Verfahrensgang
LSG Bremen (Urteil vom 22.03.1979) |
SG Bremen (Urteil vom 27.06.1978) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 22. März 1979, das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 27. Juni 1978 und der Bescheid der Beklagten vom 4. Januar 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 1977 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt gewesen ist, gegenüber der Klägerin die Bestellung oder Benennung einer Fachkraft für Arbeitssicherheit anzuordnen.
Die Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Sie betreibt im Bundesgebiet in 21 räumlich und organisatorisch getrennt voneinander arbeitenden Betrieben den Großhandel mit Möbeln und anderen Waren. Jeder Betrieb ist einer Zweigniederlassung der Hauptniederlassung zugeordnet und als solcher in das Handelsregister des zuständigen Amtsgerichts eingetragen. Die Klägerin beschäftigt 861 Mitarbeiter, jedoch in keinem der Betriebe mehr als 240 Mitarbeiter. Ein Betriebsrat besteht nicht.
Die Vertreterversammlung der Beklagten beschloß am 18. September 1974 aufgrund des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG) vom 12. Dezember 1973 (BGBl I 1885) die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) genehmigte Unfallverhütungsvorschrift “Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit” -UVV- (Bundesanzeiger vom 16. November 1974, Ausgabe Nr 215 S. 187, Kennziffer 37068), die am 1. Dezember 1974 in Kraft trat (§ 6 UVV). Sie gilt für Unternehmer, die nach § 2 Sicherheitsingenieure oder andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu bestellen haben (§ 1). Nach § 2 Abs 1 UVV hat der Unternehmer Sicherheitsingenieure oder andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit zur Wahrnehmung der in § 6 des ASiG bezeichneten Aufgaben für die sich aus den Merkmalen der nachstehenden Tabelle ergebenden erforderlichen Einsatzzeiten schriftlich zu bestellen oder zu verpflichten. Die Tabelle enthält eine dreifache Unterteilung, nämlich nach Betriebsart (5 Gruppen), nach einer Zahl der durchschnittlich im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer (Eingangszahlen; Höchstzahlen) und nach darauf abgehobenen unterschiedlichen Einsatzzeiten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Stunden/Jahr Je Arbeitnehmer). Einzelheiten zur Anwendung der Tabelle sind im Anhang zur UVV enthalten (§ 2 Abs 1 letzter Satz UVV). Nach Anhang I ist die Klägerin aufgrund ihrer Betriebsart der Gruppe 4 der Tabelle zugeordnet, so daß bei 240 bis 960 Arbeitnehmern die Einsatzzeit der Fachkraft für Arbeitssicherheit 0,5 Stunden je Jahr und Arbeitnehmer beträgt. Nach Anhang II Abs 1 ist Betrieb im Sinne der Tabelle in § 2 Abs 1 das bei der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) versicherte Unternehmen. Daran schließen sich folgende Regelungen an: “Als Betrieb im Sinne der Tabelle gilt in der Regel auch ein Betriebsteil (Auslieferungsläger, Werkstätten, Niederlassungen oder sonstige Betriebsstätten), der räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist”. “In diesem Fall sind Einsatzzeiten für den Betriebsteil gesondert festzustellen” (aaO, Abs 2). “Erreicht in einem Betriebsteil nach Absatz 2 oder im Hauptbetrieb die Zahl der Beschäftigten die Eingangszahl der jeweiligen Gruppe nach der Tabelle nicht, bestimmt sich für alle Teile des Unternehmens die Einsatzzeit nach der Zahl der Beschäftigten des Unternehmens” (aaO, Abs 3). Bestimmend für die Gruppenzuordnung ist der Gewerbezweig, der der Veranlagung nach dem Gefahrenzweig zugrunde liegt. Besteht ein Betrieb aus mehreren·Teilen, so bestimmt sich die Gruppenzuordnung nach dem Gewerbezweig, in dem die überwiegende Zahl der durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer tätig ist (Anhang I letzter Absatz).
Da die Klägerin Anfang 1975 die Ansicht vertreten hatte, in keinem ihrer räumlich und organisatorisch getrennten 21 Betriebe beschäftige sie mehr als 240 Arbeitnehmer, weshalb sie keine Sicherheitsfachkraft zu bestellen brauche, gab ihr die Beklagte auf, unverzüglich eine solche Fachkraft zu bestellen oder zu benennen (Bescheid vom 4. Januar 1977). Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 1977; Urteile vom 27. Juni 1978 und 22. März 1979).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 708 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG Bremen und des SG Bremen und den Bescheid der Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Urteile der Vorinstanzen und der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sind aufzuheben.
Die Beklagte verlangt zu Unrecht von der Klägerin, eine Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sicherheitsingenieur, -techniker, -meister) aufgrund der Gesamtzahl aller 861 Beschäftigten in dem Hauptbetrieb und in den 21 Zweigniederlassungen zu bestellen oder zu benennen. Eine solche Pflicht trifft die Klägerin aufgrund der UVV, mit denen die Beklagte im angefochtenen Bescheid ihr Verlangen begründet, nicht.
An sich war der Sache nach der Technische Aufsichtsbeamte der Beklagten berechtigt, die streitige Anordnung zu erlassen. Dies folgt aus § 712 Abs 1 Satz 2 RVO (angefügt mit Wirkung ab 1. Januar 1975 durch Art 252 Nr 29 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch -StGB-- vom 2. März 1974 – BGBl I, 469), wonach die BGen durch technische Aufsichtsbeamte im Einzelfall Anordnungen zur Durchführung von Unfallverhütungsvorschriften oder zur Abwendung besonderer Unfall- oder Gesundheitsgefahren treffen können. Dazu hat er sich auf die UVV berufen.
Nach § 708 Abs 1 Nr 4 RVO in der seit dem 16. Dezember 1973 anzuwendenden Fassung (vgl § 21 Nr 1 ASiG) erlassen die BGen Vorschriften über die Maßnahmen, die der Unternehmer zur Erfüllung der sich aus dem ASiG ergebenden Pflichten zu treffen hat. Solche Vorschriften (UVV) nebst Anhang hat die Vertreterversammlung der Beklagten am 18. September 1974 beschlossen und gemäß § 708 Abs 2 RVO öffentlich bekannt gemacht (Bundesanzeiger vom 16. November 1974, aaO). Der BMA hat sie am 28. Oktober 1974 genehmigt (§ 709 RVO). Die am 1. Dezember 1974 in Kraft getretenen UVV regeln für Unternehmen der Gruppe 4 (Anhang I zu § 2 Abs 1 iVm Anhang II Abs 2 und 3 der UVV), in welchen Fällen die Einsatzzeiten für einen Betriebsteil gesondert festzustellen sind und sich diese nach der Zahl der Beschäftigten des Unternehmens bestimmen: “Erreicht in einem Betriebsteil nach Absatz 2 oder im Hauptbetrieb die Zahl der Beschäftigten die Eingangszahl der jeweiligen Gruppe nach der Tabelle nicht, bestimmt sich für alle Teile des Unternehmens die Einsatzzeit nach der Zahl der Beschäftigen des Unternehmens.”
Wenn auch diese Regelung § 4 des Betriebsverfassungsgesetzes vom 15. Januar 1972 (BGBl I, 13) nachgebildet ist, wonach Nebenbetriebe und Betriebsteile, die räumlich weit voneinander entfernt oder nach Aufgaben und Organisation eigenständig sind, als selbständige Betriebe gelten, steht sie dennoch mit der den UVV zugrunde liegenden gesetzlichen Ermächtigung des § 708 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO nicht im Einklang, ist daher rechtsunwirksam und nicht anzuwenden.
Dafür ist folgendes maßgebend: Das ASiG ergänzt durch die §§ 1, 5, 6 und 8 die Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß von UVV durch die Beklagte. Es beschränkt die Zahl der Beschäftigten innerhalb eines Betriebes nicht, so daß bereits von einem Beschäftigten an eine Fachkraft für Arbeitssicherheit bestellt werden könnte. Soweit die Beklagte in ihren UVV diese weite Ermächtigung einschränkt, hält sie sich im Rahmen der Ermächtigung durch § 708 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO und der Vorschriften des ASiG. Sie verwertet dabei ersichtlich ihre Sachkunde und ihre Erfahrung bei der Zusammenarbeit der für den Unfallschutz Verantwortlichen wie Unternehmer, Arbeitgeber, Sicherheitsbeauftragte, Betriebsärzte, technische Aufsichtsbeamte, Betriebsräte und zuständige Behörden (vgl §§ 712, 717, 719 RVO; §§ 1, 2, 5, 9, 10, 12 ASiG). Unterhalb der jeweiligen Eingangszahl hält es also die Beklagte für ausreichend, daß der Unternehmer grundsätzlich für die Betriebssicherheit seiner Beschäftigten vorrangig verantwortlich ist.
Wenn auch die Beklagte insoweit allgemein ermächtigt ist, UVV zu erlassen, deckt die genannte gesetzliche Ermächtigung die hier maßgebliche Regelung des Anhangs II Abs 3 nicht. Dort wird als die allein bestimmende Größe bei der Einsatzzeit für alle Teile des Unternehmens die “Zahl der Beschäftigten des Unternehmens” bezeichnet. Als Bezugsgröße wird in Anhang II Abs 1 das “versicherte Unternehmen” mit dem Betrieb im Sinne der Tabelle in § 2 Abs 1 gleichgesetzt. Nach Absatz 2 der Anlage II gilt als Betrieb im Sinne der Tabelle auch ein Betriebsteil, der entweder räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist. Den beiden Regelungen der Absätze 1 und 2 zu II des Anhangs ist also gemeinsam, daß sie auf die Bezugsgröße “Betrieb” abheben. Damit stehen sie im Einklang mit den Regelungen der §§ 1, 5 und 6 ASiG, die – wie oben ausgeführt – mit zur Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß von UVV gehören. Gemeinsam ist diesen Vorschriften wie überhaupt dem gesamten ASiG, daß dort Wortbildungen wie “Unternehmer” oder “Unternehmen” – mit Ausnahme von § 8 – nicht vorkommen” Vielmehr wird fast ausschließlich auf den “Betrieb” abgestellt. In den genannten Einzelvorschriften der §§ 1, 5, 6 ASiG tritt dies deutlich zutage: § 1 Nr 1 spricht von “besonderen Betriebsverhältnissen”, § 5 Abs 1 Nrn 1 und 3 von “Betriebsart” und “Betriebsorganisation”, § 6 von “Betriebsanlagen” (Nr 1 Buchst a; Nr 2), von der “Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsablaufs, der Arbeitsumgebung …” (Nr 1 Buchst d) sowie von Arbeitsstellen, die in regelmäßigen Abständen zu begehen sind (Nr 3 Buchst a). Nach § 8 Abs 2 ASiG untersteht eine Fachkraft für Arbeitssicherheit dem Leiter des Betriebes. Lediglich § 8 Abs 3 Satz 2 ASiG erwähnt alternativ das Unternehmen. Die somit fast allein mit der gesetzlichen Ermächtigung übereinstimmende Bezugsgröße “Betrieb” wird in Anlage II Abs 3 aufgegeben und durch die Bezugsgröße des “Unternehmens” ersetzt (vgl Anhang II Abs 1). Das ist ermächtigungswidrig. Damit werden Sinn und Zweck der aufgrund des § 708 Abs 1 Nr 4 RVO iVm den erlassenen Vorschriften des ASiG verkannt. Der Arbeitsschutz durch Unfallverhütung (§ 537 Nr 1 RVO) soll möglichst wirksam sein. Der Natur der Sache nach kann dies nur “vor Ort”, dh am Arbeitsplatz im Betrieb geschehen (vgl Spinnarke/Schork, ASiG, August 1979, § 1 Anm 5, 2.2, § 2 Anm 2.1). Dafür kommt es aber nicht auf das Unternehmen als wirtschaftliche und organisatorische Einheit an, es sei denn, daß Unternehmen und Betrieb identisch sind (Anlage II Abs 1).
Ferner ist folgendes zu bedenken: Die ermächtigungswidrige Regelung der Anlage II Abs 3 hätte zur Folge, daß Einzelbetriebe der Gruppe 4, die zugleich Unternehmen sind, aber die Eingangszahl von 240 Beschäftigten nicht erreichen, nicht verpflichtet wären, eine Fachkraft für Arbeitssicherheit zu bestellen, während ein Betrieb, der ebenfalls weniger als 240 Personen beschäftigt, aber einem Gesamtunternehmen zugeordnet ist, trotz der gleichen Unfallgefahren eine solche Fachkraft zu bestellen hätte. Dies wäre ein sachwidriges Ergebnis. Es beweist, daß das ASiG als Rahmengesetz nur mit einer UVV ausgefüllt werden kann, die ihre Maßstäbe aus dem Begriff des Betriebes entnimmt. Liegt die Beschäftigtenzahl in einem solchen Betrieb unter der Eingangszahl, besteht keine Pflicht zur Bestellung einer Fachkraft. Die ihr zukommenden Aufgaben sind dann von den übrigen Verantwortlichen des Betriebes zu übernehmen. Dies ist hier der Fall.
Etwas anderes ist auch nicht § 719 Abs 1 Satz 1 RVO zu entnehmen. Danach hat der Unternehmer in Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten einen oder mehrere Sicherheitsbeauftragte zu bestellen. Die Bestellung von Sicherheitsbeauftragten folgt anderen Regeln als der Erlaß von UVV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen