Leitsatz (redaktionell)
An der Rechtsauffassung, daß bei einer Einreichung der Berufungsschrift beim SG auch ein fehlerhaftes Verhalten von Bediensteten dieses Gerichts für die Wiedereinsetzung rechtserheblich sein kann, wird festgehalten.
Normenkette
SGG § 151 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Der 11. Senat hält an der Rechtsauffassung fest, die er im Urteil vom 21. Oktober 1971 (11 RA 106/71) zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vertreten hat.
Tatbestand
Der 12. Senat hat am 10. Januar 1973 beim 11. Senat angefragt, ob er bei der im Urteil vom 21. Oktober 1971 niedergelegten Rechtsauffassung bleiben will. Am 30. Januar 1973 hat der 12. Senat die Rechtsfrage, die er anders entscheiden möchte, wie folgt formuliert: "Wird das für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) allein maßgebliche Verschulden des Berufungsklägers, der die Berufung durch Schreiben an das Sozialgericht (SG) eingelegt hat, dadurch beseitigt, daß Bedienstete dieser Dienststelle das Schreiben nicht auf dem schnellsten Wege an das Landessozialgericht (LSG) weitergeben?" Der Senat will diese Rechtsfrage offensichtlich verneinen.
Da der 11. Senat das Urteil vom 21. Oktober 1971 in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern gefällt hat, hat er über die Anfrage in gleicher Besetzung entschieden (BSG 34, 4, 2. Abs.).
Entscheidungsgründe
Bei der Beantwortung der Anfrage ist der 11. Senat davon ausgegangen, daß er im Urteil vom 21. Oktober 1971 die gestellte Rechtsfrage nicht bejaht hat. Das Urteil enthält weder wörtlich noch sinngemäß hierauf deutende Ausführungen.
Im Urteil vom 21. Oktober 1971 hat der 11. Senat zunächst dargelegt, daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin vorwerfbar falsch gehandelt hat, als er die Berufungsschrift beim SG abgab, und daß dieses fehlerhafte Verhalten eine Bedingung (conditio sine qua non) für die Nichteinhaltung der Berufungsfrist gewesen ist. Hieran anschließend heißt es in dem Urteil: "Wie der 2. Senat des BSG jedoch im Urteil vom 28. August 1968 (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) bereits dargelegt hat, schließt die Verschuldenshaftung im Rahmen des § 67 SGG nicht ein Einstehenmüssen für alle Folgen eines fehlerhaften Verhaltens ein; wer fehlerhaft handelt, muß den weiteren Geschehensablauf nur insoweit vertreten, als dieser voraussehbar und mit ihm zu rechnen war .... Ein sich dem fehlerhaften Verhalten ihres Prozeßbevollmächtigten anschließendes fehlerhaftes Verhalten des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim SG kann der Klägerin aber nicht mehr zugerechnet werden; sie hat es nicht zu vertreten, weil sie damit nicht zu rechnen brauchte."
Daraus ergibt sich nicht die Meinung, ein Verschulden des Berufungsklägers könne durch ein späteres Verhalten von Bediensteten des SG "beseitigt" werden. Eine solche Auffassung findet sich auch nicht in dem Urteil des 2. Senats, auf das sich der 11. Senat bezogen hat. Ebensowenig liegt sie dem Urteil des 10. Senats vom 22. September 1971 (10 RV 210/71) zugrunde, das in diesem Zusammenhang noch von Bedeutung ist.
In dem Urteil vom 21. Oktober 1971 hat der 11. Senat ferner nicht zum Ausdruck gebracht, daß Bedienstete des SG die dort eingehenden Berufungsschreiben "auf dem schnellsten Wege" an das LSG weitergeben müßten. Der 11. Senat brauchte sich nicht damit zu befassen, ob und innerhalb welcher Fristen das SG und seine Bediensteten verpflichtet sind, Postsachen auf die Zuständigkeit des SG zu prüfen und ob und innerhalb welcher Fristen sie die als Berufungsschriften erkannten Schreiben an das LSG weiterzugeben haben. Nach dem Sachverhalt, der dem Urteil vom 21. Oktober 1971 zugrunde lag, hatte sich der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des SG bereits entschlossen, ein als Berufungsschrift erkanntes Schreiben am Tage des Eingangs an das LSG weiterzugeben. Hieran knüpfte der 11. Senat folgende Ausführungen an: "Wenn er (der Urkundsbeamte) sich überhaupt zur Weiterleitung der Berufungsschrift noch am 5. November 1970 entschloß, dann mußte er in diesem Fall die Berufungsschrift - eventuell ohne Akten - als Brief weiterleiten, weil aus der Berufungsschrift wie auch aus den beigezogenen Akten des SG der Zustellungstag des SG-Urteils und infolgedessen der Ablauf der Berufungsfrist zum 9. November 1970 ohne weiteres zu erkennen war; da dann die Weiterleitung als Päckchen die Gefahr des Rechtsmittelverlustes in sich barg, mußte der Urkundsbeamte sich für die Weiterleitung der Berufung durch einfachen Brief entscheiden".
Hieraus läßt sich nicht entnehmen, der 11. Senat halte die Bediensteten des SG allgemein für verpflichtet, Berufungsschriften "auf dem schnellsten Wege" an das LSG weiterzugeben. Der 11. Senat folgt vielmehr Auffassungen, wie sie schon in dem (vom 12. Senat zitierten) Beschluß des 1. Senats vom 28. Januar 1956 (SozR Nr. 3 zu § 151 SGG) und ferner im Beschluß des 10. Senats vom 12. Februar 1964 (10/11 RV 1216/61) vertreten worden sind. Danach ist das SG nicht verpflichtet, "gegebenenfalls außerordentliche Maßnahmen zu treffen, um dadurch prozessuale Nachteile von dem Einsender abzuwehren". Der 11. Senat hat von dem SG keine außerordentlichen Maßnahmen verlangt. In dem Urteil vom 21. Oktober 1971 hatte sich der 11. Senat nur mit der konkreten Situation zu befassen, daß die Weiterleitung einer Berufungsschrift mit den Akten als Päckchen die Gefahr der Fristversäumung in sich barg. Nur hierauf bezogen hat der 11. Senat entschieden, daß der Urkundsbeamte sich in diesem Falle für die Weiterleitung als Brief entscheiden mußte. Das war im übrigen der einfachere Weg. Der Senat hat sich damit auf einer Linie gehalten, die auch die Rechtsprechung in Fragen der Auskunftserteilung vertritt. Es gibt Fälle, in denen eine Behörde eine Auskunft erteilt, obwohl sie dazu nicht verpflichtet ist. Gleichwohl erwartet die Rechtsprechung, daß sie diese richtig erteilt.
Der 11. Senat müßte nach alledem, wie der 12. Senat, die vorgelegte Rechtsfrage im Ergebnis verneinen.
Dennoch ist eine Divergenz zwischen den Auffassungen des 11. und des 12. Senats unverkennbar. Der 12. Senat hält das in der Einreichung der Berufungsschrift beim SG liegende Verschulden des Berufungsklägers für rechtlich "allein maßgeblich". Er ist offensichtlich der Auffassung (letzter Satz im Beschluß vom 30. Januar 1973), daß eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stets nur bei fehlendem eigenen Verschulden des Berufungsklägers gerechtfertigt ist. Damit ist der 12. Senat der Meinung, auf ein Verhalten anderer Stellen (Verwaltung oder Gerichte) könne es überhaupt nicht ankommen, die Wiedereinsetzung sei schon und immer dann zu versagen, wenn der Antragsteller schuldhaft eine Bedingung für die Nichteinhaltung der Frist gesetzt hat. Inwiefern hiervon eine Ausnahme gelten könnte, wenn der Berufungskläger die Berufungsschrift bei dem Verwaltungsträger eingereicht hat, läßt der 12. Senat nicht deutlich werden.
Nach der Rechtsauffassung des 11. Senats dagegen kann auch ein nachfolgendes Verhalten von Bediensteten des SG für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung rechtserheblich sein. Insoweit wird auf die Auszüge aus dem Urteil vom 21. Oktober 1971 verwiesen. Der 12. Senat divergiert hier aber auch mit den Auffassungen des 2. und des 10. Senats. Er müßte daher bei diesen Senaten ebenfalls anfragen, ob sie ihre Rechtsauffassung, die in ihren Fällen dahin ging, daß auch ein nachfolgendes Verhalten von Bediensteten des Verwaltungsträgers rechtserheblich sein könne, aufrechterhalten.
Der 11. Senat sieht keinen Anlaß, von der im Urteil vom 21. Oktober 1971 niedergelegten Rechtsauffassung abzugehen. Die gegenteilige Auffassung hat der 12. Senat nicht näher begründet. Er stützt sich offenbar auf den Wortlaut des Gesetzes (§ 67 SGG). Das Gesetz muß aber nicht in dieser Weise ausgelegt werden. Die Auslegung des 12. Senats hätte zur Folge, daß in Fällen, in denen die Berufungsschrift zu Beginn der Berufungsfrist beim SG eingeht, es völlig gleichgültig wäre, was das SG und seine Bediensteten mit der Berufungsschrift tun. Selbst wenn die Berufungsschrift bewußt zurückgehalten würde, um den rechtzeitigen Eingang beim LSG zu verhindern, könnte dem Berufungskläger keine Wiedereinsetzung gewährt werden. Ein solches Ergebnis läßt sich nach der Auffassung des 11. Senats nicht billigen (vgl. auch den vom OLG Köln in RzW 1969, 91 entschiedenen Fall). Insoweit kann auch nicht außer Betracht bleiben, daß die Berufungsschrift an ein Gericht gelangt, das bis dahin für die Sache zuständig war, das sich noch im Besitz der Akten des Rechtsstreits befindet, das für die Entgegennahme der Berufung zur Niederschrift zuständig wäre und in diesem Falle die Niederschrift unverzüglich dem LSG vorzulegen hätte. Ein solches SG kann nicht von jeglicher Fürsorgepflicht gegenüber einem Kläger, der seine Berufungsschrift bei ihm schriftlich eingereicht hat, frei sein.
Was im Einzelfall von den Bediensteten des SG vernünftigerweise zu erwarten ist, kann hier dahinstehen. Soweit erkennbar, hat der 12. Senat einen anderen Sachverhalt zu beurteilen, als er dem Urteil des 11. Senats vom 21. Oktober 1971 zugrunde lag.
Fundstellen