Leitsatz (amtlich)
Ist die Todesstrafe, die ein Gericht einer Besatzungsmacht wegen Kriegsverbrechen verhängt hatte, erst nach Inkrafttreten des GG vollstreckt worden, so ist dies allein keine besondere Gefahr iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst d.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 20. März 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Im September 1951 beantragte die Klägerin die Gewährung von Hinterbliebenenrente nach ihrem Ehemann. Dieser war vom amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg am 8. April 1948 wegen Verbrechen, strafbar nach Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrats, zum Tode verurteilt und am 7. Juni 1951 hingerichtet worden. Durch Bescheid vom 29. Juni 1955 lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil der Tod nicht die Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei. Mit dem Widerspruch wurde geltend gemacht, der Verstorbene habe als Befehlshaber der Einsatzgruppe B in Rußland im Raum von Mogilew keine Exekutionen befohlen oder durchgeführt und auch an ihnen niemals - selbst nicht als Zuschauer - teilgenommen; vielmehr habe er den "Führerbefehl", auf Grund dessen die Erschießungen vorgenommen worden seien, mißbilligt, an zugeteilte Einheiten nicht weitergegeben und seine Ablösung von seinem Posten betrieben. Dieser Rechtsbehelf blieb ebenso erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21. November 1955) wie die Klage (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 5. Februar 1957).
Die Klägerin hat Berufung eingelegt und vorgetragen, ihr Ehemann sei zu Unrecht verurteilt und hingerichtet worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des Militärgerichts sowie den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts über die Versagung einer Kriegsgefangenenentschädigung beigezogen und das Material gesichtet, welches über den Einsatzgruppenprozeß bei dem Institut für Zeitgeschichte in München lagert. Durch Urteil vom 20. März 1964 hat es auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG aufgehoben und in Abänderung der Verwaltungsbescheide den Beklagten dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin ab 1. September 1951 Witwenrente zu gewähren. Es ist von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) über die Hinterbliebenenversorgung nach dem BVG wegen der Verurteilung und Hinrichtung durch die Besatzungsmacht auf Grund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 ausgegangen und hat ausgeführt, die Streitsache der Klägerin unterscheide sich dadurch von den bisher entschiedenen Fällen, daß zwischen der Verurteilung des Ehemannes der Klägerin und der Hinrichtung das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik in Kraft getreten sei, welches die Todesstrafe abgeschafft habe. Der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG sei unabhängig vom Rechts- oder Unrechtsgehalt des Urteils eines Besatzungsgerichts allein mit der Vollstreckung der Todesstrafe dann erfüllt, wenn ein Deutscher noch zu einem Zeitpunkt hingerichtet worden sei, an dem die Vollstreckung der Todesstrafe nach deutschem Recht verboten gewesen sei; auch für das Vollstreckungsverfahren müsse das deutsche Recht herangezogen werden, um den Unrechtsgehalt des Vorgehens der Besatzungsmacht festzustellen. Das LSG hat die Revision zugelassen, "weil die Berücksichtigung der Abschaffung der Todesstrafe nach Art. 102 GG im Rahmen der Vollstreckung vor dem GG ergangener Todesurteile der Besatzungsgerichte eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darstelle."
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG vom 5. Februar 1957 als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise,
das mit der Revision angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine unrichtige Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG. Das Urteil des LSG stimme mit der Rechtsprechung des BSG nicht überein. Das Verhalten des Ehemannes der Klägerin habe den Straftatbestand des Mordes erfüllt.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und widerspricht insbesondere der Annahme, der Verstorbene habe den Straftatbestand des Mordes erfüllt.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Beklagte hat die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist gemäß § 164 SGG zulässig. Es ist auch begründet.
Das LSG hat zutreffend ausgeführt, daß die Klägerin dann die Gewährung von Hinterbliebenenrente beanspruchen kann, wenn ihr Ehemann an den Folgen einer Schädigung gestorben ist, welche durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG herbeigeführt worden ist. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung (§ 1 Abs. 2 Buchst. a BVG), wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, u.a. schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen ... Gebiets ... zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Wie bereits erwähnt, hat das Berufungsgericht es allein auf die Hinrichtung nach dem Inkrafttreten des GG abgestellt. Es hat unerörtert gelassen, wie das Verhalten des Ehemannes der Klägerin nach deutschem Strafrecht zu beurteilen ist und ob bei einer Bejahung seiner Schuld die Verurteilung durch das amerikanische Militärtribunal am 8. April 1948 auch bei Anwendung deutschen Rechts als angemessene Sühne für sein strafwürdiges Verhalten angesehen werden kann. Diese Auffassung des LSG ist nicht frei von Rechtsirrtum.
