Entscheidungsstichwort (Thema)

Stützrente. Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. maßgebender Sach- und Rechtsstand

 

Orientierungssatz

1. Für eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) ist grundsätzlich der zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung bestehende Sach- und Rechtsstand maßgebend (vgl BSG vom 2.12.1975 1 RA 17/75 = BSGE 41, 38, 40 mwN).

2. Bei der Zusammenzählung der Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE nach § 581 Abs 3 RVO ist nicht der Hundertsatz, der früheren Entscheidungen zugrundeliegt, sondern der zur Zeit des Beginns der Unfallrente noch bestehende Grad der MdE zu berücksichtigen (vgl BSG vom 7.3.1969 2 RU 121/66 = SozR Nr 5 zu § 581).

3. Es nimmt regelmäßig nur bei der Bewilligung einer Verletztenrente der Jahresarbeitsverdienst und das Maß der MdE als unentbehrliche Grundlagen für die Rentenberechnung an der Bindung teil (vgl BSG vom 7.3.1969 aaO). Solche für eine Renten- und Leistungsberechnung unerläßlichen Berechnungsgrundlagen können aber jedenfalls dann grundsätzlich nicht zum Verfügungssatz des Bescheides gerechnet werden, wenn eine Leistung abgelehnt worden ist.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs 3 S 1; SGG § 54 Abs 1, § 77

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.11.1987; Aktenzeichen L 3 U 83/86)

SG Koblenz (Entscheidung vom 17.04.1986; Aktenzeichen S 5 U 122/85)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beklagten umstritten, dem Kläger eine sogenannte Stützrente (§ 581 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 15. Dezember 1983 zuzuerkennen.

Mit Bescheid vom 11. Oktober 1976 lehnte die Beklagte bei dem 1925 geborenen Kläger die Gewährung einer Rente wegen einer Berufskrankheit ab. Zur Begründung führte sie aus, die lärmbedingte leichtgradige Innenohrschwerhörigkeit beiderseits sei zwar eine Berufskrankheit, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage jedoch zur Zeit 15 vH. Ein 1980/81 durchgeführter Rechtsstreit auf Verletztenrente wegen Verschlimmerung der Lärmschwerhörigkeit blieb erfolglos (rechtskräftiges Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Rheinland-Pfalz vom 16. Juni 1982 - L 3 U 5/81 -). Ein erneutes diesbezügliches Streitverfahren ist seit 1987 beim Sozialgericht (SG) Koblenz anhängig (S 5 U 65/87).

Am 15. Dezember 1983 erlitt der Kläger als Versuchsmechaniker einen Arbeitsunfall, indem ihm beim Abwischen eines Bohrstücks mit der Hand Bohrspäne in den rechten Zeigefinger eindrangen. Auf der Grundlage eines Gutachtens des D-Arztes und behandelnden Chirurgen Dr. M     erkannte die Beklagte als Unfallfolgen an: "Leichte Durchblutungsstörung der Hand mit Verfärbung der Haut, Schwellneigung und Bewegungseinschränkung des Zeigefingers, Narbenbildung am Zeigefingerendgelenk sowie leichte Kalksalzminderung im Zeigefinger nach Stichverletzung des Zeigefingers"; sie gewährte dem Kläger eine vorläufige Rente nach einer MdE um 20 vH (Bescheid vom 27. Juni 1984).

Nach erneuter ärztlicher Überprüfung (Gutachten des Chirurgen Dr. M     vom 22. September 1984) und anschließender Anhörung des Klägers stellte die Beklagte die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats November 1984 ein und lehnte die Gewährung einer Dauerrente ab, weil die Erwerbsfähigkeit des Verletzten nicht mehr in rentenberechtigendem Grad gemindert sei (Bescheid vom 25. Oktober 1984).

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger vor dem SG Koblenz geltend gemacht, daß ihm auch mit einer unfallbedingten MdE von nur 10 vH nach § 581 Abs 3 RVO eine Rente zustehe, weil die Beklagte im Bescheid vom 11. Oktober 1976 eine diesen Anspruch stützende berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von 15 vH anerkannt habe. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. April 1986). Es hat, gestützt auf das im Verwaltungsverfahren eingeholte weitere Gutachten des behandelnden Chirurgen Dr. M     vom 22. September 1984 die Auffassung vertreten, daß die Folgen aus dem Unfall vom 15. Dezember 1983 nur noch mit einer MdE von 10 vH zu bewerten seien. Für die Zuerkennung einer Stützrente nach § 581 Abs 3 RVO fehle es an einer MdE von 10vH durch die berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit. Dies folge aus dem HNO-ärztlichen Gutachten von Prof. Dr. B      vom 29. Oktober 1985, wonach beim Kläger eine nicht lärmbedingte knapp mittelgradige Schwerhörigkeit vorliege.

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG den angefochtenen Bescheid vom 25. Oktober 1984 aufgehoben, soweit er die Zahlung von Dauerrente ablehnt (Urteil vom 11. November 1987). Es hat ferner die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Verletzungsfolgen am rechten Zeigefinger nach dem Arbeitsunfall ab 1. Dezember 1984 Dauerrente nach einer MdE um 10 vH zu gewähren. Im übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Dem Kläger stehe wegen der Verletzungsfolgen am rechten Zeigefinger eine Stützrente nach einer MdE um 10 vH (§ 581 Abs 3 RVO) zu. Die Beurteilung des Chirurgen Dr. M     in seinem Gutachten vom 22. September 1984 sei zutreffend. Der Senat finde keine überzeugenden Gründe, diesem Gutachten und den sich insoweit anschließenden Beteiligten mit dem Ergebnis zu widersprechen, daß dem Kläger nicht einmal für eine Übergangszeit bis zu einer abschließenden Beobachtung des Heilverlaufs eine MdE von noch 10 vH zuzubilligen sei. Hingegen könne eine unfallbedingte MdE des Klägers über November 1984 hinaus nicht länger in selbständig rentenberechtigender Höhe angenommen werden. Auch stehe dem Kläger der Anspruch auf eine stützende Rente von wenigstens 10 vH aufgrund seiner berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit zu, weil die Beklagte in dem Bescheid vom 11. Oktober 1976 eine MdE von mindestens in dieser Höhe anerkannt habe. Dieser Bescheid begnüge sich nämlich nicht mit der bloßen Erläuterung, daß die MdE einen rentenberechtigenden Grad von 20 vH nicht erreiche, sondern erkläre ohne Einschränkung, die durch die Berufskrankheit bedingte MdE betrage zur Zeit 15 vH. Das erzeuge Rechtswirkung nach außen. Da die Greifbarkeit der Lärmschwerhörigkeit praktisch erst bei 10vH beginne, umschließe der Bescheid - beabsichtigt oder unbeabsichtigt - die Feststellung einer MdE um 10 vH.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§77, 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- und des § 581 Abs 3 RVO. Das LSG sei ohne weitere Beweiserhebung auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. M vom 22. September 1984 davon ausgegangen, daß sowohl bei Erlaß des hier angefochtenen Verwaltungsaktes als auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine unfallbedingte MdE um 10 vH bestehe. Darin liege ein Verstoß gegen das Untersuchungsprinzip (§ 103 SGG). Es handele sich hier um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage; damit komme es auch auf den Zustand zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung (hier am 11. November 1987) an. Deshalb habe das LSG nicht ohne weitere Sachaufklärung davon ausgehen dürfen, daß die Folgen des Unfalls auch nach Ablauf von mehr als 3 Jahren nach diesem Gutachten noch eine MdE von mindestens 10 vH bedingten. Dies sei auch zwischen den Beteiligten nicht unstreitig gewesen; vielmehr habe sie - die Beklagte - unter dem 27. April 1987 vorgetragen, es sei schon fraglich, ob die von Dr. M     seinerzeit beschriebenen Befunde überhaupt eine MdE von 10 vH bedingten. Darüber hinaus habe das LSG rechtsfehlerhaft ein Anerkenntnis einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von 10 vH durch den Bescheid vom 11. Oktober 1976 angenommen. Denn eine Bindungswirkung trete nur hinsichtlich des Entscheidungssatzes ein, der hier ausschließlich in der Ablehnung einer Rente wegen Berufskrankheit bestehe. Die - im übrigen unzutreffende, wie sich aus weiteren eingeholten HNO-ärztlichen Gutachten ergebe - Begründung werde zwischen den Beteiligten nicht bindend. Diese Ausführungen dienten nur der Begründung der ablehnenden Entscheidung und sollten keine darüber hinausgehende, eigene Funktion haben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. November 1987 abzuändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 17. April 1986 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für eine Entscheidung über eine dem Kläger aus dem Unfall vom 15. Dezember 1983 zu gewährende Dauerrente nach einer MdE um 10vH in Form einer sogenannten Stützrente ab 1. Dezember 1984 hat das LSG keine ausreichenden Tatsachen festgestellt.

Nach § 581 Abs 3 Satz 1 RVO erhält ein Verletzter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle, als solcher gilt auch eine Berufskrankheit (§551 Abs 1 Satz 1 RVO), gemindert ist, für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall Verletztenrente, wenn die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zusammen wenigstens die Zahl Zwanzig erreichen. Die Folgen eines Arbeitsunfalls sind nach § 581 Abs 3 Satz 2 RVO nur dann zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vH mindern.

Das LSG hat angenommen, dem Kläger stehe wegen der Verletzungsfolgen am rechten Zeigefinger eine sogenannte Stützrente nach einer MdE um 10 vH zu (§ 581 Abs 3 RVO). Es hat sich dabei auf die Beurteilung im Gutachten des Chirurgen Dr. M   vom 22. September 1984 gestützt und ausgeführt, es fänden sich keine überzeugenden Gründe, diesem Gutachten mit dem Ergebnis zu widersprechen, daß dem Kläger nicht einmal für eine Übergangszeit bis zu einer abschließenden Beobachtung des Heilverlaufs eine MdE von noch 10 vH zuzubilligen sei. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

In Übereinstimmung mit den vom Kläger gestellten Anträgen handelt es sich hier um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG). Für solche Klagen ist grundsätzlich der zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung bestehende Sach- und Rechtsstand maßgebend (BSGE 41, 38, 40 mwN; 43, 1, 5; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 240 g; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl, § 54 RdNr 34). Wie die Beklagte zu Recht rügt, hat dies das LSG offensichtlich verkannt. Dementsprechend hat es auch die medizinische Aufklärung des Sachverhalts nicht hinreichend durchgeführt, sondern sich ausschließlich auf das Gutachten des Chirurgen Dr. M     vom 22. September 1984 gestützt. Diese Verfahrensweise ist nach Auffassung des Senats auch noch um so mehr zu beanstanden, als Dr. M     selbst eine abschließende Nachuntersuchung in zwei Jahren empfahl und eine weitere Besserung der durch den Unfall geminderten Erwerbsfähigkeit ausdrücklich bejahte. Aus diesem Grunde mußte das LSG die Überprüfung der Folgen des Unfalls vom 15. Dezember 1983 für den gesamten streitigen Zeitraum von Amts wegen veranlassen, weil es selbst die dafür erforderliche Sachkunde nicht besaß.

Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Durchführung dieser weiteren Sachaufklärung zu einem anderen Ergebnis in bezug auf die Stützrente wegen der Verletzungsfolgen am rechten Zeigefinger gelangt wäre, beruht das angefochtene Urteil auf der mit der Revision gerügten unzulänglichen Aufklärung des Sachverhalts. Die Sache war allein schon aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Ebensowenig wie der Senat diese tatsächlichen Feststellungen zum Umfang der Folgen des Unfalls vom 15. Dezember 1983 selbst treffen darf, konnte er auch die weiteren Ausführungen des LSG, daß die berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit mit einer anerkannten MdE von mindestens 10 vH die Rente aus dem Unfall vom 15. Dezember 1983 stütze, nicht als rechtlich zutreffend ansehen. Bei der Zusammenzählung der Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE nach § 581 Abs 3 RVO ist nicht der Hundertsatz, der früheren Entscheidungen zugrundeliegt, sondern der zur Zeit des Beginns der Unfallrente noch bestehende Grad der MdE zu berücksichtigen (RVA An 1939, 190; BSG SozR Nr5 zu § 581 RVO; Brackmann aaO S 571). Insoweit enthält das Urteil des LSG, wie bereits dargelegt, keine tatsächlichen Feststellungen. Im übrigen kann, wie die Revision auch in diesem Zusammenhang zu Recht rügt, aus dem Bescheid vom 11. Oktober 1976 keine Bindungswirkung (§ 77 SGG) hinsichtlich einer MdE abgeleitet werden. Die Gründe eines Bescheides sind für den Umfang der Bindung nur insoweit bedeutsam, als sie vom Verfügungssatz erfaßt werden (BSGE 14, 99, 102). Deshalb nimmt regelmäßig nur bei der Bewilligung einer Verletztenrente der Jahresarbeitsverdienst und das Maß der MdE als unentbehrliche Grundlagen für die Rentenberechnung an der Bindung teil (BSG SozR Nr 5 zu § 581 RVO). Solche für eine Renten- und Leistungsberechnung unerläßliche Berechnungsgrundlagen können aber jedenfalls dann grundsätzlich nicht zum Verfügungssatz des Bescheides gerechnet werden, wenn eine Leistung abgelehnt worden ist (BSGE 37, 177, 180; BSG SozR aaO; vgl auch Brackmann aaO S 232 a III/IV und 569 c/d). Ob, wie das LSG meint, eine lärmbedingte Schwerhörigkeit erst bei einer dadurch bedingten MdE um 10 vH "greifbar" sei, kann aus den oben ausgeführten Gründen und auch deshalb dahinstehen, weil jedenfalls daraus nicht geschlossen werden durfte, damit sei "beabsichtigt oder unbeabsichtigt" eine entsprechende MdE - stillschweigend - festgestellt.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659860

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