Leitsatz (amtlich)

Vereinbaren die Vertragspartner eines Berufsausbildungsvertrages, einen Teil der Ausbildung vor Beginn der Laufzeit des Berufsausbildungsvertrages durchzuführen und ihn später auf die Berufsausbildungszeit anzurechnen, so ist auch dieser Teil der Ausbildung Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 S 1 Nr 1 BKGG.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs 2 S 1 Nr 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.06.1987; Aktenzeichen L 4 Kg 31/86)

SG München (Entscheidung vom 22.04.1986; Aktenzeichen S 6 Kg 40/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger für seine Tochter Ruth Kindergeld auch für die Zeit von August bis Oktober 1984 zu gewähren hat.

Die im Juli 1967 geborene Ruth W.          hat ihre Schulausbildung im Juli 1984 beendet. Sie erstrebte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau und hatte bereits am 28. März 1984 mit der Kurklinik L.         GmbH in M.     zwei Verträge geschlossen, nämlich einen "Arbeitsvertrag für Arbeitnehmer im Gaststättengewerbe" und einen Berufsausbildungsvertrag zur Hotelfachfrau. Nach dem erstgenannten Vertrag sollte Ruth W.          von August bis Oktober 1984 als "Praktikantin" tätig sein und eine monatliche Vergütung von 435,-- DM erhalten. Im Berufsausbildungsvertrag ist ua bestimmt, daß die "Vorbildung/Ausbildung als Hotelpraktikantin mit drei Monaten angerechnet" werde. Auf das Berufsausbildungsverhältnis, das am 1. Februar 1985 begann, ist die ab Anfang September abgeleistete Praktikantenzeit mit drei Monaten angerechnet worden.

Die Beklagte hat durch Bescheid vom 31. Oktober 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1985 die Gewährung des Kindergeldes für Ruth W.          für die streitige Zeit mit der Begründung abgelehnt, die Tochter des Klägers habe sich in dieser Zeit nicht in Berufsausbildung befunden, sondern lediglich ein in der Ausbildungsordnung für den angestrebten Beruf nicht vorgesehenes Praktikum abgeleistet.

Das Sozialgericht München (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 22. April 1986 antragsgemäß verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Entgegen der irreführenden Bezeichnung ihrer Tätigkeit als "Praktikantin" habe Ruth W.          sich ab September 1984 in einer Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) befunden, weil sie von Anfang an Aufgaben aus dem Bereich des ersten Ausbildungsjahres zur Hotelfachfrau verrichtet habe. Deshalb stehe dem Kläger das Kindergeld für Ruth auch bereits für die Monate September und Oktober 1984 zu. Für den Monat August 1984 ergebe sich der Anspruch aus § 2 Abs 2 Satz 4 BKGG.

Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision vor, der rechtliche Ausgangspunkt des LSG stehe mit der Vorschrift des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG nicht in Einklang. Bei der Erfüllung des Arbeitsvertrages für Arbeitnehmer im Gaststättengewerbe vom 28. März 1984 habe sich die Tochter des Klägers nicht in einer Berufsausbildung iS dieser Vorschrift befunden. Der Vertrag sei bewußt als Arbeitsverhältnis iS des § 19 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) ausgestaltet worden. Daran ändere auch die spätere Anrechnung der Praktikantenzeit auf die Ausbildungszeit nichts. Schließlich habe Ruth W.          in der streitigen Zeit auch kein vom Arbeitgeber gefordertes Vorpraktikum abgeleistet, das nach den vom erkennenden Senat entwickelten Kriterien der Berufsausbildung iS des § 2 BKGG zuzuordnen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juni 1987 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 22. April 1986 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juni 1987 zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint ergänzend, die Zuordnung der Tätigkeit seiner Tochter während der streitigen Zeit zur Berufsausbildung sei selbst dann gerechtfertigt, wenn davon ausgegangen werde, daß die von den Vertragspartnern als Arbeitsverhältnis gekennzeichnete Zeit des Praktikums keine Berufsausbildung iS des § 6 BBiG gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet, die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht zur Zahlung des Kindergeldes auch für den streitigen Zeitraum verurteilt.

