Orientierungssatz

Zur Frage, wann eine von einem Besatzungsgericht verhängte Strafe zu den schädigenden Vorgängen iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst d zu rechnen ist (hier: Todesstrafe wegen Erschießung eines Besatzungsmitglieds eines während eines Fliegerangriffs abgeschossenen Flugzeugs).

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07, § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. September 1967 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Dem Streitverfahren liegt folgender unstreitiger Sachverhalt zugrunde: Der Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen, ein Unterscharführer der Waffen-SS, war seit September 1944 als Ausbilder zu einem Ausbildungslager der Hitlerjugend in Altenberg bei Köln abgestellt. Ende Oktober 1944 beobachteten er und einige Kameraden, wie ein Besatzungsmitglied eines während eines Fliegerangriffs abgeschossenen Flugzeugs absprang. Sie begaben sich zusammen mit einem Oberbannführer der Hitlerjugend zu der zu erwartenden Absprungstelle und fanden dort den Feindflieger von Angehörigen der Luftwaffe gefangen genommen vor. Auf Drängen des Oberbannführers wurde er in dessen Obhut übergeben. Darauf führten der Führer in der Hitlerjugend, der Ehemann der Klägerin zu 1) sowie einige seiner Kameraden den Gefangengenommenen in ein nahegelegenes Waldstück und erschossen ihn. Ein britisches Militärgericht verurteilte aufgrund des Ergebnisses der vom 31. März bis 6. April 1948 durchgeführten Hauptverhandlung den Oberbannführer und den Kläger zum Tode und einen Hitlerjungen zu zehn Jahren Gefängnis, weil sie unter Verletzung der Gesetze und Bräuche des Krieges den Kriegsgefangenen getötet hatten. Das Urteil wurde nach Bestätigung durch den kommandierenden General der britischen Rheinarmee und stellvertretenden Oberkommandierenden der britischen Besatzungstruppen am 9. Juni 1948 vollstreckt.

Den Antrag der Klägerinnen auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung vom April 1959 lehnte das Versorgungsamt durch Bescheid vom 4. März/29. April 1960 ab, weil das Urteil des englischen Kriegsgerichts nicht als ein offensichtliches Unrecht im rechtsstaatlichen Sinne angesehen werden könne. Der Widerspruch blieb aus den Gründen des Bescheides erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1960).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage nach Beiziehung von Fotokopien aus den Akten des englischen Militärgerichts durch Urteil vom 16. Februar 1966 abgewiesen, weil das Verhalten des Ehemannes der Klägerin zu 1) den Tatbestand des gemeinschaftlich begangenen Mordes erfüllt habe. Diese Straftat hätte auch nach dem damaligen deutschen Recht mit dem Tode bestraft werden können.

Die Berufung der Klägerin blieb nach Beweisaufnahme durch Heranziehung von Niederschriften über Zeugenvernehmungen erfolglos (Urteil vom 27. September 1967). Das LSG ist der Ansicht gewesen, das Urteil des Militärgerichts habe zwar auf Artikel 2 des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 beruht. Der Tatanteil des Ehemannes der Klägerin zu 1) erfülle aber den Tatbestand des Mordes i. S. des § 211 des Strafgesetzbuches (StGB) in der damaligen Fassung. Der Täter habe aus niederen Gründen, nämlich Haß oder Rachsucht, gehandelt; die Tötung sei zudem heimtückisch gewesen. Berufung auf einen erteilten Befehl sei ausgeschlossen. Da der objektive und subjektive Tatbestand des § 211 StGB in der damaligen Fassung erfüllt gewesen sei, bestehe kein grobes Mißverhältnis zwischen dem Urteil des englischen Militärgerichts und demjenigen, das vermutlich ein deutsches Strafgericht in der damaligen Zeit erlassen hätte. Infolgedessen seien die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht erfüllt. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen.

Die Klägerinnen haben Revision eingelegt und beantragt,

1) das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Kassel vom 16. Februar 1966 sowie die Bescheide des Beklagten vom 4. März, 29. April und 24. Juni 1960 aufzuheben und diesen zu verurteilen, den Klägerinnen vom 1. April 1959 an Hinterbliebenenrente zu gewähren,

2. hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügen mit näherer Begründung eine Verletzung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG.

Der Beklagte beantragt zu erkennen,

die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Hessischen LSG vom 27. September 1967 wird zurückgewiesen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Klägerinnen haben die vom LSG bedenkenfrei zugelassene Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Ihr zulässiges Rechtsmittel kann keinen Erfolg haben.

Als Grundlage für die Versorgungsansprüche der Klägerinnen kommt - wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben - § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG in Betracht. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen i. S. des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes ... zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (s. insbesondere BSG 16, 182 ff, 17, 225 ff, 22, 275 ff, SozR BVG § 5 Nr. 40, Urteile vom 28. September 1961 - 7/9 RV 594/58 - und vom 18. Oktober 1962 - 11 RV 1136/61 - sowie 13. Februar und 11. Juni 1964 - 8 RV 1133/61 und 8/11 RV 100/62 -) ist zu den schädigenden Vorgängen i. S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG eine von einem Gericht der Besatzungsmacht verhängte Strafe nur dann zu rechnen, wenn sie dem Unrechtsgehalt des Verhaltens unverkennbar nicht entsprochen hat. Nur wenn die Besatzungsmächte als Siegermächte ihre damalige Strafgewalt gegenüber Deutschen in einer Weise gehandhabt haben, der nach deutscher Rechtsauffassung keinesfalls zugestimmt werden kann, liegt eine unmittelbare Kriegseinwirkung, nämlich eine mit der militärischen Besetzung zusammenhängende besondere Gefahr vor. Nach dem BVG ist den Opfern einer solchen besonderen Gefahr Versorgung zu gewähren. Wem hingegen durch eine Strafe der Besatzungsmacht kein offensichtliches Unrecht zugefügt worden ist, der gehört nicht zu diesen Opfern. Denn wer wegen seines Verhaltens nach deutschem Recht nicht wesentlich geringer als von der Besatzungsmacht bestraft worden wäre, ist nicht einer unmittelbaren Kriegseinwirkung, sondern den Folgen seines eigenen Verhaltens zum Opfer gefallen. Dieses eigene Verhalten haben die deutschen Gerichte festzustellen. Da das Urteil des Militärgerichts sie nicht bindet, hat es keine Tatbestands- und Feststellungswirkung, auch nicht etwa in dem Sinne, daß durch das gerichtliche Verfahren der Besatzungsmacht das strafwürdige Verhalten des Verurteilten abgegrenzt worden wäre. Vielmehr haben die deutschen Gerichte nunmehr das gesamte Verhalten des Verurteilten strafrechtlich nach deutschem Recht zu prüfen.

Dies hat das LSG zutreffend getan. Seine Auffassung, es sei äußerst zweifelhaft, ob die Verfolgung von Kriegsverbrechern eine besondere Gefahr i. S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG begründen könne, denn derartige Verbrechen hätten ihre innere Ursache im eigenen Verhalten der Täter, die hierfür die strafrechtliche Verantwortung tragen müßten, trägt die angefochtene Entscheidung nicht. Sie verkennt außerdem die Obliegenheiten der deutschen Gerichte hinsichtlich der Prüfung des strafwürdigen Verhaltens, zumal das anzuwendende deutsche Strafrecht die Straftat der "Kriegsverbrechen" nicht kannte. Deshalb ist an der bisherigen ständigen Rechtsprechung des BSG festzuhalten.

Nach ihr kommt es darauf an, ob das Urteil des Kriegsgerichts und seine Vollstreckung dem Gesamtverhalten des Ehemannes der Klägerin zu 1) - bei einer Beurteilung nach deutschem Strafrecht - gerecht geworden sind oder ob sie auf sachfremden Motiven und Willkürhandlungen (vgl. dazu auch BSG in SozR BVG § 5 Nr. 30) beruht haben, also eine besondere Gefahr i. S. von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darstellen. Ein Unrecht der Besatzungsmacht kann allgemein darin bestehen, daß zwischen Art und Höhe der von dem Besatzungsgericht verhängten Strafe und der Strafe, auf die vermutlich ein deutsches Gericht erkannt hätte, ein grobes Mißverhältnis besteht; ein solches Mißverhältnis kann den versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfüllen. Ist also ein Deutscher wegen Kriegsverbrechens von einem Besatzungsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, so liegt darin in der Regel dann ein schädigender Vorgang i. S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, wenn sein gesamtes Verhalten nach deutschem Strafrecht keinen Straftatbestand erfüllt hat, für den das Gesetz - damals - die Todesstrafe bestimmt hat und deshalb ein deutsches Gericht auch nicht auf die Todesstrafe hätte erkennen dürfen. Kein schädigender Vorgang i. S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ist aber jedenfalls dann gegeben, wenn ein Mord vorliegt, also der Straftatbestand erfüllt ist, für den im Regelfall auch das deutsche Strafgesetz (§ 211 des StGB in der damals geltenden Fassung des Gesetzes vom 4. September 1941 - vgl. auch BGSt vom 21. November 1950, NJW 1951, 120) die Todesstrafe als gerechte Sühne angesehen hat. Dann kann nicht davon gesprochen werden, daß das Urteil der Besatzungsmacht und die Vollstreckung dieses Urteils ein offensichtliches Unrecht darstellen; der Tod des Betroffenen ist in diesem Falle nicht der typischen Besatzungsgefahr zuzurechnen. Dabei ist es unerheblich, ob ein deutsches Gericht in einem Einzelfall möglicherweise nicht auf die Todesstrafe als Regelstrafe (§ 211 Abs. 1 StGB aF), sondern nur auf lebenslanges Zuchthaus erkannt hätte, weil es einen besonderen Ausnahmefall i. S. des § 211 Abs. 3 StGB aF angenommen hätte, oder daß deutsche Stellen möglicherweise die Todesstrafe im Wege eines Gnadenerweises in eine Freiheitsstrafe umgewandelt hätten.

Diese vom BSG entwickelten Grundsätze (BSG aaO), denen sich der Senat anschließt, hat das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Seine rechtliche Würdigung ist also frei von Rechtsirrtum. Dies verkennt die Revision nicht. Sie regt vielmehr an, die bisherige Rechtsprechung deshalb zu prüfen, weil die Besatzungsmacht die Todesstrafe abgeschafft habe, so daß ein deutsches Gericht im Jahre 1948 wegen Mordes nicht mehr habe auf die Todesstrafe erkennen können. Mit dieser Frage hat sich der 9. Senat bereits in der in BSG 22, S. 275 ff abgedruckten Entscheidung auseinandergesetzt. Er hat ausgeführt (S. 278):

"Wenn sonach 1947 im Zeitpunkt der Urteilsfällung ein deutsches Gericht nur deshalb die nach deutschem Recht zulässige Todesstrafe nicht mehr hätte aussprechen können, weil die deutsche Strafvorschrift von der Militärregierung beseitigt, von ihr aber in anderem Rahmen wieder eingeführt worden ist, so liegt darin allein noch kein Umstand, der das Todesurteil des amerikanischen Militärgerichts als Willkürakt bzw. offensichtliches Unrecht i. S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erscheinen läßt (vgl. auch Urt. des 8. Senats des BSG vom 29. Oktober 1964 - SozR Nr. 40 zu § 5 BVG)."

Dem schließt sich der erkennende Senat an. Denn für die besondere Gefahr i. S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG muß davon ausgegangen werden, wie die Rechtslage in Deutschland ohne Eingriff der Besatzungsmacht gewesen wäre. Nur bei dieser Beurteilung läßt sich feststellen, ob ein Todesurteil der Besatzungsmacht eine besondere Gefahr gewesen ist.

Auch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, welchen die Revision anscheinend andeuten möchte, ist nicht zu erblicken. Daß sich die Rechtslage zwischen 1944/46 und heute geändert hat, ist eine allgemeine Erscheinung. Wenn auch alte Straftaten aus der Zeit vor 1945 trotz der damaligen schärferen Strafdrohung jetzt milder bestraft werden als früher, so ist darin keinesfalls eine andersartige Beurteilung gleicher Tatbestände zu sehen, sondern die Tatbestände sind, so wie sie jetzt zur Verurteilung anstehen, wegen einer Änderung des Strafgesetzes verschiedenartig geworden, und Verschiedenartiges kann nach dem Grundgesetz verschiedenartig beurteilt werden. Demgemäß mußte die Revision der Klägerinnen als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284834

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