Leitsatz (amtlich)
1. Bei einem Streit um die Vormerkung einer Ausfallzeit ist lediglich zu prüfen, ob der Ausfallzeittatbestand nach seinen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllt ist (Fortentwicklung von BSG 1979-09-19 11 RA 92/78 = BSGE 49, 44 = SozR 2200 § 1259 Nr 44).
2. Beiträge, auch Pflichtbeiträge, schließen das Vorhandensein von Ausfallzeiten für die gleiche Zeit nicht schlechthin aus.
3. Der Ausfallzeittatbestand des § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG (= § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b RVO) setzt nicht voraus, daß während der Ausbildung kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis besteht; bei gleichzeitigem Beschäftigungsverhältnis ist er jedoch (nur) dann nicht erfüllt, wenn die Ausbildung Inhalt der in dem Beschäftigungsverhältnis bestehenden Arbeitspflicht ist (Fortentwicklung von BSG 1983-10-13 11 RA 80/82).
Normenkette
AVG § 32 Abs 7 S 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255 Abs 7 S 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 23.11.1982; Aktenzeichen L 6 An 1314/82) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 05.07.1982; Aktenzeichen S 5 An 1600/81) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer Ausfallzeit.
Der 1932 geborene Kläger war als Lehrling und Schlosser bei der Firma A., U. (A.),beschäftigt. Von Oktober 1954 bis Februar 1958 besuchte er die Städtische Ingenieurschule in M. und bestand dort die Abschlußprüfung. Während des Besuchs hat er ohne Arbeitsleistung weiterhin Zahlungen der Firma A. erhalten, von denen Beiträge zur Sozialversicherung abgeführt wurden. Anschließend war er als Versuchsingenieur bei einer anderen Firma beschäftigt.
Die Beklagte lehnte die Vormerkung der Studienzeit ab, da diese bereits mit Pflichtbeiträgen belegt sei (Bescheid vom 9. März 1981, Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1981).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, "die Zeit vom 1. Oktober 1954 bis zum 21. Februar 1958 als Ausfallzeit anzuerkennen" (Urteil vom 5. Juli 1982). Die Berufung der Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 23. November 1982). Nach der Ansicht des LSG setzt die Vormerkung der streitigen Zeit voraus, daß der allein in Frage kommende Ausfallzeittatbestand des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) erfüllt ist. Insoweit stehe zwar fest, daß der Kläger ein ordentliches Studium der Ingenieurwissenschaften absolviert und abgeschlossen habe; es sei jedoch zu beachten, daß bei der Anrechnung von Zeiten im Versicherungsfalle versicherungsrechtlich "stärkere" die zeitgleichen versicherungsrechtlich "schwächeren" verdrängten. Danach könne eine Pflichtbeitragszeit im Grundsatz nicht zugleich Ausfallzeit sein. Diese vom Großen Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelte Rechtsprechung (BSGE 41, 41, 51) gelte jedoch nicht ausnahmslos. Die im Grunde zwar erst für den Zeitpunkt des Versicherungsfalles bedeutsame Frage nach dem Vorliegen einer Ausnahme sei bereits im Vormerkungsverfahren zu prüfen, da sonst begrifflich keine Ausfallzeit angenommen werden könne. Eine Ausnahme greife - wie vom GS schon angedeutet - (ua) ein, wenn - wie im vorliegenden Fall - nur formal Pflichtbeiträge entrichtet worden seien. Ein wirkliches versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis habe der Beitragsentrichtung für den Kläger nicht zugrunde gelegen. Er sei während seiner Studienzeit für die Firma A. nicht tätig gewesen. Der Arbeitgeber möge zwar nach Ende des Studiums eine Rückkehr des Klägers erwartet haben; eine feste Vereinbarung habe jedoch nicht bestanden, der Kläger habe tatsächlich das Beschäftigungsverhältnis auch nicht fortgesetzt. Unerheblich sei, daß die entrichteten Pflichtbeiträge gemäß § 145 Abs 2 AVG nicht mehr beanstandet werden könnten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung der §§ 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b und 32 Abs 7 Satz 2 AVG. Das LSG habe verkannt, daß das ursprüngliche Beschäftigungsverhältnis schon wegen der weiteren Entgeltzahlung fortbestanden habe. Im übrigen schließe § 145 Abs 2 AVG auch die Verneinung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung aus.
Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er meint, ihm gehe es gegenwärtig nur um die Vormerkung als Ausfallzeit; ob die Ausfallzeit durch die zeitgleiche Beitragszeit verdrängt werde, sei im Rentenverfahren nach dem dann geltenden Recht zu entscheiden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.
