Leitsatz (amtlich)
Läßt das SG in einem Rechtsstreit über eine einmalige Leistung (SGG § 144 Abs 1 Nr 1) die Sprungrevision zu, so ist die Berufung auch dann statthaft, wenn ihre Zulassung vom SG nicht ausdrücklich ausgesprochen worden ist (Anschluß an BSG 1977-07-28 2 RU 5/77 = SozR 1500 § 150 Nr 9).
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, § 161 Abs. 1 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.06.1977; Aktenzeichen L 4 Kr 50/76) |
SG Stade (Entscheidung vom 19.10.1976; Aktenzeichen S 3 Kr 5/76) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1977 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattungspflicht der Beklagten für zwei Rheumaunterhemden. Die Beklagte hatte eine Forderung des Klägers auf Erstattung derartiger Kosten abgelehnt, das Sozialgericht (SG) hatte auf seine Klage hin die Beklagte zur Kostenerstattung verpflichtet. Im Urteilstenor hatte es die Sprungrevision zugelassen und in den Gründen des Urteils dazu auf § 161 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - hingewiesen; in der Rechtsmittelbelehrung führte es aus, daß sowohl die Berufung als auch die (Sprung-) Revision zulässig sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten verworfen. Es hat das Rechtsmittel für nicht zulässig gehalten, da es einen Anspruch auf eine einmalige Leistung betreffe und das SG die Berufung nicht zugelassen habe. Das LSG hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
Auf die Beschwerde der Beklagten hat der erkennende Senat durch Beschluß vom 15. Februar 1978 die Revision zugelassen. Die Beklagte wendet sich mit diesem Rechtsmittel gegen die Rechtsauffassung des SG. Sie ist der Ansicht, daß Rheumahemden nicht unter den Begriff des Heilmittels zu bringen seien. Sie seien vielmehr eine besondere Art von Unterwäsche und damit Bekleidungsgegenstände, deren Verschaffung nicht der Krankenkasse obliege. Sie seien dem allgemeinen Lebensbereich des Versicherten zuzuordnen und von ihm daher auch selbst aufzubringen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 19. Oktober 1976 - S 3 Kr 5/76 - und das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1977 - L 4 Kr 50/76 - aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1977 - L 4 Kr 50/76 - aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen mit der Maßgabe zurückzuverweisen, in der Sache zu entscheiden.
Der Kläger ist der Auffassung, daß den Rheumahemden rechtlich der Charakter von Heilmitteln zukomme, denn sie dienten zur Linderung von Krankheitsbeschwerden. Zudem habe der Arzt sie verordnet und bereits diese kassenärztliche Verordnung begründe die Leistungspflicht der Kasse.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung der Streitsache an das LSG, weil das angefochtene Urteil den Rechtsstreit nicht in der Sache entschieden hat.
Das Berufungsgericht ist im angefochtenen Urteil zutreffend davon ausgegangen, daß nach dem Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens - Leistung von zwei Rheumahemden oder Kostenerstattung dafür - zwischen den Beteiligten eine einmalige Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG im Streit steht, für die im Regelfall die Berufung ausgeschlossen ist. Zu Unrecht hat das LSG jedoch angenommen, die Berufung sei deshalb unzulässig, weil das SG dieses Rechtsmittel nicht ausdrücklich zugelassen habe und auch kein wesentlicher Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens gerügt worden sei (§ 150 Nrn 1 und 2 SGG). Das LSG hat dabei verkannt, daß die vom SG ausgesprochene Zulassung der Sprungrevision zugleich die Zulassung der Berufung einschließt, ohne daß es insoweit noch auf einen expliziten Ausspruch ankäme. Wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seiner Entscheidung vom 28. Juli 1977 - 2 RU 5/77 - (SozR 1500, Nr 9 zu § 150 SGG) entschieden und eingehend begründet hat, liegt in der Zulassung der Sprungrevision im Urteil des SG zugleich auch die Zulassung der Berufung gemäß § 150 Nr 1 SGG. Das folgt schon aus der Übereinstimmung der Voraussetzungen für die Zulassung der beiden Rechtsmittel. Dieser Entscheidung hat sich der 4. Senat, Urteil vom 30. November 1977 - 4 RJ 23/77 -, angeschlossen und auch der erkennende Senat tritt ihr nach eigener Prüfung bei. Der 2. Senat hat bereits darauf hingewiesen, daß nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils den Beteiligten die Wahl bleiben müsse, entweder die Berufung oder die Sprungrevision einzulegen.
Eine solche Wahlmöglichkeit besteht aber nur, wenn die Zulassungsentscheidung des SG sich auf beide Rechtsmittel bezieht und das ist lediglich dann der Fall, wenn das SG entweder beide Zulassungen nebeneinander ausspricht oder wenn die ausdrückliche Zulassung der Sprungrevision zugleich die Zulassung der Berufung mit umfaßt. Der Senat übersieht nicht, daß dem Prinzip der Prozeßklarheit schon aus verfahrensrechtlichen Gründen erhebliche Bedeutung zukommt und daß deshalb Aussprüche im Urteilstenor über ihren unmittelbaren Wortlaut hinaus nur mit gebotener Zurückhaltung erweiternd aufgefaßt werden können; jedoch ist eine solche Erweiterung nach Auffassung des Senats dann zwingend geboten, wenn eine einschränkende Auslegung zu Ergebnissen führen würde, die dem Gesetzeszweck unmittelbar widersprechen. Das ist hier der Fall.
Wollte man der Auffassung des LSG folgen, daß die Zulassung der Sprungrevision ausschließlich für dieses Rechtsmittel Bedeutung hätte und keine Wirkung für das Berufungsverfahren entfaltete, so läge es bei Rechtsstreitigkeiten, die unter die Vorschriften der §§ 144 bis 149 SGG fielen, allein in der freien Entscheidung des Rechtsmittelgegners, ob der Streitfall zu einer weiteren gerichtlichen Überprüfung gelangte. Der Rechtsmittelgegner hätte es in der Hand, durch Verweigerung seiner Zustimmung zur Sprungrevision (§ 161 Abs 1 SGG) die Überprüfung durch das Revisionsgericht zu verhindern und die Überprüfung der Streitsache durch das Berufungsgericht wäre, bei jener Rechtsauffassung, bereits infolge der fehlenden Zulassung ausgeschlossen. Obwohl also eine ausdrückliche Entscheidung des SG für die Fortsetzung des Rechtsstreits durch ein Rechtsmittel vorläge und der Rechtsmittelführer davon Gebrauch machen wollte, könnte der Rechtsmittelgegner die Fortführung willkürlich verhindern. Der Gesetzgeber hat aber durch das Mittel der Zulassung beabsichtigt, die Entscheidung über die Möglichkeit der Weiterführung des Prozesses zunächst in die Hand des erstinstanzlichen Richters und dann in die des Rechtsmittelführers zu legen, nicht aber in die Hand des Rechtsmittelgegners.
Da somit die Zulassung der Sprungrevision zugleich als Zulassung der Berufung anzusehen ist, hätte das LSG über den Streitgegenstand sachlich entscheiden müssen. Da es daran fehlt, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen