Leitsatz (amtlich)

1. Einer besonderen Prüfung, ob ein Beteiligter der deutschen Sprache mächtig ist, bedarf es stets dann, wenn sich aus irgendwelchen Umständen Zweifel an seiner Sprachkundigkeit ergeben.

2. Ist ein Beteiligter ein fremdsprachiger Ausländer, so kann regelmäßig nicht ohne weiteres angenommen werden, er sei der deutschen Sprache genügend mächtig.

3. Die Frage, ob ein Gericht nach den Umständen des Einzelfalles verpflichtet war, die Sprachkundigkeit eines Beteiligten besonders zu prüfen und festzustellen, unterliegt der Nachprüfung durch das Revisionsgericht.

 

Normenkette

SGG § 61 Fassung: 1953-09-03; GVG § 185

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 6. April 1955 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Schleswig zurückverwiesen.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des im Armenrecht bestellten Rechtsanwalts B. vor dem Bundessozialgericht wird auf zwei Drittel von ... DM = ... DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I. Der 1904 geborene Kläger, der jugoslawischer Nationalität war, wurde im Jahre 1941 auf Veranlassung der deutschen Besatzungsbehörden aus seiner Heimat nach Deutschland gebracht und hier als Arbeiter eingesetzt. Infolge eines Motorradunfalls will der Kläger seit dem 27. September 1945 invalide sein. Im November 1952 beantragte er die Gewährung der Invalidenrente; die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 12. November 1953 den Antrag ab, weil der Kläger keine Beiträge zur Invalidenversicherung gezahlt und daher auch die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt habe; die Beklagte wies in ihrem Bescheid ferner darauf hin, daß nach den von ihr eingeholten Gutachten auch keine Invalidität bestehe und daher auch aus diesem Grunde der Rentenantrag hätte abgelehnt werden müssen.

Mit seiner an das Oberversicherungsamt Schleswig gerichteten Berufung, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Schleswig überging, hatte der Kläger keinen Erfolg. Gegen dieses Urteil legte der Kläger mit einem längeren, persönlich unterzeichneten Schriftsatz Berufung ein. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 6. April 1955 war er persönlich erschienen und verhandelte zur Sache; irgendwelche Besonderheiten sind in der Verhandlungsniederschrift nicht vermerkt. Das Landessozialgericht (LSG.) wies auf Grund dieser Verhandlung durch Urteil die Berufung ab.

Es begründete seine Entscheidung im wesentlichen damit, daß der Kläger als Kriegsgefangener nicht der deutschen Sozialversicherung angehört habe; auch wenn - entgegen der Auffassung des LSG. - der Kläger, wie er nunmehr behaupten wollte, als Zivilinternierter nach Deutschland gekommen sei, bestehe für ihn kein Anspruch auf Invalidenrente. Einmal sei der Kläger auch als Zivilinternierter nicht versicherungspflichtig gewesen, zum anderen reiche die vom Kläger behauptete Arbeitsdauer, selbst wenn für ihn während jener Zeit (Mai 1941 bis Mai 1945) stets Beiträge entrichtet wären, mit 48 Monaten nicht aus, die Wartezeit zu erfüllen. Schließlich könne dem Kläger auch über § 1 Abs. 2 Buchstabe c des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FremdRG) nicht geholfen werden, da er in seiner Heimat keine Beiträge zur dortigen Sozialversicherung entrichtet habe, wie sich aus seinen konkreten Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung eindeutig ergebe. Das LSG. hat die Revision gegen sein Urteil ausdrücklich nicht zugelassen; in der Rechtsmittelbelehrung des Urteils fehlt ein Hinweis darauf, daß bereits die Revision einen bestimmten Antrag enthalten müsse.

II. Der Kläger hat gegen das ihm am 16. Juli 1955 zugestellte Urteil am 15. August 1955 Revision eingelegt und diese Revision am 15. Oktober 1955 begründet.

