Leitsatz (amtlich)
In Schwerbehinderten-Streitigkeiten über die Feststellung anderer "gesundheitlicher Merkmale" als der MdE (SchwbG § 3 Abs 4), wie die Berechtigung zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr betreffend, ist die Sprungrevision schlechthin ausgeschlossen; eine Zulassung des Rechtsmittels ist unwirksam (Ergänzung von BSG 1978-09-14 9 RVs 3/77).
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 4, 6 S. 4; SGG § 150 Fassung: 1974-07-30, § 161 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
SG Dortmund (Entscheidung vom 28.04.1978; Aktenzeichen S 7 V 208/77) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28. April 1978 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der 1954 geborene Kläger leidet an den Folgen einer frühkindlichen Hirnschädigung. Auf seinen Antrag vom Januar 1977 stellte der Beklagte eine "geistige Behinderung" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH sowie eine Hilflosigkeit des Klägers fest, lehnte aber die Anerkennung weiterer Vergünstigungsmerkmale ab, insbesondere einer erheblichen Gehbehinderung infolge Körperbehinderung (Bescheid vom 18. April 1977; Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 1977). Das Sozialgericht (SG) hob die angefochtenen Verwaltungsakte insoweit auf, als darin abgelehnt worden ist, eine erhebliche Gehbehinderung und die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung anzuerkennen, und verpflichtete den Beklagten, die gesundheitlichen Voraussetzungen der unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr und die Notwendigkeit einer Begleitperson festzustellen (Urteil vom 28. April 1978): Der Kläger sei körperbehindert mit erheblicher Gehbehinderung und auf eine ständige Begleitung angewiesen und könne daher nach § 2 Abs 1 Nr 6 Gesetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr (UnBefG) iVm § 39 Abs 1 Nr 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eine unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr beanspruchen. Er sei in seiner Bewegungsfähigkeit infolge einer Beeinträchtigung der Funktionen des Geh- und Stützapparates nicht nur vorübergehend wesentlich behindert. Dies brauche sich nicht auf eine unmittelbare Beeinträchtigung des Stütz- und Bewegungssystems zu beschränken, die in den Bereich der Orthopädie falle. Es genüge, daß das bezeichnete Körpersystem infolge einer anderen Störung nicht funktioniere, zB wegen einer geistigen Behinderung. Denn der Rechtsgrund für die unentgeltliche Beförderung sei ein Mangel in der Orientierungs- und Bewegungsfähigkeit. Der Kläger leide an einer zentral-nervös bedingten Dysfunktion des Stütz- und Bewegungsapparates im Sinne von Koordinationsstörungen und könne infolgedessen das System, an dem selbst keine Fehler beständen, nicht bestimmungsgemäß steuern. Dieser Ausfall bedinge eine MdE von mindestens 50 vH. Außerdem könne der Kläger nicht ohne Schwierigkeiten solche Wegstrecken gehen, die im Ortsverkehr üblicherweise zu Fuß zurückgelegt werden. Dafür sei nicht bloß ein Versagen der Füße zu verlangen. Vielmehr sei jede Beeinträchtigung des zielgerichteten Gebrauchs des Gehvermögens als einer eigenständigen Verhaltenseinheit ausreichend. Diese Auslegung des § 2 Abs 2 UnBefG sei ua deshalb geboten, weil nur so alle Gehbehinderten in den Genuß ihres Rechts auf soziale Eingliederung im Bereich des Nahverkehrs gelangen könnten (Art I §§ 10, 29 Abs 1 Nr 3 und 4, § 2 Abs 2, Art II § 1 Nr 18 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil). Das SG hat wegen grundsätzlicher Bedeutung verschiedener Rechtsfragen die Sprungrevision zugelassen. Diese Zulassung sei ungeachtet dessen statthaft, daß in der vorliegenden Sache die Berufung schlechthin ausgeschlossen sei.
Der Beklagte hat die Revision eingelegt. Er hält die Berufung nicht für schlechthin unstatthaft; deshalb sei die Zulässigkeit der Sprungrevision nicht fraglich. In sachlich-rechtlicher Hinsicht rügt der Beklagte die Verletzung des § 2 UnBefG iVm § 39 Abs 1 BSHG sowie der vom SG zitierten Vorschriften des SGB. Eine Körperbehinderung im Sinne des § 39 Abs 1 Satz 2 BSHG setze eine Beeinträchtigung am Stütz- und Bewegungssystem voraus. Die Beweglichkeit des Klägers sei nur mittelbar infolge einer Störung der mentalen Steuerung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs seiner Beine eingeschränkt. Der Kläger könne sich nach dem Gutachten von Dr. M, dem das SG gefolgt sei, infolge hochgradigen Schwachsinns nicht orientieren. Entgegen der Auffassung des Vordergerichts müsse die Gehbehinderung nicht neben der Körperbehinderung bestehen, sondern infolge derselben. Die vom SG zitierten Vorschriften des SGB gewährten keine Leistungen in Abweichung von gesetzlichen Regelungen.
Der Beklagte beantragt,
unter Änderung des Urteils des SG die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Er tritt der Begründung des angefochtenen Urteils bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision des Beklagten ist nicht statthaft.
Abgesehen von den sonstigen prozessualen Voraussetzungen (§§ 161, 162, 164, 166 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist die Sprungrevision nach § 161 Abs 1 Satz 1 SGG nur dann zulässig, wenn sie das SG zugelassen hat. Das ist hier im Urteil geschehen. Nach § 161 Abs 2 Satz 2 SGG ist das Revisionsgericht an die Zulassung gebunden. Gleichwohl ist diese Bindung im gegenwärtigen Fall ausnahmsweise deshalb nicht eingetreten, weil das Urteil des SG schlechthin unanfechtbar ist.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die "geistige Behinderung" des Klägers eine spezielle Körper- und Gehbehinderung bedingt, die zur unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr berechtigt und als entsprechendes "gesundheitliches Merkmal" von der Versorgungsbehörde festzustellen ist.
Eine Berufung gegen eine Entscheidung, die eine solche Feststellung der Körperbehinderung im Sinne des § 39 Abs 1 BSHG gemäß § 3 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) in der Fassung vom 29. April 1974 (BGBl I 1005) und des Gesetzes vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1481) als Voraussetzung für eine unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr (§ 1 Abs 1 und § 2 Abs 1 Nr 6 UnBefG vom 27. August 1965 - BGBl I 978 -) betrifft, "findet" nach § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG "nicht statt". Dies bedeutet, wie das Vordergericht selbst zutreffend angenommen hat, einen völligen Ausschluß des Rechtsmittels. Das hat der erkennende Senat bereits im Urteil vom 14. September 1978 - 9 RVs 3/77 - entschieden. Daran hält der Senat fest. Die Endgültigkeit eines erstinstanzlichen Urteils ist mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (Art 20 Grundgesetz - GG -) und mit dem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt (Art 19 Abs 4 GG) vereinbar (BVerfGE 41, 23, 26 mN). Allerdings mag es rechtspolitisch erstrebenswert sein, in Streitigkeiten dieser Art über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung eine einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung zu ermöglichen. Indes erlaubt dies die gegenwärtige Rechtslage nicht. Wenn aber ein Urteil des SG überhaupt nicht mit einer Berufung angefochten werden kann, muß dies ebenso für eine Sprungrevision gelten, muß also ebenfalls eine Überprüfung durch eine höhere Instanz auf dem Weg über die Revision schlechthin ausgeschlossen sein. Auch nach Auffassung des 11. Senats des Bundessozialgerichts (SozR 1500 § 161 Nr 15) bedeutet die gesetzliche Einschränkung, die Sprungrevision sei "unter Umgehung der Berufungsinstanz" zulässig (§ 161 Abs 1 Satz 1 SGG), daß jenes Rechtsmittel eine zulässige Berufung voraussetzt. Das gebietet nach dieser Entscheidung außerdem der Sinn und Zweck der Sprungrevision; sie solle "den Weg zum Revisionsgericht abkürzen, nicht aber ein Mittel zur Anfechtung eines sonst einer sachlichen Nachprüfung durch eine höhere Instanz entzogenen Urteils bieten". Der 11. Senat hat dies - entsprechend der ihm vorliegenden Fallgestaltung - allerdings als auf die Fälle beschränkt angesehen, in denen eine nach den §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossene, also an sich nach § 143 SGG statthafte Berufung nicht nach § 150 Nr 1 SGG zugelassen worden ist. Mit noch besserer Begründung pflichtet der erkennende Senat dieser Auffassung für Fälle der vorliegenden Art bei, in denen eine Berufung schlechthin unstatthaft ist. Die Richtigkeit dessen bestätigt ein Vergleich mit der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Soweit durch Bundesgesetz die Berufung ausgeschlossen ist, eröffnet § 135 VwGO eine besondere Art der Sprungrevision an das Bundesverwaltungsgericht kraft Zulassung durch das Verwaltungsgericht oder bei der Rüge bestimmter Verfahrensmängel (§ 133 VwGO). Eine solche Sonderregelung, die neben der dem § 161 SGG entsprechenden Vorschrift über die übliche Sprungrevision "unter Umgehung der Berufungsinstanz" (§ 134 VwGO) besteht, fehlt im SGG. In der Sozialgerichtsbarkeit verbleibt es bei der Möglichkeit der allgemeinen Sprungrevision, die allerdings entfällt, falls die Berufung schlechthin nicht statthaft ist.
Diesem Ausschluß der Sprungrevision steht für Fälle der vorliegenden Art das Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts (SozR 1500 § 161 Nr 11) über das Verhältnis einer Zulässigkeit der beiden Rechtsmittel zueinander nicht entgegen. Nach dem veröffentlichten Leitsatz dieser Entscheidung setzt die Statthaftigkeit der Sprungrevision nicht voraus, daß auch die Berufung statthaft ist. Nach den Gründen soll die Formulierung, daß diese Revision "unter Umgehung der Berufungsinstanz" eingelegt werden kann, nicht zu dem Schluß berechtigen, daß die Zulassung dieses Rechtsmittels eine nicht nach den §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossene oder eine nach § 150 Nr 1 zugelassene Berufung voraussetze; die Zulassung der Berufung brauche in den zweitgenannten Fällen nicht besonders ausgesprochen zu sein. Jene gesetzliche Einschränkung bedeute nicht mehr, als daß die Berufungsinstanz nicht tätig zu werden brauche. Diese Entscheidung des 5. Senats, der der 11. Senat entgegengetreten ist, berührt aber die Rechtslage des gegenwärtigen Falles nicht. Beim Streit um die nach § 3 Abs 4 SchwbG festzustellenden Merkmale, von denen besondere Vergünstigungen abhängen, bestimmt sich die Berufungsmöglichkeit gerade nicht nach den für andere Streitfälle des SchwbG maßgebenden Regeln der §§ 143 bis 149 SGG (vgl § 3 Abs 6 Satz 2 und 3 SchwbG), wie der erkennende Senat im zitierten Urteil zu § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG klargestellt hat.
Da mit dieser Rechtsprechung nicht von den beiden zitierten Entscheidungen des 5. und des 11. Senats abgewichen wird, braucht der erkennende Senat nicht den Großen Senat anzurufen.
Falls ein Urteil völlig unanfechtbar ist, kann auch die Zulassung eines Rechtsmittels die Überprüfung durch eine höhere Instanz nicht eröffnen. Dies hat der Senat für die Zulassung der Berufung bereits im Urteil vom 14. September 1978 entschieden. Gleiches muß für die Zulassung der Sprungrevision aus den in jener Entscheidung dargelegten Gründen, auf die im einzelnen verwiesen wird, gelten (Meyer-Ladewig, SGG, 1977, § 161, Rz 8). Die unbedingte Bindung an die Zulassung (§ 160 Abs 3, § 161 Abs 2 Satz 2 SGG vgl aber BSG SozR 1500 § 150 Nr 2) beschränkt sich auf Fälle, in denen ein Rechtsmittel an sich statthaft ist, aber abweichend von den gesetzlichen Voraussetzungen zugelassen wird. Sie soll lediglich das Rechtsmittelgericht der Prüfung entheben, ob ein Zulassungstatbestand nach dem Gesetz gegeben ist. Mit dieser Begrenzung gilt der vom erkennenden Senat zu § 160 Abs 3 SGG schon zuvor vertretene, im Urteil vom 14. September 1978 erwähnte Grundsatz, daß die Revisionszulassung des BSG uneingeschränkt bindet und nicht mehr darauf zu prüfen ist, ob sie offenbar gesetzwidrig ist (SozR 1500 § 160 Nr 21).
Dieser Entscheidung für Fälle der vorliegenden Art steht nicht entgegen, daß der 11. Senat die Zulassung der Sprungrevision auch dann als verbindlich beurteilt, wenn sie nicht hätte ausgesprochen werden dürfen, weil die Berufung nicht nach § 143 SGG an sich oder kraft Zulassung (§ 150 Nr 1 SGG) zulässig war. Dieses Ergebnis hält der 11. Senat deshalb für berechtigt, weil das SG von zwei Rechtsmitteln, die es gleichzeitig hätten zulassen müssen, bloß eines nicht durch entsprechenden Ausspruch eröffnet hat und weil dann nicht einzusehen ist, "warum allein deswegen auch das einzig zugelassene Rechtsmittel als unstatthaft gelten sollte". An einer solchen Besonderheit fehlt es im gegenwärtigen Fall, in dem die Berufung nicht lediglich nach § 149 SGG ausgeschlossen war. Das SG hätte die Berufung gar nicht wirksam zulassen können; denn sein Urteil war endgültig. Gerade die Möglichkeit, daß die Zulassung eines Rechtsmittels nicht bindend ist, zB bei formellen Mängeln (BSG SozR 1500 § 161 Nr 13; anders bei anderen Formmängeln für eine Übergangszeit: SozR 1500 § 161 Nr 12 mwN; 1500 § 150 Nr 3 und 4 für die Berufung; abweichend: 1500 § 161 Nr 16), hat in diesem Zusammenhang auch der 11. Senat ausgedeutet, ohne die dazu ergangene Rechtsprechung abzulehnen.
Die mithin nicht statthafte Sprungrevision des Beklagten ist als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen