revisionsbegründung entsprechen der Rechtsprechung des BSG. Ihre Revision ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben, die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen