Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 28.01.1994) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1994 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Kindergeld für seine Tochter U. … während ihres Promotionsstudiums auch über den 31. Juli 1990 hinaus.
U. … legte im Juli 1989 die letzte Teilprüfung des Hochschulexamens für den Fachbereich Chemie erfolgreich ab; ihr Berufsziel ist nach Angaben des Klägers die Tätigkeit einer Hochschul- oder Fachhochschul-Dozentin für Chemie. Aufgrund ihrer Heirat im Juli 1991 begehrt der Kläger die Fortsetzung der Kindergeldzahlung lediglich bis zu diesem Monat.
Mit Bescheid vom 23. Juli 1990 stellte der Beklagte die Zahlung des Kindergeldes für U. … mit Ablauf des Monats Juli 1990 mit der Begründung ein, daß die Vorbereitung auf die Promotion nur dann als Ausbildung anzusehen sei, wenn diese das Studium anstelle eines Diplom- oder Staatsexamens abschließen solle. Bereits für die Zeit von April bis Juli 1990 habe Kindergeld nicht zugestanden; aus rechtlichen Gründen (Vertrauensschutz) werde jedoch auf eine Rückforderung verzichtet.
Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat in seinem Urteil vom 29. Januar 1992 einen Anspruch auf Ausbildungskindergeld während eines Promotionsstudiums verneint. Der angefochtene Bescheid verstoße auch nicht gegen § 45 des Sozialgesetzbuches – Zehntes Buch (SGB X). Ein Vertrauenstatbestand liege nicht vor. Es sei nicht erkennbar, daß der Kläger im Hinblick auf die zu erwartenden Kindergeldzahlungen Vermögensdispositionen getroffen habe, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen könne. Das Vertrauen des Klägers darauf, er könne das einmal bewilligte Kindergeld bis auf weiteres erhalten, müsse bei einer Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft aus Gründen der Gleichbehandlung aller Kindergeldberechtigten nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie der notwendigen Sparsamkeit und Einschränkung der Mittel der öffentlichen Verwaltung zurücktreten. Die Beklagte habe zwar nicht das ihr für eine Rücknahme eingeräumte Ermessen ausgeübt; dieses sei hier jedoch auf Null reduziert, denn außer den Gründen, die bereits bei der Abwägung zum Vertrauensschutz berücksichtigt worden seien, seien keine Gesichtspunkte erkennbar, die bei einer Ermessensausübung eine Rolle spielen könnten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die vom SG zugelassene Berufung mit Urteil vom 28. Januar 1994 zurückgewiesen. Die Tochter des Klägers habe sich während ihres Promotionsstudiums nicht mehr in einer Schul- oder Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) befunden. Die Kindergeldzahlung sei auf die übliche Grundstufe einer Berufsausbildung beschränkt.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt die Verletzung des § 2 Abs 2 Satz 1 BKGG. Auch ein Promotionsstudium stelle eine Berufsausbildung dar, denn die Promotion sei für den angestrebten Beruf eines Hochschullehrers zumindest in einem Bundesland verbindlich vorgeschrieben (Hinweis auf Igl, Kindergeld und Erziehungsgeld, S 34 unten).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 29. Januar 1992 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 23. Juli 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1990 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für seine Tochter U. … auch für die Zeit vom 1. August 1990 bis 31. Juli 1991 Kindergeld zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision vom 4. Juli 1994 gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1994 zurückzuweisen.
Der Senat hat die Beteiligten auf seine Urteile vom 27. September 1994 – 10 RKg 1/93 sowie 10 RKg 3/94 – hingewiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Zwar steht dem Kläger Kindergeld für die streitige Zeit des Promotionsstudiums seiner Tochter U. … nicht bereits nach materiellem Recht (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG: Ausbildungskindergeld) zu (1); er könnte jedoch aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Gründen Anspruch auf die Weiterzahlung des Kindergeldes über den 31. Juli 1990 hinaus haben (2).
(zu 1) Der Senat hält an der in seinen Urteilen vom 27. September 1994 (10 RKg 1/93 und 10 RKg 3/94) vertretenen Auffassung fest, daß das Promotionsstudium grundsätzlich keine Ausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG darstellt, da es in der Regel die hierfür von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl zu einer möglichen Ausnahme – „Forschungsstudium” nach den Bestimmungen der DDR – das Urteil des Senats vom 27. September 1994 – 10 RKg 21/92 –).
Dafür, daß im Falle der Tochter des Klägers eine Ausnahme hiervon gelten sollte, ist nichts ersichtlich. Auch für sie handelte es sich bei der Promotion nicht um die erste Abschlußprüfung ihres Hochschulstudiums. Es ist weiterhin nichts dafür ersichtlich, daß sich der erforderliche Ausbildungscharakter aus der für die Tochter des Klägers einschlägigen Promotionsordnung ergeben könnte. Bereits in seinen zitierten Urteilen hat der Senat darauf hingewiesen, daß nach § 10 Abs 5 Satz 3 Hochschulrahmengesetz (HRG) für die Zulassung zur Promotion ein Zusatz-, Ergänzungs- oder Aufbaustudium nicht verlangt werden darf. Schließlich ergibt sich weder aus den Feststellungen des LSG noch aus denen des SG, daß die Tochter des Klägers während ihres Promotionsstudiums im Sinne der Ausführungen in den genannten Urteilen des Senats tatsächlich in einem echten Ausbildungsverhältnis stand. Die entsprechenden Voraussetzungen hat bereits das erstinstanzliche Urteil verneint, ohne daß sich der Kläger im Berufungsverfahren hiergegen gewendet hätte. Soweit der Kläger die Wertung der Promotionszeit als Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG daraus ableiten will, daß die Promotion für den angestrebten Beruf als Hochschullehrerin bzw für die weitere Berufsausbildung (Habilitation) verbindlich vorgeschrieben sei, so übersieht er, daß nicht jede Zugangsvoraussetzung für einen bestimmten Beruf auch als Ausbildung angesehen werden kann, wenn es an einem echten Ausbildungsverhältnis fehlt.
(zu 2) Nach dem Inhalt der angefochtenen Bescheide ebenso wie nach dem Urteil des SG (das LSG hat hierzu keine eigenen Feststellungen getroffen) hat der Beklagte dem Kläger Kindergeld auch während des Promotionsstudiums seiner Tochter – zumindest ab April 1990 – gewährt, diese Zahlung jedoch mit den angefochtenen Bescheiden eingestellt, gleichzeitig aber auf eine Rückforderung verzichtet. Hierin könnte, wovon das SG ausgegangen ist (das Berufungsurteil geht hierauf nicht ein), ein Bescheid nach § 45 SGB X über die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft liegen. Ein solcher setzt nach § 45 Abs 2 SGB X voraus, wie das SG zu Recht erkannt hat, daß dem durch den Bescheid Begünstigten (hier dem Kläger) kein schutzwürdiges Vertrauen zusteht sowie daß der Beklagte das ihm nach § 45 Abs 1 SGB X zustehende Ermessen richtig ausgeübt hat. Die Fristen nach § 45 Abs 3 SGB X spielen im Kindergeldrecht keine Rolle (§ 20 Abs 4 BKGG).
Zu den genannten Voraussetzungen fehlen jegliche Feststellungen des LSG. Soweit das SG von vornherein einen Vertrauensschutz des Klägers verneint und eine Ermessensschrumpfung des Beklagten auf Null angenommen hat, kann dem in dieser Form nicht gefolgt werden. Denn dann bestünde stets eine Pflicht der Verwaltung, einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, wenn der Begünstigte keine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Dies wäre jedoch bereits mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbar. In § 45 Abs 2 Satz 2 SGB X sind nicht zumutbar rückgängig zu machende Vermögensdispositionen lediglich als Regeltatbestand eines schutzwürdigen Vertrauens genannt. Ein solches kann jedoch auch dann bestehen, wenn derartige Dispositionen nicht vorliegen. Im übrigen steht die Rücknahme gerade dann im Ermessen der Beklagten, wenn dem Betroffenen ein schutzwürdiges Vertrauen nicht zur Seite steht; denn anderenfalls scheidet die Rücknahme von vornherein aus. Eine Ermessensschrumpfung auf Null zuungunsten des Betroffenen ist vom Bundessozialgericht (BSG) – außerhalb des Rechts der Sozialen Entschädigung -bisher lediglich für Fälle hochgradiger Bösgläubigkeit diskutiert worden (vgl das Urteil des 8. Senats des BSG vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –, dort auch zum Urteil des 4. Senats des BSG vom 25. Januar 1994, SozR 3-1300 § 50 Nr 16).
Schließlich bleibt angesichts der tatsächlichen Feststellungen des LSG denkbar, daß der angefochtene Bescheid nicht nach § 45, sondern nach § 48 Abs 1 SGB X zu prüfen ist. Dies wäre dann der Fall, wenn der Kläger Kindergeld ununterbrochen seit dem Zeitraum bezogen hätte, bevor U. … ihre Diplomprüfung abgeschlossen hatte und die Kindergeldbewilligung auch nicht zwischenzeitlich auf eine neue Grundlage gestellt worden wäre. Dann läge in der Ablegung der Diplomprüfung die nach § 48 Abs 1 SGB X erforderliche Änderung, die als Rechtsgrundlage auch für eine Aufhebung der Kindergeldbewilligung zu einem späteren Zeitpunkt dienen könnte. Jedenfalls eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft wäre dann ohne weiteres möglich. Anders wäre die Sachlage jedoch, wenn (worauf die angefochtenen Bescheide hindeuten) dem Kläger ab April 1990 Kindergeld neu – dh nach einer vorübergehenden Leistungseinstellung – bewilligt worden wäre. Dann wäre der angefochtene Bescheid in der Tat an § 45 SGB X zu messen (zu den Prüfungsschritten bei Anwendung von § 45 oder § 48 Abs 1 SGB X s auch das Urteil des Senats vom 22. März 1995 – 10 RKg 10/89 –).
Das LSG wird die fehlenden Feststellungen nachzuholen und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen