Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche KK. Ausschluß der Familienhilfe

 

Leitsatz (amtlich)

Die Bewilligung der Krankenkasse zur Durchführung einer kieferorthopädischen Behandlung nach vorgelegtem ärztlichem Behandlungsplan umfaßt die gesamte Maßnahme im vorgesehenen Umfang. Als Verwaltungsakt erlangt sie bindende Wirkung, sie steht lediglich unter der Bedingung, daß die Behandlung planmäßig durchgeführt wird.

 

Orientierungssatz

Die bei einer gesetzlichen KK (hier: AOK Berlin) bestehende freiwillige Mitgliedschaft ohne Anspruch auf Familienhilfeleistungen rechtfertigt nicht den Ausschluß der Familienhilfe iS des RVO § 205 Abs 1 S 2 idF des KVKG.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Fassung: 1974-08-07, § 205 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1977-06-27

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 28.10.1977; Aktenzeichen S 75 Kr 456/77)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 1977 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Familienhilfe.

Die Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Im Juni 1976 beantragte sie, ihr im Wege der Familienhilfe für ihren damals achtjährigen Sohn Siegfried eine kieferorthopädische Behandlung zu bewilligen. Sie reichte dazu einen ärztlichen Behandlungsplan ein, der eine dreijährige Behandlung vorsah. Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten genehmigte diese die beantragte Behandlung und gewährte der Klägerin daraufhin in der Zeit vom 1. Juli 1976 bis zum 30. Juni 1977 die vorgesehenen Leistungen.

Anläßlich des Inkrafttretens des Kostendämpfungsgesetzes (KVKG) ermittelte die Beklagte die Einkommensverhältnisse der Klägerin und ihres Ehemannes. Sie stellte fest, daß die Klägerin ein monatliches Arbeitsentgelt von 700,- DM, ihr Ehemann ein solches von über 2.550,- DM bezog; aufgrund dieses Einkommens war der Ehemann der Klägerin bei der AOK B freiwillig versichert, seine Versicherung umfaßte nach den Satzungsbestimmungen keinen Anspruch auf Familienhilfe. Mit Bescheid vom 26. Juli 1977 teilte daraufhin die Beklagte der Klägerin mit, daß ihr mit Rücksicht auf das Einkommen und die Versicherung des Ehemannes ab 1. Juli 1977 kein Anspruch auf Familienhilfe mehr zustehe. Der Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid wurde durch den Widerspruchsbescheid vom 17. August 1977 zurückgewiesen.

Die Klägerin hat vor dem Sozialgericht (SG) Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zur Weitergewährung von Familienkrankenhilfe zu verurteilen. Das SG Berlin hat dem Antrag in vollem Umfang entsprochen (Urteil vom 28. Oktober 1977): Der Familienhilfeanspruch der Klägerin werde durch § 205 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des KVKG nicht ausgeschlossen. Diese Vorschrift versage den Anspruch nur, wenn der andere Ehegatte nicht bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sei. Die Voraussetzung liege jedoch nicht vor, weil der Ehemann der Klägerin Mitglied der AOK B sei. Es sei in diesem Zusammenhang unerheblich, ob der Ehemann mit Anspruch auf Familienhilfe versichert sei, das Gesetz könne über seinen Wortlaut hinaus nicht weiter einschränkend ausgelegt werden. Es liegt auch keine verdeckte Regelungslücke vor, denn dem Gesetzgeber sei zweifellos bekannt gewesen, daß die Ersatzkassen freiwillige Mitglieder auch ohne Anspruch auf Familienhilfe versicherten.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Sie hält § 205 RVO für verletzt. Der Gesetzgeber des KVKG habe zum Zwecke der Kostendämpfung die Ansprüche auf Familienhilfe eingeschränkt. Dabei habe er in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vor allem die Personen im Auge gehabt, die ein über der Versicherungspflichtgrenze liegendes Einkommen erzielten. Solchen Personen sei es zuzumuten, aus eigenen Mitteln für den Versicherungsschutz gegen Krankheit aufzukommen, die Solidargemeinschaft der Versicherten solle ihnen jedenfalls keinen kostenfreien Krankenschutz zukommen lassen. Zu diesem Personenkreis gehöre der Ehegatte der Klägerin. Der Wortlaut des § 205 Abs 1 Satz 2 RVO betreffe ihn als Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse zwar nicht, das sei jedoch lediglich eine Folge der speziellen B Rechtssituation. Die AOK B habe im Gegensatz zu allen anderen gesetzlichen Krankenkassen für ihre freiwilligen Mitglieder auch eine Versicherung ohne Familienhilfeanspruch vorgesehen, auf diesen Sonderfall habe der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 205 Abs 1 Satz 2 RVO nicht Rücksicht zu nehmen brauchen. Aus Sinn und Zusammenhang der Regelung ergebe sich jedoch, daß der Ehemann der Klägerin dem dort genannten Personenkreis gleichzubehandeln sei und der Klägerin deshalb kein Anspruch auf Familienhilfe zustehe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 1977 - S 75 Kr 456/77 - aufzuheben und die Klage gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 17. August 1977 abzuweisen.

Die Klägerin ist nicht vertreten gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, der Klägerin weiterhin Familienkrankenhilfe zu gewähren.

Die Forderung der Klägerin ist nach ihrem Klageantrag auf die weitere Gewährung von Familienhilfe gerichtet. Sie wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten, mit dem diese ihr die weitere kieferorthopädische Behandlung ihres Sohnes versagt hat. Das Begehren der Klägerin richtet sich mithin konkret auf die Gewährung einer bestimmten Leistung, sie hat demgemäß auch zutreffend dafür das prozessuale Mittel der verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) gewählt. Es bedarf im vorliegenden Rechtsstreit deshalb keiner zusätzlichen Erörterung der Frage, ob die Klägerin über den speziellen Leistungsfall hinaus ein Interesse an der Feststellung haben könnte, daß die Beklagte generell verpflichtet ist, ihr weiterhin für den Sohn Siegfried Familienhilfe zu gewähren.

Die Beklagte hatte der Klägerin, das steht zwischen den Beteiligten fest, die kieferorthopädische Behandlung ihres Sohnes aufgrund des eingereichten Behandlungsplanes genehmigt. Es kann dahinstehen, welche Form die Beklagte für die Zubilligung der Leistung gewählt hat, denn es handelt sich dabei, auch wenn die Beklagte nicht die Schriftform dafür benutzt haben sollte, um den Erlaß eines Verwaltungsaktes. Mit der Zubilligung der Leistung aufgrund des eingereichten Behandlungsplans hat die Beklagte als öffentlich-rechtlicher Versicherungsträger eine Maßnahme getroffen, die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet war. Sie hat zudem in Erfüllung ihrer Zusage ein Jahr lang die Kosten für die kieferorthopädische Behandlung getragen. Die Gewährung der Leistung ist von der Beklagten nicht unter einer Auflage erfolgt, die Leistungszubilligung stand lediglich unter der Bedingung, daß sie entsprechend dem eingereichten Behandlungsplan durchzuführen war. Das ist unstreitig geschehen. Diese Bedingung band aber nicht nur die Klägerin, sie hatte gleicherweise bindende Wirkung für die Beklagte. Solange sich die kieferorthopädische Behandlung im Rahmen des genannten Behandlungsplans hielt, war die Beklagte an die von ihr ausgesprochene Genehmigung gebunden. Die Behandlung ist, wie der Behandlungsplan darlegt, als eine einheitliche Maßnahme auf die Dauer von drei Jahren anzusehen, die weder zwischenzeitlich erneuter Bestätigungen durch die Beklage bedarf, noch zwischenzeitlich von der Beklagten zurückgenommen werden könnte. Der Widerruf bindender Verwaltungsakte kann lediglich nach den Grundsätzen des § 1744 RVO erfolgen (vgl BSG, Urteil vom 20. Dezember 1978 - 3 RK 42/78 - ua), das gilt auch dann, wenn nur ein Teil der Leistungszusage zurückgenommen werden soll.

Die Beklagte vermag sich in diesem Zusammenhang auch nicht darauf zu berufen, daß mit Wirkung ab 1. Juli 1977 neues Recht in Kraft getreten sei. Die Leistungszusage für die kieferorthopädische Behandlung ist rechtlich als einmaliger Akt zu werten, der sich mit der Genehmigung erschöpft, selbst wenn die ärztliche Behandlung sich über einen gewissen Zeitraum ausdehnt. Der Genehmigungsakt war bei Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen - auch wenn die ärztliche Behandlung selbst noch andauerte - und hätte deshalb von neugeschaffenem Recht (rückwirkend) nur dann erfaßt werden können, wenn das in dem neuen Recht ausdrücklich bestimmt worden wäre. Das KVKG enthält jedoch keine derartigen Regelungen. Da die Beklagte somit an ihre Leistungsgenehmigung gebunden war, mußte sie für die weitere kieferorthopädische Behandlung des Sohnes der Klägerin aufkommen, soweit sich diese im Rahmen des Behandlungsplanes hielt. Nichts anderes fordert aber die Klägerin.

Ist der Anspruch der Klägerin schon aus den dargelegten Gründen zu bejahen, so ergibt sich die Berechtigung ihrer Forderung zudem aus § 205 Abs 1 Satz 2 RVO in der Fassung nach Inkrafttreten des KVKG. Das SG hat im angefochtenen Urteil zutreffend darauf hingewiesen, daß diese Vorschrift die Familienhilfeleistungen für Kinder nur dann ausschließt, wenn der andere Ehegatte "nicht Mitglied bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ist". Der Ehemann der Klägerin ist aber Mitglied der AOK B, und diese Kasse gehört gemäß § 225 Abs 1 RVO zu den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung. Da die Familienhilfe eine Regelleistung iS des § 179 Abs 1 RVO ist, die grundsätzlich allen Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung zusteht, ist die Versagung einer Regelleistung als Ausnahme nicht der erweiternden Auslegung fähig. Demgemäß kann § 205 Abs 1 Satz 2 RVO über den Wortlaut des Gesetzes hinaus nicht auf weitere Personengruppen ausgedehnt werden. Der Senat vermag nicht der Ansicht der Beklagten zu folgen, daß der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 205 RVO die besondere Berliner Situation übersehen habe und das Gesetz demzufolge eine Regelungslücke enthalte, die ausfüllbar sei. Das SG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß zumindest die Ersatzkassen nach ihrer früheren Verwaltungspraxis die gleiche Regelung praktizierten wie die AOK B, und daß dem Gesetzgeber diese Tatsache nicht unbekannt sein konnte. Die Beklagte vermag sich für eine erweiternde Auslegung des Gesetzes auch nicht auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats zu berufen. Der Senat hat in früheren Entscheidungen den kostenfreien Krankenschutz der Solidargemeinschaft im Wege der Familienhilfe lediglich den Personen versagt, "die der Gesetzgeber unter Berücksichtigung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg der Selbstvorsorge verwiesen hat" (vgl BSGE 44, 142, 145 für den Ehegatten mit Arbeitgeber-Eigenschaft; BSGE 32, 13 und SozR 2200 Nr 8 zu § 205 RVO für den Familienangehörigen mit einem die Versicherungspflichtgrenze übersteigenden Einkommen). Zu diesem Personenkreis gehört ein minderjähriges Kind ohne eigenes Einkommen zweifellos nicht.

Das Begehren der Klägerin ist demgemäß in vollem Umfang begründet, die Revision der Beklagten gegen das zutreffende Urteil war somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 68

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