Die Beseitigung des Nationalsozialismus war ein Kriegsziel der Alliierten, das erst nach der Besetzung Deutschlands verwirklicht werden konnte (vgl. Proklamation Nr. 1 des Obersten Befehlshabers der alliierten Streitkräfte und Amtsbl. des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsbl . Nr. 1 S. 14). Dieses Ziel sollte u.a. auf Grund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 dadurch erreicht werden, daß sog. Kriegsverbrecher und ähnliche Rechtsbrecher an ein Gericht zur Bestrafung übergeben werden sollten. Da der Ehemann der Klägerin als Generalmajor der Polizei Kommandeur der Einsatzgruppe B in Rußland gewesen war, hat ihn die Besatzungsmacht auf Grund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 zum Tode verurteilt und dann hingerichtet. Nach dem zwischen den Besatzungsmächten und der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen Überleitungsvertrag vom 30. März 1955 (BGBl II, 405) sind alle Urteile und Entscheidungen in Strafsachen, die von einem Gericht oder einer gerichtlichen Behörde der drei Mächte oder einer derselben bis dahin in Deutschland gefällt worden sind in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam und sind von den deutschen Gerichten und Behörden demgemäß zu behandeln (Art. 7 Abs. 1 aaO). Hiervon sind ausdrücklich die Angelegenheiten der sog. Kriegsverbrecher ausgeschlossen (Art. 6 Abs. 11 aaO). Da also diese Urteile - auch das gegen den Ehemann der Klägerin gefällte - nach deutschem Recht ohne Bestandskraft sind, können sie den Entscheidungen deutscher Gerichte und Behörden nicht zugrunde gelegt werden.
Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG 16, 184; 17, 229), welche das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil im wesentlichen zutreffend wiedergegeben hat, können eine Verurteilung zum Tode auf Grund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und die darauf beruhende Hinrichtung dann als besondere, mit der militärischen Besetzung zusammenhängende Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG angesehen werden und Ansprüche nach diesem Gesetz begründen, wenn die Besatzungsmächte als Siegermächte von ihrer damaligen Strafgewalt gegenüber Deutschen in einer Weise Gebrauch gemacht haben, der nach deutscher Rechtsauffassung nicht zugestimmt werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischen der Art und der Höhe einer von einem Besatzungsgericht verhängten Strafe und der Strafe, auf die vermutlich ein deutsches Gericht erkannt hätte, ein grobes Mißverhältnis besteht. Dagegen liegt eine besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht vor - und die Berechtigung auf Grund dieses Gesetzes entfällt -, wenn die Verurteilung zu Strafe und deren Vollstreckung durch eine Besatzungsmacht sich von den Maßnahmen deutscher Amtsstellen nicht wesentlich unterschieden hätten. Wer nach deutschem Recht wegen seines Verhaltens nicht wesentlich geringer bestraft worden wäre, ist nicht ein Opfer schädigender Vorgänge im Sinne des BVG, sondern seines eigenen Verhaltens gewesen. Wer also einen Mord begangen - den Straftatbestand des § 211 des Strafgesetzbuches (StGB) in der damals geltenden Fassung des Gesetzes vom 4. September 1941 erfüllt - hat, wäre auch nach deutschem Recht damals mit dem Tode bestraft worden, hat folglich kein offensichtliches Unrecht durch die Besatzungsmacht erlitten und ist keiner besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erlegen. Wie das BSG bereits entschieden hat (BSG 16, 185), ist es für die Anwendung dieser Vorschrift unerheblich, ob ein deutsches Gericht in einem Einzelfall möglicherweise nicht auf die Todesstrafe als Regelstrafe (§ 211 Abs. 1 StGB aF), sondern nur auf lebenslanges ... Zuchthaus erkannt hätte, weil es einen besonderen Ausnahmefall im Sinne des § 211 Abs. 3 StGB aF angenommen hätte, oder ob deutsche Stellen möglicherweise die Todesstrafe im Wege eines Gnadenerweises in eine Freiheitsstrafe umgewandelt hätten. Dem schließt sich der erkennende Senat an.
Nach diesen Rechtsgrundsätzen hängt im vorliegenden Streitfall die Entscheidung davon ab, ob das Verhalten des Ehemannes der Klägerin nach deutschem Recht den Straftatbestand des Mordes (§ 211 StGB aF) erfüllt hat. War dies der Fall, dann würde die Verhängung der Todesstrafe und ihre Vollstreckung keine besatzungseigentümliche Gefahr darstellen.
Für die Anwendung des BVG kann es - entgegen der Auffassung des LSG - nicht darauf ankommen, ob die erkannte Todesstrafe nach Inkrafttreten des GG noch vollstreckt werden konnte, sowie ob und inwieweit - auch für die Umwelt - sich die Todesstrafe und eine lebenslange Zuchthausstrafe unterscheiden. Denn nach dem oben bereits mitgeteilten, für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit maßgebenden Teil der Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG muß der schädigende Vorgang - hier die Verurteilung zum Tode und die Vollstreckung der Strafe - infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sein. Nach den bereits dargestellten Grundsätzen über das Vorliegen einer derartigen besonderen Gefahr ist es unerläßlich, das strafwürdige Verhalten des Ehemannes der Klägerin nach deutschem Recht festzustellen. Erst danach kann entschieden werden, ob er in die Gefahr, sein Leben zu verlieren, durch eigenes Verhalten oder durch eine besatzungseigentümliche besondere Gefahr geraten ist. Wäre gegen ihn auch nach deutschem Recht die Todesstrafe verhängt worden, hätte er sich selbst in die Gefahr, sein Leben zu verlieren, gebracht. Denn für die Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ist auszugehen von dem Verhalten des Ehemannes der Klägerin. Je nachdem ob und in welcher Weise es nach damaligem deutschen Recht strafwürdig gewesen wäre, richtet sich, im Hinblick auf die von den Besatzungsgerichten verhängte Strafe und deren etwaiges grobes Mißverhältnis zu der von einem deutschen Gericht voraussichtlich ausgesprochenen Bestrafung, das Vorliegen einer besonderen Gefahr. Hierbei ist das deutsche Recht zugrunde zu legen, das spätestens zu dem Zeitpunkt gegolten hat, in dem das Besatzungsgericht sein Urteil gefällt hat. Verurteilung zum Tode und Vollstreckung des Urteils bilden für die Anwendung des BVG eine Einheit, weil durch das Urteil der Verlust des Lebens in solche Nähe gerückt worden ist, daß seine Vollstreckung nicht als eine neue selbständige Bedingung für den Eintritt des Todes angesehen werden kann. Demgemäß muß unberücksichtigt bleiben, wenn nachträglich kraft deutschen Gesetzes diese Strafe in lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt worden wäre. Auch in diesen Fällen bleibt - ähnlich wie in denen der oben erwähnten Begnadigung - der Unrechtsgehalt der begangenen Straftaten erhalten und ist für die Strafvollstreckung maßgebend.
Das Berufungsgericht hat also die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG unrichtig angewandt, wenn es das strafwürdige Verhalten des Ehemannes der Klägerin nicht ermittelt, sondern es lediglich auf die Tatsache der Vollstreckung der vom Besatzungsgericht verhängten Todesstrafe nach dem Inkrafttreten des GG abgestellt hat. Das angefochtene Urteil war demgemäß aufzuheben. Über das nach deutschem Recht strafwürdige Verhalten des Ehemannes der Klägerin liegen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht vor. Dem Senat ist es verwehrt, selbst Feststellungen zu treffen. Deshalb konnte er in der Sache nicht selbst entscheiden, sondern mußte den Streitfall - wie geschehen - an das LSG zurückverweisen. Dieses wird nunmehr das strafwürdige Verhalten des Ehemannes der Klägerin zu ermitteln haben. Bei der strafrechtlichen Beurteilung kann vielleicht das von der Klägerin zitierte Urteil des Bundesgerichtshofes vom 14. Januar 1964 - abgedruckt in NJW, 1964, 430 ff - belangvoll sein.
Die Entscheidung über die Kosten auch des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1 und 124 Abs. 2 SGG vorgelegen haben, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Fundstellen