Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 10. Juli bis 11. September 1993 und eine damit verbundene Erstattung in Höhe von 3.571,20 DM streitig.
Der 1948 geborene Kläger meldete sich im Anschluß an den Bezug von Unterhaltsgeld arbeitslos und beantragte die Wiederbewilligung von Alg ab 30. Juni 1993. Die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) entsprach diesem Antrag mit Bescheid vom 20. Juli 1993. Vom 2. bis 9. Juli 1993 übte der Kläger eine Vollzeitbeschäftigung als Helfer aus. Nachdem die Beklagte die Zahlungen mit Wirkung vom 12. September 1993 eingestellt und den Kläger zur Meldung aufgefordert hatte, meldete sich dieser am 20. September 1993 und stellte einen Antrag auf Wiederbewilligung des Alg.
Mit Bescheid vom 13. Oktober 1993 (Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1994) nahm die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 2. Juli bis 11. September 1993 zurück und forderte die Rückzahlung von insgesamt 3.571,20 DM.
Das Sozialgericht hat der dagegen gerichteten Klage für den Rücknahmezeitraum ab 10. Juli 1993 stattgegeben, da der Anspruch des Klägers auf Alg durch die zwischenzeitliche Beschäftigung nicht weggefallen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Entgegen der Rechtsauffassung des SG sei die Bewilligung von Alg von Anfang an rechtswidrig gewesen, weil der Kläger in der Zeit vom 2. bis 9. Juli 1993 nicht arbeitslos gewesen sei und es in der Zeit ab 10. Juli 1993 an der erneuten persönlichen Arbeitslosmeldung und Antragstellung gefehlt habe. Jedoch lägen die Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) für eine rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung nicht vor. Dabei könne auf sich beruhen, ob dem Kläger grobe Fahrlässigkeit iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 oder 3 SGB X vorzuwerfen sei. Die Beklagte habe nämlich im Aufhebungsbescheid, der vor dem Inkrafttreten des § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der seit 1. Januar 1994 geltenden Fassung ergangen sei, kein Ermessen ausgeübt. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung könne auch nicht auf den Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1994 gestützt werden, da dieser den Aufhebungsbescheid lediglich bestätige und sich nicht auf § 152 AFG nF bezogen habe. Der Widerspruchsbescheid sei jedenfalls rechtswidrig, weil die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben sei. Die Beklagte habe den Kläger nicht auf die ab 1. Januar 1994 eingetretene Tatsache der Gesetzesänderung hingewiesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 152 AFG und § 45 SGB X. Sie vertritt die Ansicht, die am 1. Januar 1994 in Kraft getretene Fassung des § 152 AFG sei hier anzuwenden. Das sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen § 24 SGB X liege nicht vor, da der Kläger auf die Geltung von Rechtsnormen keinen Einfluß nehmen könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1996 sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, daß § 152 AFG keine echte Rückwirkung entfalten könne.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der BA ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Die Entscheidung des LSG verletzt § 152 Abs 2 AFG nF. Für eine abschließende Entscheidung des Senats reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.
1. Nach § 152 Abs 2 AFG idF des Art 1 Nr 50 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG vom 21. Dezember 1993, BGBl I 2353) ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese Vorschrift ist hier heranzuziehen, denn die Bewilligungsentscheidung der BA war – soweit hierüber, nämlich für den Leistungszeitraum vom 10. Juli bis 11. September 1993 zu entscheiden ist – rechtswidrig; der Kläger war zur Zeit der Bewilligung von Alg nicht arbeitslos gemeldet. Der Anwendung des § 152 AFG steht nicht entgegen, daß sich die Rücknahme auf einen Leistungszeitraum bezieht, der vor Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Januar 1994 (Art 14 Abs 1 1. SKWPG) lag, und daß auch der Aufhebungsbescheid vor Inkrafttreten des Gesetzes ergangen ist.
1.1 Eine Verletzung der Anhörungspflicht nach § 24 SGB X liegt nicht vor. Soweit das LSG gemeint hat, der Widerspruchsbescheid sei rechtswidrig, weil die erforderliche Anhörung zu der durch das 1. SKWPG bewirkten Rechtsänderung im Vorverfahren unterblieben sei, kann dem nicht gefolgt werden. Nach § 24 Abs 1 SGB X muß den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich zu dem für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in ihre Rechte eingreift. Eine Verpflichtung zur Erörterung von Rechtsfragen erwächst hieraus nicht (vgl nur Krasney in: Kasseler Komm § 24 SGB X Rz 11). Etwas anderes kann allerdings gelten, wenn durch eine Rechtsänderung neue Tatsachen entscheidungserheblich werden. Dies ist jedoch hinsichtlich der Anwendung des § 152 Abs 2 AFG nicht der Fall.
