Orientierungssatz
Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes beim Fahren eines Kraftfahrzeuges ohne Führerschein (vergleiche auch BSG 1966-08-24 2 RU 176/65 = BSGE 25, 161).
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Dezember 1962, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 29. Mai 1958 und der Bescheid der Beklagten vom 24. November 1955 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Beigeladenen wegen der Folgen des Unfalls vom 18. Juni 1955 Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beigeladene am 18. Juni 1955 einen Arbeitsunfall (Wegeunfall) erlitten und wegen der Folgen dieses Unfalls Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung gegen die Beklagte hat.
Der Beigeladene war im Jahre 1955 als Gedingeschlepper auf der Schachtanlage "Minister Stein" der Dortmunder Bergbau-Aktiengesellschaft beschäftigt. Am Unfalltage befand er sich mit seinem neuen Motorrad auf dem Wege von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstätte, der Zeche "Minister Stein", um seine Arbeit aufzunehmen. Seine Schichtzeit begann um 15.30 Uhr. Gegen 14.40 Uhr hatte er seine Wohnung verlassen. Der Unfall ereignete sich um 14.50 Uhr in Dortmund-Eving auf der Bayrischen Straße. Auf dem Soziussitz befand sich der Bergmann Klaus H, den der Kläger unterwegs aufgefordert hatte mitzufahren, um ihm sein neues Motorrad zu zeigen. Auf der Bayrischen Straße wollte der Beigeladene mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 - 60 km/Std. ein Dreirad überholen. Das Dreirad schwenkte jedoch den linken Winker heraus - was der Beigeladene nicht bemerkte -, fuhr zur Straßenmitte und dann weiter nach links, um in die Toreinfahrt eines Grundstücks einzubiegen. Der Beigeladene konnte sein Motorrad nicht schnell genug anhalten, fuhr gegen die linke Seite des Dreirads und wurde dann gegen einen Straßenbaum geschleudert. Der Beigeladene hatte eine Fahrschule besucht und sollte am 22. Juni 1955 seine Fahrprüfung ablegen, hat diese jedoch nicht bestanden. Er zog sich einen Unterschenkelbruch links zu und wurde vom 18. Juni 1955 bis 13. Juni 1955 im Städtischen Unfall-Krankenhaus in Dortmund stationär behandelt.
Durch Bescheid vom 24. November 1955 lehnte die Beklagte Rentenansprüche des Beigeladenen ab und führte in den Gründen aus, dieser sei nicht im Besitz eines Führerscheins für Krafträder gewesen. Dadurch habe er eine erhöhte Gefahr geschaffen und sich außerhalb des Versicherungsschutzes gestellt. Die Klägerin, bei welcher der Beigeladene gegen Krankheit versichert war und die die entstandenen Krankenhauskosten ausgelegt hatte, hat gegen diesen Bescheid am 22. Dezember 1955 Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 29. Mai 1958 abgewiesen.
Das Berufungsgericht hat die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung der Klägerin durch Urteil vom 18. Dezember 1962 zurückgewiesen und hat die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt, daß der für die Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung erforderliche innerursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis nicht gegeben sei. Ein Arbeitnehmer, der im öffentlichen Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führe, ohne im Besitz der hierzu erforderlichen Fahrerlaubnis durch die zuständige Straßenverkehrsbehörde zu sein und ohne den Nachweis seiner Befähigung zum Führen eines Kraftfahrzeuges durch eine erfolgreich bestandene Fahrprüfung erbracht zu haben, sei einem im Zustand des Vollrausches befindlichen und deshalb arbeitsunfähigen Arbeitnehmer rechtlich gleichzustellen. Denn bei einem solchen Versicherten könne nach der Erfahrung des täglichen Lebens von einer zweckgerichteten Arbeit- hier dem Zurücklegen des Weges zur Arbeit - keine Rede sein. Denn er könne sich im öffentlichen Verkehr überhaupt nicht ordnungsgemäß und sicher bewegen. Ein Versicherungsschutz bestehe daher nicht.
Aber auch dann, wenn man sich dieser Auffassung nicht anschließe, müsse zumindest absolute Fahruntüchtigkeit infolge fehlender Fahrerlaubnis angenommen werden. Ein Versicherungsschutz könne daher nicht bejaht werden, weil die fehlende Fahrerlaubnis für den Eintritt des Unfalls als die einzige rechtlich erhebliche Ursache im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung herrschenden Kausallehre anzusehen sei. Ein Versicherter, der im Besitze der Fahrerlaubnis gewesen wäre und dadurch den Nachweis erbracht hätte, daß er sich ordnungsgemäß im Verkehr bewegen könne, wäre bei gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt. Der Beigeladene habe grob fahrlässig gehandelt, wenn er versucht habe, bei einer eigenen Geschwindigkeit von 60 km/Std. einen solchen Lieferwagen links zu überholen, anstatt rechts an ihm vorbeizufahren.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des § 543 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht. Sie ist der Auffassung, daß es nicht gerechtfertigt sei, einen Kraftfahrer, der sich zwar entgegen den Straßenverkehrsvorschriften mit einem Fahrzeug im Verkehr bewege, aber immerhin in der Lage sei, das Fahrzeug einigermaßen ordnungsgemäß zu führen, einem im Zustand des Vollrausches befindlichen und deshalb arbeitsunfähigen Versicherten rechtlich gleichzustellen.
Werte man die fehlende Fahrerlaubnis aber als eine Mitverursachung des Unfalls, so sei sie bei der gegebenen Verkehrssituation jedenfalls nicht die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls. Vielmehr habe die Fahrweise des anderen Kraftfahrers in einem Maße am Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt, daß selbst eine mangelnde Verkehrstüchtigkeit des Beigeladenen nicht als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls angesehen werden könne. Der andere Kraftfahrer habe sich bei dem Einbiegen in das Grundstück nicht so verhalten, daß eine Gefährdung des Straßenverkehrs - und hier insbesondere des Beigeladenen - ausgeschlossen worden sei.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Dezember 1962 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 29. Mai 1958 aufzuheben:
2. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. November 1955 zu verurteilen, dem Beigeladenen wegen der Folgen des Wegeunfalles vom 18. Juni 1955 eine Entschädigung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Beigeladene habe den Unfall durch eine selbstgeschaffene Gefahr verursacht, weil er ohne Führerschein gefahren sei. Der Zusammenhang mit dem Betrieb sei im Augenblick des Unfalls gelöst gewesen, das Fahren ohne Führerschein sei die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen. Sie meint, daß der angefochtene Bescheid auch eine Versagung der Entschädigung auf Grund des § 557 Abs. 1 RVO aF enthalte. Vorsorglich versage sie hiermit die Rente auf Grund dieser Vorschrift.
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet.
Der Beigeladene stand, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts, im Zeitpunkt des am 18. Juni 1955 mit seinem Motorrad erlittenen Unfalls nach § 543 Abs. 1 RVO aF unter Versicherungsschutz. Wie das Berufungsgericht unangefochten und daher für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat, befand sich der Beigeladene in diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte, der Zeche "Minister Stein" in Dortmund-Eving. Dieser Weg stand im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Beigeladenen auf der Zeche, weil er dort seine Mittagsschicht verfahren wollte.
Der Beigeladene war nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts zur Zeit des Unfalls nicht Inhaber eines Führerscheins, durfte also sein Motorrad nicht benutzen. Dieses verkehrswidrige Handeln schließt jedoch nach § 542 Abs. 2 RVO aF die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war auch durch das Fahren ohne Führerschein der Zusammenhang mit der Arbeitsstätte nicht gelöst. Es geht nicht an, den Kraftfahrer ohne Führerschein, wie das Berufungsgericht meint, ähnlich zu behandeln wie einen Volltrunkenen. Nicht das Fahren ohne Führerschein, sondern allenfalls das völlige Unvermögen, sich zweckgerichtet in Richtung auf die Arbeitsstätte zu bewegen, könnte vielleicht zu einer Lösung vom Betrieb in dem vom Berufungsgericht in Erwägung gezogenen Sinn führen. Diese Voraussetzungen liegen aber jedenfalls im vorliegenden Fall, in welchem der Beigeladene nicht ohne jede Fahrkenntnis und Fahrerfahrung sein Motorrad benutzt hat, nicht vor. Ob man vermuten kann, daß ein Kraftfahrer ohne Führerschein keine ausreichenden Fahrkenntnisse und Fahrerfahrungen besitzt, und ob man in einem solchen Fall, wie das Berufungsgericht hilfsweise meint, den Grundsatz über die absolute Fahruntüchtigkeit in Trunkenheitsfällen entsprechend anwenden muß, kann dahinstehen. Denn im vorliegenden Fall kann auch dieser Grundsatz nicht zu einem Ausschluß der Entschädigungspflicht führen. Selbst eine - vermutete - Fahruntüchtigkeit könnte nicht als rechtlich wesentliche Teilursache des Unfalls angesehen werden. Die ohnehin beim Zurücklegen des Weges des Beigeladenen zur Arbeitsstätte vorhandenen Gefahren des Straßenverkehrs sind in ihrer Bedeutung nicht derartig in den Hintergrund getreten, daß sie als unbedeutend angesehen werden könnten. Denn der Unfall hätte auch einem Kraftfahrer mit Führerschein und ausreichenden Fahrkenntnissen und Fahrerfahrungen zustoßen können. Wenn auch den Beigeladenen ein Verschulden an diesem Unfall trifft, weil er nicht erkannt hat, daß der Fahrer des Dreirads den linken Winker betätigt hat und nach links einbiegen wollte, so liegt doch auch ein Verschulden des Fahrers des Dreirades vor. Dieser hat sich, obwohl er nicht in eine Straße, sondern lediglich in eine private Toreinfahrt einbiegen wollte, zur Mitte der Straße eingeordnet und ist links in Richtung auf die Toreinfahrt eingebogen, ohne sich vorher genügend über die Verkehrslage hinter seinem Dreirad zu vergewissern.
Die Beklagte meint nun, der Beigeladene habe sich dadurch selbst in diese erhöhte Gefahr gebracht, daß er ohne Führerschein gefahren ist. Sie verkennt aber, daß der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich jedenfalls nicht deshalb entfällt, weil sich der Arbeitnehmer selbst in eine Gefahr gebracht hat. Nur die vorsätzliche Herbeiführung des Unfalls schließt die Entschädigung aus (§ 556 RVO aF). Außerdem kann in den in § 557 RVO aF aufgeführten Fällen die Entschädigung ganz oder teilweise versagt werden. Es geht aber nicht an, darüber hinaus noch andere Umstände für den Ausschluß der Entschädigungspflicht ins Feld zu führen. Nur dann, wenn der Versicherte andere Zwecke verfolgt hätte als den, die Arbeitsstätte zu erreichen, oder andere Zwecke so im Vordergrund gestanden hätten, daß das Sichfortbewegen zur Arbeitsstätte demgegenüber als unwesentlich anzusehen wäre, könnte der Unfallschutz entfallen. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Denn der Beigeladene befand sich auf dem Weg zur Arbeitsstätte, um seine Arbeit aufzunehmen und dies war der Hauptzweck, den er mit seinem Fahren auf dem Kraftrad verfolgte. Das ergibt sich aus den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist. Die Absicht, dem Zeugen H das neue Motorrad vorzuführen, hatte danach nur eine nebensächliche Bedeutung.
Die Beklagte nimmt an, der angefochtene Bescheid enthalte auch eine Entscheidung nach § 557 Abs. 1 RVO aF. Diese Ansicht ist nicht zutreffend. Abgesehen davon, daß dieser Bescheid keinen Hinweis auf diese Vorschrift enthält, wird der Anspruch in diesem Bescheid auch allein deshalb abgelehnt, weil der Beigeladene sich durch das Fahren mit einem Motorrad, ohne einen Führerschein zu besitzen, von dem Betrieb gelöst habe. Bei Zugrundelegung dieser Ansicht kam aber ein Versagen der Entschädigung aus den nach § 557 Abs. 1 RVO aF maßgebenden Gesichtspunkten für die Beklagte überhaupt nicht in Betracht. Bestätigt wird diese Ansicht zudem auch dadurch, daß die Rechtsmittelbelehrung nur einen Hinweis auf die Klage enthält, während dann, wenn eine Ermessensentscheidung nach § 557 Abs. 1 RVO aF getroffen worden wäre, das Vorverfahren in Betracht gekommen wäre. Hinzukommt, daß auch in den beiden Tatsacheninstanzen nicht die Rede davon gewesen ist, daß eine Ermessensentscheidung auf Grund des § 557 Abs. 1 RVO aF getroffen worden wäre.
Allerdings hat die Beklagte während des Revisionsverfahrens durch Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 2. Juli 1963 die Rente nach § 557 Abs. 1 RVO aF versagt. Es könnte hierin das Nachschieben eines neuen Grundes für den angefochtenen Bescheid erblickt werden. Ob und inwieweit dies in der Revisionsinstanz noch zulässig ist, kann dahinstehen. Denn hier handelt es sich um den besonderen Fall, daß die nachträglich vorgetragenen Gründe eine von einem Selbstverwaltungsorgan der Beklagten, dem Rentenausschuß, zu treffende Ermessensentscheidung enthalten. Eine solche Entscheidung kann aber nicht durch Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten getroffen werden. Sie ist vielmehr dem zuständigen Selbstverwaltungsorgan der Beklagten vorbehalten. Davon abgesehen werden aber im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für eine solche Rentenversagung auch wohl kaum vorliegen (vgl. hierzu Urteil des 2. Senats des BSG vom 24. August 1966 - 2 RU 176/65 -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen