Leitsatz (amtlich)

Arbeitslosigkeit im Sinne des RVO § 1248 Abs 2 setzt voraus, daß der Versicherte berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt, es sei denn, daß die vom positiven Recht anerkannte Interessenlage eine Ausnahme von diesem Erfordernis rechtfertigt. Diese Ausnahme trifft für einen Ruhestandsbeamten zu.

 

Normenkette

RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 8. Mai 1962 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die beklagte Versicherungsanstalt hat es abgelehnt, dem Kläger, der Ruhestandsbeamter ist, das beantragte vorzeitige Altersruhegeld zu gewähren. Der Kläger hat den Anspruch auf § 1248 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützt und ausgeführt, daß ihm die Rente zustehe, weil er das 60. Lebensjahr vollendet habe - er ist 1901 geboren - und er vor der Antragstellung länger als ein Jahr ununterbrochen arbeitslos gewesen sei. - Die versicherungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt.

Die Beklagte hat dagegen die Auffassung vertreten, daß der Kläger nicht als arbeitslos angesehen werden könne. Für einen Beamten, der auf Lebenszeit in das öffentliche Dienstverhältnis berufen worden sei und der das Recht auf lebenslängliche Versorgung habe, gebe es kein versicherbares Risiko der Arbeitslosigkeit.

Der Kläger war 1939 in das Beamtenverhältnis bei der Deutschen Reichsbahn übernommen worden. Vorher hatte er als Reichsbahnarbeiter der Rentenversicherung der Arbeiter angehört. Ende 1959 war er wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden; jedoch war er damals noch nicht berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO. Vielmehr hatte die Beklagte nach Anhörung ärztlicher Sachverständiger angenommen, der Kläger sei noch imstande, regelmäßig und ganztägig einfache, körperlich leichtere Arbeiten zu verrichten. - Der Kläger meldete sich nach seiner Pensionierung regelmäßig als Arbeitsuchender beim Arbeitsamt und bewarb sich außerdem immer wieder bei verschiedenen Arbeitgebern um eine Beschäftigung. Er vermochte jedoch keine seinen Fähigkeiten und eingeschränkten Körperkräften angemessene Erwerbsquelle, z. B. als Bote, Pförtner, Wächter, Lagerarbeiter, zu finden.

Die Klage hatte in den ersten beiden Rechtszügen Erfolg.

Das Landessozialgericht (LSG) entnahm - bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 1248 Abs. 2 RVO erfüllt seien - die Grundzüge des Begriffs der Arbeitslosigkeit, die es im Falle des Klägers für gegeben ansah, aus dem Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG). Von dem dort bestimmten Begriff nahm es jedoch einige Tatbestandsmerkmale aus. So sei für den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld nicht zu fordern, daß der Rentenbewerber vor der Zeit seiner Arbeitslosigkeit als Arbeitnehmer in Beschäftigung gestanden habe (§§ 75, 85 AVAVG), wie es das Gesetz für die Gewährung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung verlange. Das LSG meint, daß das, was das Bundessozialgericht (BSG) insoweit in bezug auf den Ruhegeldanspruch von Hausfrauen ausgeführt habe (BSG 15, 131; 18, 287), auf Ruhestandsbeamte erst recht zutreffe. Die Diensttätigkeit eines Beamten falle an sich unter den Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung und sei nur kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift von der Beitragspflicht freigestellt. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Kläger zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit bereit war, aber keine habe finden können und daß sein Kräfte- und Gesundheitszustand sowie sonstige Umstände ihn nicht hinderten, eine Beschäftigung im Rahmen der üblichen Arbeitsmarktgegebenheiten zu übernehmen.

Die Beklagte hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt und beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist unbegründet. Es ist nicht schlechthin auszuschließen, daß ein Ruhestandsbeamter arbeitslos in dem Sinne sein kann, in dem dieser Begriff in § 1248 Abs. 2 RVO gemeint ist.

Das Berufungsgericht ist zur Bestimmung dieses im Recht der Rentenversicherung nicht definierten Begriffs von den §§ 75, 76 AVAVG ausgegangen. Dabei hat es in Übereinstimmung mit mehreren Entscheidungen des BSG (BSG 18, 287; 20, 190) angenommen, daß für das Recht der Rentenversicherung § 75 AVAVG nicht in seiner ganzen Strenge und in seinem ganzen Umfange Platz greife. Es sei nicht notwendig, daß der Versicherte bisher, und zwar in einer nicht zu weit zurückliegenden Zeit, einer Arbeitnehmertätigkeit nachgegangen sei. Eine solche Forderung könnte zwar der Gesetzesfassung "wer berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflege, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehe" entnommen werden, als Anspruchsvoraussetzung für das Altersruhegeld genüge es aber, daß der Versicherte den Entschluß zur Aufnahme abhängiger Arbeit gefaßt habe.

Gegen diese Auffassung hat die Revision Bedenken erhoben, wie sie auch in der Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 29. Mai 1963 - 1 RA 82/60 - geäußert worden sind. Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung ist in der Tat nicht denkrichtig. Sie läßt sich nicht mit dem - ebenfalls in der Rechtsprechung entwickelten - Gedanken vereinbaren, daß das Tatbestandsmerkmal Arbeitslosigkeit in § 1248 Abs. 2 RVO dem Begriff zu entlehnen sei, der für das Recht der Arbeitslosenversicherung geprägt worden ist, und daß es sogar genau darauf ankomme, was auf diesem Rechtsgebiet jeweils beim Eintritt des Versicherungsfalles gelte (BSG 14, 53; 15, 131). Wenn in § 1248 Abs. 2 RVO eine Verweisung auf das AVAVG in einer derart präzisen, auf bestimmte Gesetzesbestimmungen "gezielten" Weise gemeint wäre, dann darf man den Kerntatbestand dieser Vorschriften bei ihrer Anwendung im Rentenversicherungsrecht nicht antasten. Soll jedoch das Arbeitslosenversicherungsrecht nur mehr oder minder unverbindliche Fingerzeige geben, dann kommt es aber auf die zu einer bestimmten Zeit geltenden Vorschriften des AVAVG nicht an.

Zu den wesentlichen Grundzügen, die den Begriff der Arbeitslosigkeit bilden, gehört sowohl nach dem Gesetzeswortlaut (§§ 75 Abs. 1, 145 AVAVG) als auch nach der Absicht des Gesetzgebers der Nachweis der Arbeitnehmereigenschaft. Diese muß in der Regel, um nicht bloß vorgegeben, sondern erwiesen zu sein, in jüngerer Vergangenheit durch eine - wenn auch verhältnismäßig kurze - entlohnte Beschäftigung verwirklicht gewesen sein (Begründung zum Regierungsentwurf des AVAVG, Drucks. 1274 - 2. Wp., 1953 - S. 88, 89 und zu § 87 a). Das Merkmal der Arbeitnehmereigenschaft ist keine unbedeutende Beiläufigkeit, von der man sich für das Recht der Rentenversicherung lösen darf. Läßt man es allein beim Entschluß zur Ausführung fremdbestimmter Lohnarbeit genügen, so wird die objektive Seite des Tatbestandes vernachlässigt; es wird lediglich auf Tatbestandsmerkmale Bezug genommen, welche nicht die Arbeitslosigkeit (§ 75 AVAVG), sondern die "Verfügbarkeit" bedingen (§ 76 AVAVG).

Auch nach der Ansicht des erkennenden Senats ist es richtig, die Verfügbarkeit mit ... in den Begriff der Arbeitslosigkeit i. S. des § 1248 Abs. 2 RVO hineinzuziehen. Das entspricht dem Plan, nach dem das AVAVG, das zur Deutung mit heranzuziehen ist, angelegt ist. In diesem Gesetz sind die Erfordernisse der Verfügbarkeit nicht aus begrifflichen Gründen aus der Definition des § 75 herausgenommen und in § 76 gesondert aufgeführt worden. Die eigene Vorschrift des § 76 erklärt sich vielmehr aus der Zielsetzung der Arbeitslosenversicherung. Diese ist bestrebt, die Arbeitslosigkeit in erster Linie durch Vermittlung von Arbeit zu beenden; die Schadensvergütung durch Geldleistung steht erst an zweiter Stelle (§ 36 AVAVG). Diesen subsidiären Charakter des Anspruchs auf die Geldleistung wollte der Gesetzgeber äußerlich dadurch unterstreichen, daß er die Bestandteile der Vermittlungsfähigkeit gesondert - logisch vorab - bestimmte und dann außerdem die noch nicht genannten Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit behandelte (Begründung zu § 88 des Regierungsentwurfs aaO S. 119). Daraus folgt, daß die den Begriff Arbeitslosigkeit kennzeichnenden Faktoren - anlehnungsweise - sowohl aus dem § 75 als auch aus dem § 76 AVAVG zu entnehmen sind.

Der erkennende Senat bestimmt bei seiner Entscheidung im gegenwärtigen Rechtsstreit den Begriff der Arbeitslosigkeit nicht ausschließlich aus den §§ 75, 76 AVAVG. Denn an dieser Stelle gibt das Gesetz die Begriffsmerkmale nicht abschließend und "umfassend" wieder (Begründung zum Regierungsentwurf aaO S. 81 f), sondern wählt bloß Tatbestandsteile aus, die es als Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld braucht. Darauf beschränkt sich erkennbar auch § 75 Abs. 1 AVAVG, indem dort ausgesprochen wird, daß es an dieser Stelle des Gesetzes um die Arbeitslosigkeit "im Sinne" einer einzelnen Vorschrift, nämlich "des § 74 Abs. 1 AVAVG" gehe. Soweit es aber auf die Arbeitnehmereigenschaft als Voraussetzung der Arbeitslosigkeit ankommt, wird man das Nähere im Gesetz nicht nur in den §§ 74 und 75 AVAVG finden. Dort erübrigt sich ein genaueres Eingehen auf diese Anspruchsbedingung, weil das in diesen Vorschriften behandelte Arbeitslosengeld nur derjenige erhält, der außerdem die Anwartschaftszeit in der Arbeitslosenversicherung erfüllt hat (§§ 74 Abs. 1, 85 AVAVG). Die Arbeitnehmerqualität hat dagegen als Grundlage für den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe unmittelbare Bedeutung. In diesem Zusammenhang, namentlich in § 145 AVAVG, bringt das Gesetz zum Ausdruck, daß das Arbeitnehmersein von Umständen abhängt, die in einer nicht länger zurückliegenden Zeit verwirklicht sein müssen (Begründung zu § 141 a Regierungsentwurf, S. 153; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit, Drucks. 2101 - 2. Wp. 1953 - zu § 141 a, S. 4). In dieser Vorschrift verlangt das Gesetz zur Anerkennung der Arbeitnehmereigenschaft eine bestimmte Mindestarbeitszeit vor der Arbeitslosmeldung. Das ist auch bei der Anwendung des § 1248 Abs. 2 RVO zu berücksichtigen. Aus § 145 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 AVAVG und der ... zur Ergänzung dieser Vorschriften ergangenen 5. Durchführungsverordnung vom 22. Mai 1958 (BGBl I 377) - hier: § 3 Nr. 2 - ergibt sich, daß ein Beamter nicht Arbeitnehmer ist, weil er nicht in "entlohnter Beschäftigung" steht; aus diesen Vorschriften folgt aber, daß der Dienst des Beamten an die Stelle der entlohnten Beschäftigung tritt. Der Beamte wird für den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe vom Gesetzgeber so angesehen, als pflege er berufsmäßig in der Hauptsache wie ein Arbeitnehmer tätig zu sein.

Diese Regelung kann unbedenklich bei der Anwendung des § 1248 Abs. 2 RVO übernommen werden. Der Kreis der schutzbedürftigen Personen wird durch das Erfordernis der vorausgegangenen entlohnten Beschäftigung eingegrenzt. Dieses Erfordernis soll die mißbräuchliche Ausnutzung der Arbeitslosenversicherung verhindern. Über diesen Personenkreis hinaus können im Verordnungswege weitere, nach der Lebenserfahrung ebenfalls der gesetzgeberischen Vorsorge bedürftige Personengruppen einbezogen werden (dazu BT-Drucks. 2101 zu § 141 a Abs. 3, S. 4). Zu diesen Personen werden die Ruhestandsbeamten gerechnet. Daß ein Beamter, der vor Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand versetzt worden ist, bestrebt ist, sich für die Einbuße an Gehalt einen Ausgleich zu schaffen, indem er die ihm verbliebene Arbeitskraft ausnutzt, ist rechtlich zulässig (Plog/Wiedow, Komm. z. Bundesbeamtengesetz Anm. 8 zu § 35 BBG) und üblich. Das positive Recht der Arbeitslosenversicherung, das dies anerkennt, beruht damit auf Erwägungen, die keine Besonderheit dieses Versicherungszweigs wiederspiegeln, sondern eine generell zutreffende Interessenbewertung und Tatbestandsbegrenzung darstellen. - Wendet man diese Regelung auf den Fall des Klägers an, dann läßt sich die Anwendung des § 1248 Abs. 2 RVO auf seine Person nicht von vornherein ausschließen.

Die übrigen Feststellungen des Berufungsgerichts, insbesondere zur Vermittlungsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft des Klägers sowie zu seinem Leistungsvermögen, die rechtlich einwandfrei getroffen und keinen Revisionsangriffen ausgesetzt sind, reichen aus zu entscheiden, daß der Tatbestand der Arbeitslosigkeit im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO erfüllt war. Da auch die sonstigen Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben waren, war der Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld gerechtfertigt.

Bei dieser Entscheidung hat sich der Senat von einer Auffassung leiten lassen, die sich nicht vollständig mit den Erwägungen deckt, welche bislang die Auslegung des § 1248 Abs. 2 RVO durch das BSG beherrscht haben (vgl. BSG 20, 190; BSG SozR § 1248 RVO Nr. 33). Auf das Ergebnis des gegenwärtigen Rechtsstreits wirkt sich indessen der Weg, der bei der Interpretation des Begriffs der Arbeitslosigkeit (§ 1248 Abs. 2 RVO) eingeschlagen wird, nicht aus. Deshalb ist es nicht erforderlich, den Großen Senat nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) anzurufen. Der Senat hat zwar erwogen, ob er die offenen Fragen dem Großen Senat gemäß § 43 SGG vorlegen solle. Er hat hiervon jedoch abgesehen und es für angebrachter gehalten, die Möglichkeiten der Erfahrungs- und Meinungsbildung nicht vorzeitig einzuengen und erst die unterschiedlichen Ansichten darüber, was unter "arbeitslos" in § 1248 Abs. 2 RVO zu verstehen ist, mit ihren praktischen und theoretischen Auswirkungen zu Tage treten zu lassen.

Die Revision war mit der auf § 193 Abs. 1 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325508

BSGE, 235

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