Das LSG hat zu der vom SG ausgesprochenen Verurteilung der Beklagten bereits in seinen Entscheidungsgründen klargestellt, daß die Beklagte damit zur "Vormerkung" des Besuchs der Ingenieurschule als "Ausfallzeit" verpflichtet worden ist. Das entspricht dem Klageziel. Dem Kläger geht es nicht um die Anrechnung bei der späteren Rentenberechnung, sondern um die Feststellung, daß diese Zeit eine Ausfallzeit iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG darstellt, wie er im Revisionsverfahren nochmals hervorgehoben hat. Bei einem solchen Vormerkungsstreit ist lediglich zu prüfen, ob der behauptete Ausfallzeittatbestand nach seinen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllt ist (BSGE 31, 226, 230; 42, 159; 49, 44, 46); die Anrechenbarkeit der Zeit kann erst bei Eintritt des Versicherungsfalles abschließend beurteilt werden. Davon ist im Grundsatz auch das LSG ausgegangen.
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht das Vorliegen einer Ausfallzeit iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG bejaht. Der Gesetzeswortlaut verlangt dazu nicht mehr als eine "Schul-, Fachschul- oder Hochschulausbildung", die ohne Zweifel hier gegeben war. Insoweit unterscheidet sich die Nr 4 Buchst b von anderen Ausfallzeittatbeständen, die weitere Erfordernisse zur fehlenden Versicherungspflicht enthalten (Nrn 1 bis 4 Buchst a). So lassen zB Nr 1 die dort beschriebene Arbeitsunfähigkeit und Nr 3 die dort beschriebene Arbeitslosigkeit nicht genügen; die Arbeitsunfähigkeit und die Arbeitslosigkeit müssen vielmehr zusätzlich eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen haben. Daraus hat der GS des BSG zu Recht gefolgert, daß keine Ausfallzeit nach Nr 1 vorliegen kann, wenn für die fragliche Zeit Pflichtbeiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entrichtet worden sind (BSGE 41, 41, 48, 52; vgl auch zu Nr 3 BSGE 54, 125). Nach dem Tatbestand der Nr 4 Buchst b AVG kommt es demgegenüber nicht darauf an, daß zur gleichen Zeit keine versicherungspflichtige Beschäftigung (Tätigkeit) verrichtet worden ist.
Nach der Meinung des LSG soll eine Pflichtbeitragszeit gleichwohl, wenn auch nur im Grundsatz, nicht zugleich Ausfallzeit sein können; das eine schließe das andere aus. Es folgt dies aus dem Sinn und Zweck der Ausfallzeiten, fehlende Pflichtbeiträge auszugleichen, sowie der zwischen den versicherungsrechtlich relevanten Zeiten bestehenden Rangfolge, wonach im Versicherungsfall die "stärkeren" die "schwächeren" verdrängen. Das LSG hat sich hierzu auf die Entscheidung des GS des BSG berufen, die die Auslegung des § 1259 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (= § 36 Abs 1 Nr 1 AVG) betraf; dort ist ebenfalls von dem Grundsatz des Vorrangs der Beitragszeiten vor den Ausfallzeiten sowie der Logik von Begriff und Funktion der Ausfallzeit die Rede, die bei fehlendem Ausfall von Beiträgen für die Anwendung des Rechtsbegriffs "Ausfallzeit" keinen Raum lasse (BSGE 41, 41, 50).
Soweit mit diesen Ausführungen gesagt sein sollte, Ausfallzeit könne ungeachtet des jeweils gesetzlich formulierten Ausfallzeittatbestandes keine Zeit sein, die zugleich eine Beitragszeit oder wenigstens eine Pflichtbeitragszeit oder immerhin eine auf versicherungspflichtiger Beschäftigung (Tätigkeit) beruhende Pflichtbeitragszeit sei, vermag der erkennende Senat dem nicht zu folgen. Eine Rangfolge (Priorität) von Zeitarten bedeutet nicht, daß eine Zeit schon ihrem Charakter nach nur eine Zeitart iS der versicherungsrechtlich "stärkeren" Zeitart darstellen kann; die Rangfolge vermag sich vielmehr erst bei weiteren Rechtsfolgen (zB der späteren Rentenberechnung) auszuwirken; erst dort kann sie zur "Verdrängung" der schwächeren Zeitart durch die stärkere, dh zur alsdann alleinigen Berücksichtigung der stärkeren Zeitart führen. Auch von der Funktion der Ausfallzeiten her müssen Beiträge bzw Pflichtbeiträge eine Ausfallzeit nicht schlechthin ausschließen, weil es zB durchaus denkbar ist, daß ohne den Ausfallzeittatbestand andere bzw höhere Beiträge entrichtet worden wären.
