Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 11. April 1984, durch welches - ebenso wie vorher durch das Urteil des Sozialgerichts (SG) Frankfurt am Main vom 18. August 1981 - der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Elternrente versagt worden ist, weil sie gegenüber ihrem am 3. August 1979 durch Arbeitsunfall verstorbenen Sohn R.M.(S.) nicht unterhaltsberechtigt gewesen sei.

S. war das im Jahre 1946 geborene einzige Kind aus der ersten bis 1972 dauernden Ehe der Klägerin. Im April 1975 heiratete sie in Kenntnis von dessen geringer Lebenserwartung den Witwer Dr. KS (Dr. S.). Dieser bezog ab Mai 1975 bis zu seinem Tode am 4. August 1975 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Vorher war er Leiter der Kundenkreditabteilung der Firma N F. Aus seiner ersten Ehe hinterließ er fünf Kinder, geboren in den Jahren 1958 bis 1967, die beim Tode des Vaters in der Schul- bzw. Berufsausbildung standen. Mit ihnen führte die Klägerin in der bisherigen Wohnung einen gemeinsamen Haushalt. Sie wurde zum Vormund der minderjährigen Stiefkinder bestellt. Im Juli 1983 bezog sie - nunmehr nur noch mit ihrer jüngsten Stieftochter - eine kleinere Wohnung. Die Klägerin erhält Hinterbliebenenrente nach Dr. S. Diese belief sich zunächst (1975) auf DM 475, 50, beim Tode des S. (1979) auf DM 693, 30 und stieg bis Juli 1983 auf DM 916, 10. S., der zuletzt als Gerüstbauhelfer beschäftigt war und monatlich rund DM 2.000,-- brutto verdiente, zahlte seiner Mutter seit dem Tode des Dr. S. monatlich DM 200,--.

Den von der Klägerin gestellten Antrag auf Zahlung von Elternrente lehnte die Beklagte durch den Bescheid vom 5. November 1979 ab, weil sie keinen Unterhaltsanspruch gegen ihren Sohn hätte erfolgreich geltend machen können. Es seien ihr bei Berücksichtigung von einem Sechstel der Monatsmiete - der andere Teil sei auf die fünf Stiefkinder aufzuteilen - ausreichend Mittel für ihren Lebensunterhalt verblieben.

In dem klageabweisenden Urteil des SG ist u.a. ausgeführt, daß S. durchaus in der Lage gewesen sei, zum Unterhalt der Klägerin beizutragen. Die Klägerin hätte auch keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen brauchen, weil sie durch die Sorge für ihre Stiefkinder voll ausgefüllt und ausgelastet gewesen sei. Bei Berücksichtigung der Einkünfte der Stiefkinder - Vollwaisenrenten, Kindergeld u.a. - hätten diese sich an den Wohnkosten anteilig beteiligen können und müssen, so daß die Klägerin selbst insoweit allenfalls DM 150,-- monatlich hätte tragen müssen. Die verbliebene Rente hätte den angemessenen Lebensunterhalt der Klägerin sichergestellt.

Das LSG hat in Anknüpfung an die Regelungen über die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entschieden, daß infolge des Rentenbezuges der Klägerin eine "einigermaßen auskömmliche Lebenshaltung gewährleistet" sei. Der notwendige Unterhalt nach den Vorschriften des BSHG sei bezüglich des angemessenen Unterhalts grundsätzlich im Sinne einer Untergrenze maßgebend. Bei anteiliger Aufteilung der Aufwendungen für Wohnung, Heizung und Nebenkosten habe das Renteneinkommen der Klägerin deutlich über ihrem Gesamtbedarf nach dem BSHG gelegen und den ihrer Lebensstellung entsprechenden auskömmlichen Unterhalt gesichert. Es komme nicht darauf an, ob sie im Falle ihres Alleinlebens einen Anspruch auf eine aufwendigere Wohnung gehabt habe, als ihrem Anteil an den Wohnkosten entspreche, weil insoweit die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend gewesen seien.

Nach Auffassung der Revision hat das LSG den Begriff des Unterhalts i.S. von § 596 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. des angemessenen Unterhalts i.S. von ö 1610 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verkannt. Eine Aufteilung der Wohnungskosten nach "Kopfteilen" sei nicht zulässig; denn zum angemessenen Unterhalt gehöre auch eine angemessene Wohnung. Die für eine solche Wohnung anfallenden Kosten seien in Ansatz zu bringen. Im übrigen gäbe die Düsseldorfer Tabelle einen Anhalt dafür, was angemessener Unterhalt der Klägerin sei. Bei Anwendung dieser Richtlinien und Zugrundelegung ihrer Lebensverhältnisse vor der - viermonatigen - Ehe mit Dr. S. sei die Klägerin unterhaltsbedürftig, weil die Rentenzahlungen ihren angemessenen Unterhalt nicht sichergestellt hätten.

Die Klägerin beantragt

den Bescheid der Beklagten vom 5. November 1979, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. August 1981 sowie das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. April 1984 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Elternrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Überzeugung hat das LSG bezüglich der tatsächlichen Wohnkosten einen zutreffenden Verteilungsschlüssel erarbeitet und auch den angemessenen Unterhalt der Klägerin richtig ermittelt. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (5 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache, weil das LSG nicht alle zur Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch erforderlichen Feststellungen getroffen hat.

Beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen wird Elternrente gewährt, solange ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen ein Anspruch auf Unterhalt hätte geltend gemacht werden können (§ 596 Abs. 1 RVO). Zu Unrecht hat das LSG einen Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen S. verneint, weil sie nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei.

Gemäß § 1602 Abs. 1 BGB ist unterhaltsberechtigt, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Bei einer Verwandten in gerader Linie ist diese Voraussetzung gegeben, wenn ein der Lebensstellung der Bedürftigen entsprechender Unterhalt nicht gesichert ist, wenn sie also nicht in der Lage ist, ihren angemessenen Unterhalt selbst zu bestreiten (§ 1610 Abs. 1 BGB). Das LSG hätte daher feststellen müssen, welchen Umfang der angemessene Unterhalt der Klägerin bei dem Tode des S. hatte. Die vom LSG dagegen gebrauchten Begriffe "auskömmlicher Unterhalt" bzw. "einigermaßen auskömmliche Lebenshaltung" sind dabei rechtlich unerheblich.

Nach § 1610 Abs. 2 BGB umfaßt der angemessene Unterhalt der Bedürftigen ihren gesamten Lebensbedarf. Zu ihm gehört, was keiner weiteren Begründung bedarf, auch ein entsprechendes Zuhause. Dieses hat das LSG, weil es die tatsächlichen Verhältnisse zugrunde gelegt hat, in einem rechnerischen Anteil der Klägerin an der mit den Stiefkindern gemeinsam genutzten Wohnung erblickt und ihrem Lebensunterhalt zugerechnet. Abgesehen davon, daß dadurch der angemessene Lebensunterhalt der Klägerin umso geringer anzusetzen wäre, je mehr Stiefkinder sie in ihrer Obhut hatte, kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse nicht an. Der vorliegende Fall unterscheidet sich wesentlich von dem der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. September 1981 (SozR 2200 1265 Nr. 58), auf die das LSG Bezug nimmt; denn dieser Entscheidung waren nicht bei der Unterhaltsbedürftigkeit der geschiedenen Ehefrau, sondern bei der Beurteilung der wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Unterhaltsleistung die Grundsätze des Sozialhilferechts Zugrundelegen (s BSG aaO S. 194).

Nach § 1612 Abs. 1 Satz 1 BGB ist der Unterhalt grundsätzlich durch die Entrichtung einer Geldrente zu gewähren (s auch ö 1361 Abs 4, 1585 BGB). Nur "besondere Gründe" rechtfertigen nach § 1612 Abs. 1 Satz 2 BGB eine andere Art der Unterhaltsgewährung (s hierzu BGH LM Nr. 1 zu § 1612 BGB; OLG Frankfurt FRES 1, 99; Bay ObLG NJW 1977, 130; OLG Bremen FamRZ 1976, 642; OLG Köln FamRZ 1977, 54). Durch die Zahlung des Unterhalts in der Form einer Geldrente soll das Selbstbestimmungsrecht der Bedürftigen gewährleistet und eine steuernde Einflußnahme auf ihre Lebensführung möglichst ausgeschaltet werden. Es bleibt ihr überlassen zu bestimmen, auf welche Weise sie den zustehenden Unterhalt verbraucht, ob sie beispielsweise größeren Wert auf Kleidung, Wohnung, Essen oder künstlerische Bedürfnisse legt (Kalthovener/Haase-Becker/Büttner. Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, z. Aufl., S. 65 Rdnr. 177). Dem widerspricht es, die von der unterhaltsbedürftigen Person getroffene Entscheidung bezüglicheines Teiles ihres Lebensbedarfs - etwa für preiswertes Wohnen - zu benutzen, um den an sich angemessenen Unterhalt zu verkürzen. Genau dies hat das LSG dadurch erreicht; daß es die tatsächlichen Wohnverhältnisse der Klägerin rechnerisch festlegte und zur Grundlage der Errechnung des angemessenen weiteren Unterhalts machte.

Das LSG hat folglich die der Klägerin zustehende Geldrente für ihren "gesamten Lebensbedarf" unter Anwendung geltender Regeln zu errechnen. Dabei sind die Vorschriften des BSHG nur insofern rechtlich bedeutsam, als der angemessene Unterhalt, auf welchen die Klägerin gemäß ö 1610 Abs. 1 BGB einen Anspruch hat, die Leistungen nach dem BSHG auf keinen Fall unterschreiten darf (vgl. BSGE 54, 34, 36; SozR 2200 § 596 Nr. 1; BSG Urteil vom 27. Juni 1984 - 9b RU 38/83 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Sie sollen in Anwendung des Notwendigkeitsprinzips eine menschenwürdige Existenz sichern, während durch die Zubilligung des angemessenen Unterhalts für den gesamten Lebensbedarf nach Möglichkeit die von der Bedürftigen bisher eingenommene Lebensstellung erhalten bleiben soll (s. unten).

Trotz der Kenntnis der allgemeinen Grundsätze, die bei der Ermittlung des angemessenen Unterhalts anzuwenden sind, ist die Feststellung des Unterhaltsbedarfs i.S. von 1610 Abs. 1 BGB im Einzelfall schwierig. Der erkennende Senat hat hierzu in seinem Urteil vom 29. März 1984 (SozR 2200 § 596 Nr. 8) ausgeführt: Dieser unterhaltsrechtliche Begriff der Bedürftigkeit, der durch 1610 BGB mitbestimmt wird, ist demnach mit dem sozialhilferechtlichen Merkmal der Hilfsbedürftigkeit (§ 11 BSHG) nicht identisch; die Unterhaltspflicht entfällt also nicht schon deshalb, weil das Einkommen des Berechtigten die Regelsätze des BSHG überschreitet (vgl. BSG SozR 2200 § 596 RVO Nr. 1 = SGb 1975, § 144 mit zustimmender Anmerkung von Beitzke; BSG Urteil vom 27. Juni 1984 aaO). Vielmehr kann der Bedürftige - nach den Maßstäben des BGB - einen "angemessenen" Unterhalt (§ 1610 Abs. 1 BGB) verlangen. Die Höhe des angemessenen Unterhalts richtet sich - unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen - auf der Seite des Unterhaltsbedürftigen nach dessen Lebensstellung, die bei nicht berufstätigen Ehegatten von der des berufstätigen abhängt (Soergel/Lange, - Kommentar zum BGB, Band 6, 11. Aufl. 1981, § 1610 RdZiff 2). Ist die Ehe durch Tod eines Ehegatten aufgelöst, so behält der überlebende Ehegatte die Lebensstellung, die beide Ehegatten gemeinsam innehatten (Göppinger, Unterhaltsrecht, 4. Aufl. 1981, S. 351, RdZiff 677). Die Klägerin hat aber nicht schon deshalb keinen Unterhaltsanspruch, weil ihr Ehemann, insbesondere wohl auch wegen seines frühen Todes, nicht die Möglichkeit hatte, ihr einen höheren Rentenanspruch zu verschaffen. Denn wenn die Einkünfte der Klägerin nicht ausreichen, ihren gesamten Lebensbedarf (§ 1610 Abs. 2 BGB), also u.a. die Kosten für Ernährung, Wohnung, Kleidung, Gesundheitspflege und kulturelle Bedürfnisse (s zu letzterem § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG; Soergel/Lange, aaO, § 1610 RdZiff 3) zu befriedigen, ist sie unterhaltsbedürftig.

Der Betrag des angemessenen Unterhalts bestimmt sich zwar nach den Umständen des Einzelfalles (BGH FamRZ 1979, 692, 693). Die Praxis der Zivilgerichte hat aber eine Anzahl von Tabellen und Leitlinien entwickelt, um die unbestimmten Rechtsbegriffe der "Lebensstellung" und des "angemessenen" Unterhalts praktikabel zu machen. Für eine solche Pauschalierung treten die meisten Oberlandesgerichte ein (s die Nachweise bei Soergel/Lange, aaO§ 1610 RdZiff 5; Palandt/Diederichsen, BGB, 43. Aufl., § 1610 Anm 1; Gesamtüberblick in NJW 1984, 278, Stand: 1. Januar 1984). Auch der Bundesgerichtshof (BGH) geht in seiner Rechtsprechung davon aus, daß bei der Bemessung des angemessenen Unterhalts Richtsätze und Leitlinien zugrunde gelegt werden können, die auf die gegebenen Verhältnisse abgestimmt sind und der Lebenserfahrung entsprechen, soweit nicht im Einzelfall besondere Umstände eine Abweichung bedingen (BGH FamRZ 1979, 692, 693; FamRZ 1982, 365, 366). Solche Tabellenwerte können auch für die Elternrente im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung Anhaltspunkte für den angemessenen Mindestbedarf liefern. Die Tabellen staffeln nach Einkommen. Sollte sich herausstellen, daß der ihr zustehende Teil den monatlich notwendigen Mindestbedarf eines unterhaltsberechtigten Ehegatten nicht erreicht, so ist von diesem Mindestbedarf auszugehen (vgl. auch die Unterhaltstabelle bei Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts, 6. Aufl. 1983).

Der 9. Senat des BSG hat in einem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 27. Juni 1984 - 9b RU 38/83 - die in der sog. "Düsseldorfer Tabelle" festgehaltenen Unterhaltsrichtlinien für einen besonders geeigneten Beurteilungsmaßstab zur Feststellung des angemessenen Unterhaltsbedarfs der Berechtigten - hier: die Klägerin - erachtet. Diese Ausführungen überzeugen auch den erkennenden Senat. Ihre allgemeine Anwendung bei der Feststellung des Unterhaltsbedarfs des Unterhaltsverpflichteten zwingt notwendig zu ihrer Berücksichtigung auch bezüglich der Unterhaltsbedürftigkeit auf der anderen Seite. Dabei geht der erkennende Senat davon aus, daß die. damit vollzogene Pauschalierung des Maßes des Unterhalts i.S. von § 1610 Abs. 1 BGB eine abweichende Regelung zuläßt, wenn besondere Umstände dies im Einzelfall gebieten. Das LSG hat demnach den Unterhaltsbedarf der Klägerin entsprechend den aufgezeigten Grundsätzen zu ermitteln und festzustellen sowie zu prüfen, ob auch die sonstigen Voraussetzungen des § 596 Abs 1 RVO gegeben sind. Es wird schließlich über die Kosten apch des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.2 RU 67/84

BSG

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518261

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