1.2 Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97, zur Veröffentlichung vorgesehen –), bestimmt sich die hier fragliche Anwendung des § 152 Abs 2 AFG iVm § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X aufgrund der fehlenden Übergangsregelungen nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozeßrechts, denn diese Vorschriften regeln die Voraussetzungen, unter denen die Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) und die Rechtskraft sozialgerichtlicher Urteile (§ 141 SGG) durchbrochen wird. Änderungen des Verfahrensrechts sind danach grundsätzlich bei bereits anhängigen Verfahren zu beachten, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist (BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 7; Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97 mwN).
1.3. Damit richtet sich die Rücknahme einer rechtswidrigen Leistungsbewilligung, wie das Bundessozialgericht (BSG) zuvor bereits zur Aufhebung der Leistungsbewilligung nach § 152 Abs 3 AFG iVm § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X entschieden hatte (BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 13; BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 8), grundsätzlich nach der Rechtslage zur Zeit des das Verwaltungsverfahren beendenden Widerspruchsbescheids. Etwas anderes gilt hier auch nicht unter der möglicherweise zu berücksichtigenden einschränkenden Maßgabe, daß § 152 Abs 2 AFG nF keine Anwendung findet, wenn die Verwaltung die Entscheidung über den Widerspruch verfahrensrechtlich unzulässig verzögert und dadurch die Rechtsstellung des Widerspruchsführers verschlechtert. Für eine unzulässige Verzögerung der Widerspruchsentscheidung besteht im Hinblick auf die Einlegung des Widerspruchs am 9. November 1993 und die erst am 30. Dezember 1993 beim Arbeitsamt eingegangene Widerspruchsbegründung kein Anlaß. Unabhängig von der Monatsfrist des § 88 Abs 2 SGG lag im Zuwarten auf die angekündigte Begründung des Widerspruchs ein zureichender Grund, so daß eine Entscheidung nicht vor dem Inkrafttreten des 1. SKWPG zu ergehen hatte.
1.4 Die Anwendung des § 152 Abs 2 AFG enthält, wie der Senat im Urteil vom 18.September 1997 – 11 RAr 9/97 – bereits dargelegt hat, auch keine echte Rückwirkung auf vor dem Inkrafttreten des 1. SKWPG abgeschlossene Sachverhalte und ist auch im übrigen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl ferner BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 3; BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 8).
2. Da das LSG § 152 Abs 2 AFG im Ergebnis nicht für anwendbar gehalten und eine Ermessensentscheidung der BA für erforderlich gehalten hat, hat es Feststellungen zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 und 3 SGB X nicht getroffen. Eine abschließende Entscheidung des Senats ist auch nicht aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten möglich.
Zutreffend ist das LSG von § 45 SGB X als Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Leistungsbewilligung ausgegangen. Die Beurteilung der materiellen Rechtswidrigkeit erfolgt nach den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsaktes (BSGE 68, 228, 231 = SozR 3-2200 § 248 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 54 Nr 18 mwN). Bei Erlaß des Bewilligungsbescheides vom 20. Juli 1993 war dieser rechtswidrig, weil der Kläger vom 2. bis 9. Juli 1993 infolge der Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung nicht arbeitslos war und es für die Zeit danach an einer persönlichen Arbeitslosmeldung als materieller Voraussetzung für den Anspruch auf Alg fehlte (§ 100 AFG). Gegen die Feststellung des LSG, der Kläger sei während der in der Zeit vom 2. Juli bis 9. Juli 1993 ausgeübten mehr als kurzzeitigen Beschäftigung nicht arbeitslos gewesen, sind keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht worden. Da die Wirksamkeit der Arbeitslosmeldung auf den jeweils angezeigten Eintritt der Arbeitslosigkeit beschränkt ist, bedurfte es für den erneuten Bezug von Alg nach einer die Arbeitslosigkeit ausschließenden Beschäftigung erneuter Arbeitslosmeldung, um die Anspruchsvoraussetzung „arbeitslos gemeldet” nach § 100 Abs 1 AFG zu begründen. Hierbei ist daran festzuhalten, daß die Wirkung der Arbeitslosmeldung auf die Dauer der gemeldeten Arbeitslosigkeit beschränkt ist (BSGE 77, 175, 178 f = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97).
3. Die tatsächlichen Feststellungen zu den weiteren Voraussetzungen des § 45 SGB X kann der Senat nicht nachholen. Das LSG wird danach zu prüfen haben, ob die Rücknahmevoraussetzung des § 45 Abs 1 Satz 3 in objektiver wie subjektiver Hinsicht vorliegen und die Rückforderung der Höhe nach gerechtfertigt ist. Das Urteil muß daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die im Revisionsverfahren entstandenen Kosten, an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen