Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff "Schul- und Berufsausbildung" iS der RVO
Leitsatz (amtlich)
1. Es besteht kein Anspruch auf verlängerten Kinderzuschuß für eine Zeit, in der das Kind infolge einer Erkrankung seiner Mutter sein Studium nicht aufnehmen konnte.
2. Eine Mithilfe im elterlichen Haushalt zur Entlastung der erkrankten Mutter steht bei Anwendung von RVO § 1262 Abs 3 S 2 der Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres nicht gleich.
Orientierungssatz
1. Als Zeit der Schul- und Berufsausbildung ist nicht nur die Zeit anzusehen, in der das Kind tatsächlich an Ausbildungsmaßnahmen teilnimmt, sondern auch die Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, sofern sich diese Übergangszeit im Rahmen des üblichen hält.
2. In die Schul- oder Berufsausbildung sind solche Unterbrechungen einzubeziehen, die mit ihr notwendigerweise oder regelmäßig verbunden sind, wie regelmäßige Ferien, regelmäßiger Erholungsurlaub, die Berufsausbildung und vorübergehende, wenn auch möglicherweise länger andauernde Erkrankungen des Kindes; um eine Zeit der Schul- oder Berufsausbildung handelt es sich jedoch nicht, wenn das Studium wegen Mithilfe im elterlichen Haushalt aufgrund einer Erkrankung eines nahen Angehörigen nicht zum nächstmöglichen Semesterbeginn aufgenommen wird.
Normenkette
RVO § 1262 Abs 3 S 2 Fassung: 1971-01-25; SozDiG; BKGG § 2 Abs 2 Nr 4; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 6 Abs 4 Fassung: 1949-05-23; AVG § 39 Abs 3 S 2 Fassung: 1971-01-25
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.06.1979; Aktenzeichen L 13 An 250/77) |
SG München (Entscheidung vom 11.08.1977; Aktenzeichen S 17 An 216/77) |
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Kinderzuschuß für die im November 1955 geborene Tochter B des Klägers für die Zeit von Juli 1976 bis April 1978.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger im November 1975 vorgezogenes Altersruhegeld unter Einschluß von Kindergeldzuschüssen. Die Tochter B schloß ihre Schulausbildung im Juni 1976 mit dem Abitur ab. Im Oktober 1976 teilte der Kläger der Beklagten mit, seine Tochter werde im Winter- Semester 1976/77 noch nicht studieren, sondern in seinem 8-Personen-Haushalt mithelfen. Anfang November 1976 werde sie nach I reisen, um dort in einem Kibbuz zu arbeiten; anschließend werde sie bis zum Beginn des Studiums im Sommersemester 1977 wieder im Haushalt mithelfen, weil sich die Ehefrau des Klägers einer Operation unterziehen müsse. Darauf stellte die Beklagte im November 1976 fest, daß der Kinderzuschuß für die Tochter B ab Juli 1976 weggefallen sei und forderte die für die Monate Juli bis Dezember 1976 gezahlten Beträge zurück.
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg. Zur Begründung des Berufungsurteils hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, zwischen dem Abitur und der Aufnahme des Studiums läge ein Zeitraum von 21 Monaten, der wegen seiner Länge nicht mehr als Zeit der Schulausbildung oder Berufsausbildung angesehen werden könne. Die Tätigkeit im elterlichen Haushalt könne auch nicht der Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres gleichgeachtet werden. Für das Vorliegen eines freiwilligen sozialen Jahres im Sinne des Gesetzes vom 17. August 1964 sei entscheidend, daß der Einsatz der Helferinnen und Helfer von einem der im Gesetz genannten Träger geleitet werde, der die erforderliche Einführung sowie die persönlichkeitsbildende und sachgerechte Betreuung der Helferinnen und Helfer sowie die Vermittlung sozialer Erfahrungen gewährleiste. Diese Voraussetzung sei bei einer eigenständigen Mithilfe des Kindes im Haushalt der Eltern nicht erfüllt. Eine Gesetzeslücke, die im Wege der Analogie geschlossen werden könne, liege nicht vor. Das gefundene Ergebnis stehe auch nicht im Widerspruch zu den Art 6, 3 des Grundgesetzes (GG).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
den angefochtenen Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides sowie die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kinderzuschuß für das Kind B über den Monat Juni 1976 hinaus bis zur Aufnahme des Studiums am 1. April 1978 zu zahlen.
Er macht geltend, der Zeitraum zwischen dem Abitur und der Aufnahme des Studiums sei der Schulausbildung und Berufsausbildung zuzurechnen. Die Tochter B habe die Aufnahme des Studiums nicht leichtfertig verzögert, sondern sei durch die Krankheit ihrer Mutter gehindert gewesen, ihr Studium zu beginnen; einer Mithilfe im Haushalt habe sie sich aus rechtlichen und sittlichen Gründen nicht entziehen können. Im übrigen verstoße es gegen Art 3 GG, wenn diese Mithilfe nicht ebenso behandelt werde wie die Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres. Aus der Sicht der ausgeübten Tätigkeit bestehe kein Unterschied; die Abstellung auf die durch das Gesetz zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres vorgeschriebenen Formalien laufe auf eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte hinaus.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nur zum Teil begründet.
Wie das LSG richtig erkannt hat, besteht kein Anspruch auf Kinderzuschuß für die Tochter B für die Zeit zwischen dem Abitur und der Aufnahme des Studiums. Nach § 39 Abs 3 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wird der Kinderzuschuß über das 18. Lebensjahr hinaus längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ua für ein Kind gewährt, das sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befindet oder das ein freiwilliges soziales Jahr im Sinne des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres leistet. Keine dieser Voraussetzungen ist erfüllt. In Schulausbildung oder Berufsausbildung hat sich die Tochter des Klägers in der streitigen Zeit nicht befunden. Es ist zwar richtig, daß auch eine mehrmonatige Zwischenzeit zwischen dem Abitur und der Immatrikulation als Zeit der Schulausbildung und Berufsausbildung anzusehen ist (BSGE 32, 120 f). Dabei ist jedoch vorausgesetzt, daß nach der Ablegung des Abiturs alsbald ernsthaft die Aufnahme des Studiums angestrebt wird und begründete Aussicht besteht, in absehbarer Zeit damit beginnen zu können (vgl BSGE 32, 120, 122). Was die Zeit zwischen dem Abitur und der Immatrikulation anlangt, muß die letztere also zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen. Das ist hier nicht der Fall. Dafür, daß der Tochter des Klägers etwa wegen eines Mangels an freien Studienplätzen oder anderen nicht in ihren persönlichen Verhältnissen liegenden Gründen wider Erwarten eine Immatrikulation bereits für das Wintersemester 1976/77 nicht möglich war, fehlt es an jedem Anhalt. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob hier der Zeitraum zwischen dem Abitur und der Aufnahme des Studiums nicht schon wegen seiner Länge nicht als Zeit der Schulausbildung oder Berufsausbildung angesehen werden kann.
Ob - wie der Kläger behauptet - die Verzögerung des Studienbeginns durch eine Erkrankung der Ehefrau des Klägers bedingt war, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Wenn der Anspruch auf Waisenrente oder Kinderzuschuß durch eine Unterbrechung infolge einer länger andauernden Erkrankung nicht ausgeschlossen wird (vgl. SozR Nr 16 zu § 1267 RVO; BSGE 26, 186 ff), so kann das nur für den Fall einer Erkrankung der Waise oder des Kindes selbst gelten. Es ist zwar richtig, daß auch die Erkrankung eines nahen Angehörigen zu einer aus der Sicht des Kindes unvermeidbaren Unterbrechung einer Ausbildung, deren Fortsetzung beabsichtigt und zu erwarten ist, führen kann. Dabei handelt es sich jedoch um einen Umstand, der gegenüber anderen Hindernissen, die einer Schulausbildung oder Berufsausbildung jedenfalls vorübergehend im Wege stehen können, nicht sinnvoll und mit hinreichender Sicherheit abgegrenzt werden kann. Es widerspricht dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, wollte man es allgemein dem Fall einer tatsächlichen Schulausbildung oder Berufsausbildung gleichachten, daß eine solche Ausbildung zwar angestrebt wird, aber aus vom Betroffenen nicht zu vertretenden Gründen nicht aufgenommen oder fortgesetzt werden kann. Dem Sinn des Gesetzes entspricht es allein, in die Ausbildung solche Unterbrechungen einzubeziehen, die mit ihr notwendigerweise oder doch regelmäßig verbunden sind, wie regelmäßige Ferien, regelmäßiger Erholungsurlaub, die üblichen Übergangszeiten zwischen Schulausbildung und Berufsausbildung und vorübergehende, wenn auch möglicherweise länger andauernde Erkrankungen (vgl BSGE 26, 186, 188); eine Berücksichtigung auch anderer Unterbrechungen stünde im Widerspruch dazu, daß allein durch Schulausbildung oder Berufsausbildung, die Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres oder Gebrechlichkeit bedingte Bedarfssituationen Anlaß für die Gewährung des sogenannten verlängerten Kinderzuschusses sein sollen. Daß der Gesetzgeber Tatbestände wie den hier gegebenen nicht übersehen hat, läßt § 2 Abs 2 Nr 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) erkennen; das Fehlen einer entsprechenden Regelung in § 39 AVG zeigt, daß sie hier nicht gewollt ist.
Die Tätigkeit der Tochter des Klägers im elterlichen Haushalt kann auch, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, nicht der Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres gleichgestellt werden. Zu Recht hat das LSG darauf hingewiesen, daß der Grund für die Förderung des freiwilligen sozialen Jahres, wie sie auch § 39 Abs 3 Satz 2 AVG bewirken soll, in der Vermittlung sozialer Erfahrungen und der Stärkung des Gemeinwohlgedankens durch bestimmte Träger zu finden ist. Es mag sein, daß das angestrebte Ziel auch ohne Einschaltung dieser Träger erreicht und eine vergleichbare Tätigkeit auch in einem anderer rechtlichen Rahmen ausgeübt werden kann. Gerade das zwingt aber zu dem Schluß, daß der Gesetzgeber nicht auf die Ausübung von Tätigkeiten bestimmter Art abheben wollte, sondern daß er die Erfüllung aller Voraussetzungen eines freiwilligen sozialen Jahres für wesentlich gehalten hat; eine entsprechende Anwendung auf andere Tatbestände ist deswegen sowie auch im Hinblick auf die bereits erwähnte abweichende Regelung in § 2 Abs 2 Nr 4 BKGG ausgeschlossen.
Das gefundene Ergebnis steht in Einklang mit dem GG. An einer Verletzung von Art 3 Abs 1 GG fehlt es deswegen, weil die Tatbestände einer Mithilfe im elterlichen Haushalt und der Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres voneinander wesentlich verschieden sind. Der Gesetzgeber durfte der Ansicht sein, daß die Ziele, die sich das Gesetz zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres gestellt hat, besonders gut unter den in diesem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen zu erreichen sind; er durfte daher auch die Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres durch Schaffung eines besonderen Anreizes fördern. Unter diesem Gesichtspunkt bestand aber kein Anlaß zur Schaffung eines Anreizes zur Ausübung anderer, unzweifelhaft nicht weniger positiv zu bewertender Tätigkeiten. Aus Art 6 Abs 4 GG läßt sich ein Anspruch auf Kinderzuschuß für Zeiten, in denen die Tochter für ihre erkrankte Mutter eingesprungen ist, nicht herleiten; diese Verfassungsvorschrift setzt das Bestehen von Unterhaltspflichten, die nicht ohne weiteres ganz oder zum Teil von der Allgemeinheit zu übernehmen sind, voraus.
Das LSG hat indessen verkannt, daß die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid auch die nach ihrer Ansicht überzahlten Beträge des Kinderzuschusses für die Monate Juli bis Dezember 1976 zurückgefordert hat und daß diese Rückforderung nicht schon deswegen rechtmäßig ist, weil für diese Monate der Kinderzuschuß zu Unrecht gezahlt worden ist. Da der Kläger die Aufhebung des angefochtenen Bescheides in Gestalt des Widerspruchsbescheides im Ganzen beantragt hatte und zudem das Begehren auf Gewährung des Kinderzuschusses das Begehren auf Belassung dieses Rententeils für den Teilzeitraum, für den er bereits gezahlt worden ist, einschließt, haben die Vorinstanzen im Ergebnis auch die Rückforderung für berechtigt erklärt. Das LSG hat aber nicht erkennbar geprüft, ob die Voraussetzungen, unter denen die Beklagte zurückfordern durfte (§ 80 Satz 2 AVG), vorgelegen haben, und ob die Beklagte von ihrem ihr durch § 80 Satz 1 AVG eingeräumten Ermessen den rechten Gebrauch gemacht hat. Da die erforderlichen Feststellungen fehlen und vom Senat nicht getroffen werden können, werden sie nunmehr vom LSG nachzuholen sein. Dieses wird dabei möglicherweise auch Gelegenheit haben, die Ermessensausübung der Beklagten unter dem vom erkennenden Senat in seinem Urteil vom 31. Mai 1979 (SozR 2200 § 1301 Nr 11) aufgezeigten Gesichtspunkt zu überprüfen.
Nach alledem war wie geschehen zu erkennen (§ 170 Abs 1 Satz 1, Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes). Bei seiner Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.
Fundstellen