Die Beteiligten und das LSG sind zutreffend davon ausgegangen, daß, nachdem Ruth W.          das 16. Lebensjahr bereits vor Beginn der streitigen Zeit vollendet hatte, dem Kläger gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG Kindergeld für seine Tochter nur gewährt werden kann, wenn für den Monat August 1984 die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 4 BKGG und für die Monate September und Oktober 1984 die des § 2 Abs 1 Nr 1 BKGG erfüllt sind. Letzteres hängt davon ab, ob die von Ruth W.          in der Zeit ab 2. September 1984 verrichtete Tätigkeit als Berufsausbildung anzusehen ist. Das LSG hat dies zutreffend angenommen. Auszugehen ist von der Feststellung des LSG, daß Ruth W. nach dem Gesamtinhalt der beiden Verträge vom 28. März 1984 bereits ab 2. September 1984, dem Zeitpunkt der Aufnahme ihrer Tätigkeit als "Praktikantin", nur solche Tätigkeiten verrichten sollte und tatsächlich auch verrichtet hat, wie sie im ersten Jahr der Ausbildung zur Hotelfachfrau auszuführen sind. Das LSG hat auf diese Tatsachen aus dem Inhalt und dem Zusammenhang der beiden gleichzeitig zwischen der Kurklinik L.         GmbH und Ruth W.   geschlossenen Verträge sowie den gesamten übrigen Umständen der Tätigkeit der Tochter des Klägers in der streitigen Zeit geschlossen. Soweit es sich hierbei um Tatsachenfeststellungen handelt, sind sie für den erkennenden Senat bindend. Im übrigen kann dahingestellt bleiben, ob der Senat an die Urteilsgründe des LSG auch insoweit gebunden ist, wie es sich um die Auslegung des Inhalts und der Zielrichtung der vorgenannten Verträge handelt, oder ob der Senat diese Verträge selbst auszulegen hat. Denn der Senat folgt der Annahme des LSG, daß die Vertragspartner mit beiden Verträgen ein einheitliches Ausbildungsverhältnis begründet haben, mit dem Ruth W. innerhalb der vorgesehenen Gesamtzeit (Ausbildungszeit unter Anrechnung des "Praktikums") zur Hotelfachfrau ausgebildet werden sollte.

Unerheblich ist, ob diese vertragliche Ausgestaltung des gesamten Ausbildungsverhältnisses den in §§ 3, 4 BBiG normierten Grundsätzen über den Abschluß und den Inhalt eines Ausbildungsvertrages entsprach, insbesondere soweit die Vertragspartner möglicherweise vereinbart haben, Ruth W. solle einen Teil der Ausbildung im Rahmen eines sogenannten Praktikantenverhältnisses vor Beginn des eigentlichen Ausbildungsverhältnisses ableisten, weil sich anderenfalls der Beginn der Ausbildung der Tochter des Klägers aufgrund des eigentlichen Ausbildungsvertrages bis Februar 1985 verzögert hätte. Denn diese vertragliche Ausgestaltung der Ausbildung der Tochter des Klägers zur Hotelfachfrau ändert nichts daran, daß die von ihr vor Beginn der Laufzeit des eigentlichen Ausbildungsvertrags verrichtete Tätigkeit nach den Feststellungen des LSG Teil der im Ausbildungsvertrag inhaltlich festgelegten Ausbildung und daher Berufsausbildung iS des § 2 BKGG war. Ziel des Berufsbildungsgesetzes ist es nur, einen umfassenden und einheitlichen Rahmen für die berufliche Bildung zu schaffen (Natzel, Berufsbildungsrecht, 3.Aufl 1982, S 91); hingegen soll mit dem Berufsbildungsgesetz weder der Begriff der Berufsausbildung iS des § 2 BKGG bestimmt oder über § 4 BBiG hinaus eine bestimmte Form der Regelung des Ausbildungsverhältnisses vorgeschrieben werden. Dementsprechend richtet sich die Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Tätigkeit der Ausbildung dient, allein nach § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG. Hierzu hat der erkennende Senat in der ständigen Rechtsprechung entschieden, daß eine Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschrift dann vorliegt, wenn im Rahmen einer Tätigkeit Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die die Ausübung des zukünftigen Berufes ermöglichen sollen (zuletzt Urteil vom 3. November 1987 - 10 RKg 13/86 -, SozR 5870 § 2 Nr 53 mwN). Der erkennende Senat hat deshalb auch ein in einer Ausbildungsordnung nicht vorgesehenes Vorpraktikum, das unter bestimmten Voraussetzungen abgeleistet wird, der Berufsausbildung iS des § 2 BKGG zugeordnet (aaO). Nichts anderes hat für die Fälle zu gelten, in denen die Beteiligten sich darauf verständigen, daß ein Teil der Ausbildung im Rahmen eines dem eigentlichen Ausbildungsvertrag vorgeschalteten Praktikanten-Verhältnisses erfolgt und diese Praktikantenzeit auf die Ausbildungszeit angerechnet wird. Denn diese Ausgestaltung des Ausbildungsverhältnisses ändert selbst dann, wenn sie - was der Senat offen lassen kann - gegen einzelne Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes verstoßen sollte, nichts daran, daß die von Ruth W.          zurückgelegte "Praktikantenzeit" Teil der vertraglich geregelten Ausbildung war. Dementsprechend ist die von Ruth W.   in den Monaten September und Oktober 1984 verrichtete Tätigkeit Teil ihrer Berufsausbildung zur Hotelfachfrau iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG gewesen.

Das LSG hat schließlich zutreffend angenommen, daß der Anspruch des Klägers auf das Kindergeld für den Monat August 1984 nach § 2 Abs 2 Satz 4 BKGG begründet ist. Denn der Monat August 1984 lag zwischen den beiden Ausbildungsabschnitten Schulausbildung und Berufsausbildung. Da der letztgenannte Ausbildungsabschnitt am 2. September 1984 begann, hat das LSG zu Recht auch den Monat August 1984 als Übergangszeit iS des § 2 Abs 2 Satz 4 BKGG berücksichtigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664472

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