Nichts anderes ergibt sich aus den einzelnen gesetzlichen Regelungen zu den Ausfallzeiten; das belegen abgesehen von dem Wortlaut des § 36 Abs 1 AVG schon die §§ 35 Abs 1 und 32 Abs 7 Satz 2 AVG. So werden nach § 35 Abs 1 bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten (dh Beitrags- und Ersatzzeiten), die Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit zusammengerechnet, "soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen"; nach § 32 Abs 7 Satz 2 bleiben bei der Anwendung der Abs 1 und 3 (dh bei der Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage) die "während einer anzurechnenden Ausfall- oder Zurechnungszeit entrichteten Beiträge unberücksichtigt". Hiernach geht der Gesetzgeber offensichtlich davon aus, daß eine Zeit ihrem Charakter nach sowohl eine Beitragszeit als auch eine Ausfallzeit sein kann. Das nimmt der GS des BSG jedenfalls (aa0 S 56) für die Ausfallzeiten der Nrn 5 und 6 des § 1259 Abs 1 RVO (= § 36 Abs 1 AVG) ebenfalls an.
Der begehrten Vormerkung als Ausfallzeit kann die Beklagte ebensowenig entgegenhalten, bei der von ihr für richtig erachteten Auslegung insbesondere des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG könne die streitige Zeit schlechthin nur als Beitragszeit Bedeutung gewinnen. Der Senat braucht nicht zu prüfen, ob die Zeit des Besuchs der Ingenieurschule nach der gegenwärtigen Rechtslage in keiner Beziehung als Ausfallzeit Rechtswirkungen auslösen könnte; dazu wäre ggf noch - was aber nicht Aufgabe des Vormerkungsverfahrens sein kann - auf weitere Bestimmungen einzugehen, bei denen Ausfallzeiten eine Rolle spielen (so zB die §§ 23 Abs 2a, 28 Abs 2 Satz 2 Buchst c, 36 Abs 3, 37 c AVG). Selbst wenn derzeit jegliche versicherungsrechtliche Auswirkung als Ausfallzeit zu verneinen wäre, könnte das dennoch nicht die "Vormerkung" als Ausfallzeit für spätere Leistungsfälle hindern, weil sich bis dahin die Rechtslage ändern kann (vgl SozR 2200 § 1251 Nr 8); so könnte sich zB der Gesetzgeber im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Februar 1983 (BVerfGE 63, 119 = SozR 2200 § 1255 Nr 17) schon demnächst zu einer Änderung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG veranlaßt sehen. Gerade aber für den zukünftigen Leistungsfall das Vorhandensein von Ausfallzeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorabzuklären, ist der Sinn der Vormerkung solcher Zeiten durch den Versicherungsträger.
Sonach bleibt es dabei, daß der Kläger ein Recht auf die Vormerkung des Schulbesuchs als Ausfallzeit hat, wenn der Tatbestand des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG erfüllt ist. Dabei sind allerdings die Erfordernisse mit zu beachten, die die Rechtsprechung in Auslegung des Gesetzes entwickelt hat. Zu denken ist insoweit an das Urteil des Senats vom 13. Oktober 1983 - 11 RA 80/82 -; der Senat hat dort für die Zeit einer Ausbildung im Rahmen eines militärischen Dienstverhältnisses eine Ausfallzeit iS von § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG verneint, weil Ausbildungszeiten, die innerhalb eines zumindest an sich versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zurückgelegt werden, keine Ausfallzeiten sein können. Dazu ist jedoch Voraussetzung, daß der Schulbesuch - wie im dort entschiedenen Fall - im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses (Dienstverhältnisses) Inhalt der Arbeitspflicht ist. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt traf das auf den Besuch der Städtischen Ingenieurschule in M. durch den Kläger nicht zu; insoweit kann sich auch nichts Gegenteiliges aus § 145 Abs 2 AVG ergeben. Bei einem bloßen Nebeneinander von Ausbildungszeit und Beschäftigungsverhältnis ist aber eine Ausbildungsausfallzeit nicht ausgeschlossen.
Der Senat hat keinen Anlaß gesehen, den Rechtsstreit an das LSG nur deshalb zurückzuverweisen, weil noch zweifelhaft sein könnte, ob es sich bei dem Besuch der Ingenieurschule, wie das LSG offenbar angenommen hat, um eine Hochschulausbildung oder ob es sich lediglich um eine Fachschulausbildung gehandelt hat, was die Vorinstanzen bei der Verurteilung der Beklagten im Tenor hätten verdeutlichen müssen; dies kann der Beklagten in dem nun von ihr zu erlassenden Vormerkungsbescheid überlassen bleiben.
Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 193 Sozialgerichtsgesetz zurückzuweisen.
Fundstellen