Mit der Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel, daß die Zuziehung eines Dolmetschers unterlassen sei. Er sei der deutschen Sprache keineswegs mächtig und habe der Verhandlung nicht folgen können. Dadurch sei er gehindert gewesen, verschiedene Tatsachen vorzutragen, deren Kenntnis das Gericht zu einer anderen Entscheidung hätte veranlassen müssen. Als solche Punkte gibt er insbesondere an:

1. Er sei nicht als Kriegsgefangener, sondern als Zivilinternierter nach Deutschland gekommen;

2. er sei als D. P. (displaced person) anerkannt und daher gemäß § 18 des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet vom 25. April 1951 (BGBl. I S. 299) den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt;

3. seine Invalidität sei auf einen Unfall zurückzuführen, so daß nach § 1263 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) seine Wartezeit als erfüllt gelte;

4. die im angefochtenen Urteil angeführten Gutachten seien z. T. gar nicht durch die dort genannten Ärzte erstattet, andererseits lägen auch vorher erstattete Gutachten vor, die nicht berücksichtigt worden seien;

5. in seiner Heimat habe er sowohl für sich als auch für seine Arbeitnehmer Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt; er sei dort gesetzlich von 1928 bis 1941 rentenversichert gewesen.

Der Kläger rügt ferner eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch das LSG., da dieses über die Frage, ob er Zivilinternierter gewesen sei, die angebotenen Beweise nicht erhoben habe.

Das Gericht habe schließlich auch die Vorschrift des § 106 SGG verletzt, indem es trotz Kenntnis des Umstandes, daß er Ausländer war, versäumt habe aufzuklären, was er wirklich vortragen wolle; sonst würde sich ergeben haben, daß er noch einen Antrag nach § 109 SGG habe stellen wollen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Schleswig zurückzuverweisen.

Demgegenüber beantragt die Beklagte,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Sie hält keinen Verfahrensmangel für vorliegend; sie bestreitet besonders die Behauptung des Klägers, der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein; nach Äußerung ihres Terminvertreters habe der Kläger der Verhandlung vor dem LSG. durchaus folgen können. Da der Kläger auch als Zivilinternierter nicht versicherungspflichtig gewesen sei, komme es auf Ermittlungen in dieser Hinsicht nicht an; ebensowenig spiele die Frage, ob der Kläger invalide sei, eine Rolle, da er keinerlei Beiträge zur deutschen Invalidenversicherung gezahlt habe.

III. Das Bundessozialgericht (BSG.) hat zunächst von der Stadtverwaltung Flensburg eine Auskunft über die Sprachkenntnisse des Klägers eingeholt, auf deren den Parteien mitgeteiltes Ergebnis verwiesen wird.

Das BSG. hat sodann eine dienstliche Äußerung des Vorsitzenden des Senats, der das angefochtene Urteil erlassen hat, darüber erbeten, ob in der mündlichen Verhandlung vom 6. April 1955 die Frage der deutschen Sprachkenntnisse des Klägers irgendwie erörtert worden ist, bezw. ob dazu kein Anlaß gesehen wurde.

Da der Senatsvorsitzende inzwischen verstorben war, gab an seiner Statt der seinerzeitige Berichterstatter folgende dienstliche Äußerung ab:

"Soweit ich mich zu erinnern vermag, gab der Kläger in der Verhandlung ... an, die deutschen Gesetze nicht zu kennen. Daß er der deutschen Sprache nicht mächtig sei, hat er meines Wissens nicht vorgetragen. Ich meine vielmehr, mich erinnern zu können, daß er sich durchaus in der deutschen Sprache gut verständigen konnte. Er spricht mit einem ausländischen Akzent die deutsche Sprache ...".

Die Beteiligten sind auch über das Ergebnis dieser Ermittlungen unterrichtet worden.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt worden.

Die Revisionsbegründung - die kurze Angabe in der Revisionsschrift selbst, "es werde die Verletzung eines wesentlichen Verfahrensmangels im Sinne des § 162 Abs. 1 Ziff. 2 SGG gerügt, insbesondere § 106 Abs. 1 SGG", kann als eine den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 SGG genügende Begründung nicht angesehen werden - ist nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Zweimonatsfrist eingegangen, ohne daß eine Fristverlängerung beantragt oder bewilligt worden war. In der Rechtsmittelbelehrung fehlt jedoch der Hinweis darauf, daß die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag enthalten muß. Nach der Rechtsprechung des BSG. (BSG. 1 S. 227) entspricht eine derartige Rechtsmittelbelehrung nicht den Erfordernissen des § 66 Abs. 1 SGG, so daß für die Einlegung der Revision die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG galt und demnach für die Revisionsbegründung eine Frist von 13 Monaten seit Zustellung des Urteils. Auch die Revisionsbegründungsfrist ist daher als gewahrt anzusehen.

II. Da die Revision vom LSG. nicht zugelassen ist, wäre sie nur statthaft, wenn eine der vom Kläger erhobenen Rügen wesentlicher Verfahrensmängel durchgriffe.

Der Kläger rügt als wesentlichen Mangel des Verfahrens in erster Linie, daß im Verfahren vor dem LSG. kein Dolmetscher zugezogen worden sei. Nach § 185 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), der nach § 61 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, muß ein Dolmetscher zugezogen werden, wenn ein Prozeßbeteiligter der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Dies gilt gleichermaßen dann, wenn der Beteiligte die deutsche Sprache nicht vollständig beherrscht, soweit für die Verständigung ein Dolmetscher nötig ist (RG. in Goltd.-Arch. Bd. 50 S. 394). Nach der in der Rechtsprechung und im Schrifttum vertretenen Auffassung handelt es sich allerdings bei der Beurteilung der Frage, ob und inwieweit ein Prozeßbeteiligter der deutschen Sprache nicht mächtig ist, um eine allein dem tatrichterlichen Ermessen des erkennenden Richters unterliegende Aufgabe; die Nachprüfung dieser Ermessensausübung ist nach jener Ansicht dem Revisionsgericht entzogen. Diese Auffassung gründet sich auf einige wenige alte Reichsgerichtsentscheidungen (J. W. 1894 S. 540; Goltd.-Arch. Bd. 47 S. 384; ebenda Bd. 50 S. 394; RGSt. Bd. 1 S. 137; RG. Els.-Loth. Z. Bd. 27 S. 73), die keine besondere Begründung enthalten und denen sich der Bundesgerichtshof (BGHSt. Bd. 3 S. 285) ebenfalls ohne besondere Begründung angeschlossen hat.

Ob diese Ansicht auch heute und insbesondere im Rahmen des Sozialgerichtsverfahrens uneingeschränkt vertreten werden kann, braucht jedoch entgegen der Auffassung der Parteien für den vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden.

Es muß nämlich zunächst geprüft werden, ob das LSG. die Frage, ob und inwieweit der Kläger der deutschen Sprache mächtig ist, überhaupt als solche in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen hat. Wird schon diese Frage verneint, hat also das LSG. die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht unterlassen, weil es dies bei dem Kläger nicht für erforderlich hielt, sondern weil es an eine entsprechende Prüfung überhaupt nicht gedacht hat, so handelt es sich um die im Revisionsverfahren durchaus nachprüfbare Frage, ob und inwieweit die Unterlassung einer eigenen derartigen Prüfung durch das LSG. einen wesentlichen Mangel des Verfahrens darstellt.

Weder die Verhandlungsniederschrift noch das Urteil des LSG. ergeben irgendeinen Anhalt dafür, daß die Frage des Sprachverständnisses und der Sprachkenntnisse des Klägers erörtert und geprüft worden ist. Auch aus der vom BSG. veranlaßten Äußerung des damaligen Berichterstatters des LSG. ergibt sich nicht, daß das LSG. etwa wegen genügender Sprachkenntnisse des Klägers die Beiziehung eines Dolmetschers für unnötig gehalten hat; es hat vielmehr auch nach dieser Äußerung von einer entsprechenden Prüfung überhaupt abgesehen.

Es wäre allerdings eine sachlich nicht gerechtfertigte Überspannung des im § 185 GVG enthaltenen gesetzlichen Gebots, wenn man verlangen wollte, daß das Gericht in jedem Fall besonders prüfen müsse, ob alle Beteiligten der deutschen Sprache mächtig sind. Zu einer derartigen Prüfung ist das Gericht vielmehr nur dann verpflichtet, wenn sich aus irgendwelchen Umständen Zweifel an der Sprachkundigkeit der an der Verhandlung beteiligten Personen ergeben. Derartige Bedenken waren im vorliegenden Fall jedoch nicht von der Hand zu weisen. Man wird bei fremdsprachigen Personen regelmäßig nicht ohne weiteres annehmen können, daß sie in der Lage sind, einer Gerichtsverhandlung zu folgen und selbst das vorzubringen, was sie vortragen wollen, und zwar selbst dann nicht, wenn diese Personen sich in deutscher Sprache im täglichen Leben einigermaßen verständigen können. Selbst von Deutschen, die nicht rechtskundig sind, wird eine Gerichtsverhandlung häufig nicht ohne weiteres aus eigenem Verständnis richtig aufgefaßt und bedarf immer wieder vielfacher Hinweise und Erläuterungen durch den Vorsitzenden. Es kann daher grundsätzlich kaum bezweifelt werden, daß ein fremdsprachiger Ausländer, auch wenn ihm entsprechende Erläuterungen gegeben werden, dem Prozeßgeschehen vielfach in ausreichendem Umfange nicht zu folgen vermag. Bei der Beteiligung von Personen mit fremder Muttersprache in einem Rechtsstreit wird der Richter als Regel daher nicht annehmen können, sie seien der deutschen Sprache zweifellos derart vollkommen mächtig, daß sich jede Nachprüfung in dieser Hinsicht erübrigt; er wird vielmehr umgekehrt zu einer solchen Prüfung immer dann verpflichtet sein, wenn ihn die Besonderheiten des Falles davon nicht ausnahmsweise entheben. Für die Annahme, daß sich im vorliegenden Fall jede derartige Prüfung erübrigt, liegt kein Anlaß vor. Die Unterlassung dieser Prüfung, von der unmittelbar die Entscheidung der Frage abhängt, ob dem Kläger im gesetzlich vorgeschriebenen Maße das rechtliche Gehör zuteil wurde, ist demnach ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, dessen Rüge die Revision statthaft macht.

III. Das Urteil beruht auch auf dieser Gesetzesverletzung. Bei der unzulässigen Einschränkung der Gewähr des rechtlichen Gehörs muß in aller Regel angenommen werden, daß der betroffene Beteiligte dadurch an einem Vorbringen gehindert wurde, das eine andersartige Entscheidung hätte herbeiführen können. Im vorliegenden Fall hätte der Kläger bei Zuziehung eines Dolmetschers seine Behauptungen, an deren Vorbringen er persönlich nach seiner Angabe behindert gewesen ist, vortragen können. Insbesondere hätte er angeben können, daß er in seiner Heimat Beiträge zur Rentenpflichtversicherung gezahlt habe. Trifft diese Angabe, die das LSG. auf Grund der von ihm vorgenommenen Befragung des Klägers glaubte ausschließen zu können, zu, so würde über § 1 Abs. 2 Buchstabe c FremdRG die Möglichkeit eines Rentenanspruchs gegeben sein und alsdann weiterhin auch die Frage nach der Anerkennung des Klägers als heimatloser Ausländer und nach dem Vorliegen von Invalidität Bedeutung gewinnen. Da die angefochtene Entscheidung demnach möglicherweise auf dem gerügten Verfahrensmangel beruht, war das Urteil aufzuheben.

Das BSG. kann die noch notwendigen Feststellungen nicht selbst treffen. Die Sache war daher an die Vorinstanz zurückzuverweisen, ohne daß es eines Eingehens auf die weiteren vom Kläger erhobenen Rügen bedurft hätte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Die Gebühr für den im Armenrecht bestellten Rechtsanwalt B erschien in Höhe von ... (zwei Drittel von ...) angemessen.

 

Fundstellen

NJW 1957, 1087

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