Leitsatz (amtlich)
Wird die Zulassung der Berufung nur in Entscheidungsgründen des SG-Urteils ausgesprochen, so ist dieser Zulassungsausspruch jedenfalls aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zu beachten.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. Mai 1975 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Dem schwerbeschädigten Kläger war die Pflegezulage durch bindenden Bescheid der Beklagten vom 17. März 1964 abgelehnt worden. Im September 1972 begehrte er die Neufeststellung des Anspruchs auf Pflegezulage wegen Zunahme seiner Hilfsbedürftigkeit. Dies lehnte die Beklagte nach versorgungsärztlicher Prüfung mangels Änderung der Verhältnisse ab (Bescheid vom 8. Februar 1973, Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 1973).
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Klage durch Urteil vom 27. September 1974 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen heißt es unmittelbar vor der Rechtsmittelbelehrung wörtlich: "Die erkennende Kammer hat die Berufung nach § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen, weil die Frage, ob bei dem vorliegenden Sachverhalt der Begriff der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als erfüllt anzusehen ist, grundsätzliche Bedeutung hat."
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 27. Mai 1975 als unzulässig verworfen, die Revision zugelassen und ausgeführt, die Berufung sei nicht rechtswirksam zugelassen. Entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse die Entscheidung über die Zulassung eines Rechtsmittels im Urteilstenor ausgesprochen werden. Nur so werde dem Formzwang des Verfahrensrechts und dem Grundsatz der Klarheit und Eindeutigkeit gerichtlicher Entscheidungen genügt. Dies müsse insbesondere seit Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde gelten. Aber selbst wenn man von der Rechtsprechung des BSG ausgehe, fehle es hier am konstitutiven Akt der Zulassung, die als prozessuale Willenserklärung des SG im Urteil zweifelsfrei zum Ausdruck kommen müsse. Die bloße Mitteilung, daß die erkennende Kammer die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen habe, genüge hierzu nicht.
Der Kläger hat gegen das ihm am 6. Juni 1975 zugestellte Urteil am 4. Juli 1975 die Revision eingelegt und zugleich begründet. Er rügt die Abweichung des LSG von der ständigen Rechtsprechung des BSG zur Berufungszulassung in den Entscheidungsgründen und beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß hier angesichts der Berufungsausschlußvorschrift des § 148 Nr. 3 SGG - Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse - die Zulässigkeit der Berufung von ihrer wirksamen Zulassung im Urteil des SG abhängig ist (§ 150 Nr. 1 SGG). Übereinstimmend mit der Rechtsprechung des BSG hat das LSG die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG als prozessuale Nebenentscheidung des SG (vgl. BSG 4, 206, 209; 261, 262; 8, 135, 137 mit weiteren Hinweisen) und nicht als Belehrung über die Möglichkeit der Berufungseinlegung oder nur als Maßnahme gerichtlicher Verwaltungstätigkeit erachtet.
Auszugehen ist davon, daß die Zulassung der Berufung eine Entscheidung des SG ist, die ihrer Natur nach in den Urteilstenor gehört, weil sie Teil der gerichtlichen Verfügung über das Ergebnis des Verfahrens ist. Daraus folgt jedoch noch nicht, wie das LSG offenbar gemeint hat, daß nur von der Berufungszulassung im Urteilstenor die Rechtswirkung der Eröffnung des Berufungsrechtszuges ausgehen kann. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG genügt es, daß die Zulassung in den Entscheidungsgründen des SG-Urteils ausgesprochen ist und sich damit eindeutig aus dem Urteil ergibt (vgl. auch BSG 2, 68, 69, 121, 125; 4, 206, 210, 261, 263; 8, 135, 137, 147, 149, 154, 158; SozR Nrn. 10, 37, 41 und 51 zu § 150 SGG).
Auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit und in der Zivilgerichtsbarkeit geht die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes dahin, daß die Rechtsmittelzulassung zwar regelmäßig im Tenor auszusprechen ist, sich aber auch aus den Urteilsgründen ergeben kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 22. April 1970 - VG 80.68 - und vom 14. Juni 1972 - VG 24.71 - in Buchholz 310 Nr. 13 und 15 zu § 134 VwGO; BGH, Urteil vom 10. März 1956 - IV ZR 268/55 - NJW 56, 831; BFH, Urteil vom 12. Juni 1963 in BStBl 1963 III, 410). Hiervon weicht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nicht grundsätzlich ab. Denn sie läßt ebenfalls die Rechtsmittelzulassung in den Gründen genügen (vgl. BAG 1, 33; 2, 358; 9, 205, 209), verlangt aber wegen der Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens ihre Verkündung (vgl. dazu § 61 Abs. 3 ArbGG und BVerfG, Beschluß vom 27. April 1976 - 2 BvR 342/74).
Die Bedenken, die das LSG gegen einen nur in den Entscheidungsgründen mitgeteilten Zulassungsausspruch deshalb erhoben hat, weil insoweit keine prozeßordnungsgemäß verlautbarte Entscheidung vorliege, die die Beschlußfassung des SG sachgerecht belege, und damit die notwendige Klarheit und Eindeutigkeit der Entscheidung vermissen lasse, verdienen Beachtung. Aber selbst wenn diese Bedenken als durchgreifend erachtet würden und die Gründe, aus denen das BSG im Anschluß an die Rechtsprechung des BGH die Zulassung in den Entscheidungsgründen als ausreichend angesehen hat (vgl. BSGE 8, 148, 149), nach erneuter Prüfung der Rechtslage nicht zu überzeugen möchten, so ergäbe sich daraus noch nicht, daß der hier vorliegende Zulassungsausspruch allein wegen der Fehlerhaftigkeit seiner Verlautbarung der rechtlichen Wirkung entbehrte und vom Berufungsgericht nicht zu beachten wäre. Die - entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes "im Urteil" enthaltene - Zulassungsentscheidung begründet für den urteilsbeschwerten Beteiligten eine Rechtsposition, die des Vertrauensschutzes bedarf. Dieser Vertrauensschutz, der sich auf den Inhalt des zugestellten Urteils gründet - und der sich nicht zuletzt auf eine jahrelange oberstgerichtliche Rechtsprechung stützen kann, die die Zulassung in den Entscheidungsgründen als ausreichend angesehen hat -, ist im Einzelfall gewichtiger als der Umstand, daß es an einer ordnungsgemäßen Verlautbarung der Zulassungsentscheidung fehlt.
Aus dem vom LSG angesprochenen Grundsatz der Klarheit und Eindeutigkeit gerichtlicher Entscheidungen läßt sich die Rechtsunwirksamkeit einer Zulassungsentscheidung in den Urteilsgründen nicht herleiten. Denn dieser Grundsatz ist eine Erscheinungsform des Prinzips der Rechtssicherheit. Nach der Auffassung des Senats erfordert es aber gerade dieses Prinzip, daß den Prozeßbeteiligten nicht zugemutet wird, eine in den Urteilsgründen ausgesprochene und näher begründete, aber nicht in den Urteilstenor aufgenommene Berufungszulassung auf ihre rechtliche Wirksamkeit nachprüfen und im Vertrauen auf die Zulassung gemachte Aufwendungen - wie etwa die Bestellung eines Anwalts und die Beschaffung von Beweismitteln, z. B. in Gestalt umfangreicher und teurer medizinischer Beurteilungen -, letztlich selbst tragen zu müssen. Eine Formstrenge in der vom LSG vertretenen Art wäre auch keinesfalls mit dem aus den §§ 112 Abs. 2 Satz 2 und 123 SGG folgenden Angewiesensein der Beteiligten auf den dem Gericht unterstellten rechtlichen Überblick vereinbar. Deshalb müssen sich die Beteiligten des sozialgerichtlichen Verfahrens darauf verlassen dürfen, daß das SG die in seinem Urteil mitgeteilte Entscheidung der Berufungszulassung an der richtigen Stelle und somit rechtswirksam getroffen hat, zumal sie hierauf keinen Einfluß haben (vgl. auch BGH in NJW 56, 831). Die Rechtssicherheit erfordert den Schutz des Vertrauens der Beteiligten auf die Rechtswirksamkeit der Berufungszulassung. Sie leidet mehr darunter, daß trotz eines ausdrücklichen Zulassungsausspruchs und der damit richterlich kundgetanen Überprüfungswürdigkeit des Urteils den Beteiligten der Weg zu einer solchen (sachlichen) Überprüfung verschlossen bleibt, als darunter, daß im Einzelfall eine fehlerhafte Verlautbarung der Zulassungsentscheidung in Kauf genommen würde. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß auch der "Gewährleistung" der jahrelangen Rechtsprechung des BSG zu der hier streitigen Frage insofern Bedeutung zuzumessen ist, als sie der Gleichbehandlung der Rechtsuchenden dient. Es erscheint nicht gerechtfertigt, den Kläger schlechter zu stellen als zahlreiche andere Rechtsuchende, denen bei einem Zulassungsausspruch, wie er hier erfolgt ist, der Berufungsweg nicht verschlossen war.
Endlich vermag der Senat auch der Auffassung des LSG nicht zuzustimmen, selbst nach der Rechtsprechung des BSG sei im vorliegenden Fall eine Berufungszulassung nicht erfolgt; in dem Satz, "Die erkennende Kammer hat die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen", komme nicht ein konstitutiver prozessualer Willensakt des SG zum Ausdruck, sondern nur die Mitteilung einer bereits anderweit getroffenen Entscheidung. Unabhängig davon, ob die Zulassungsentscheidung verfahrensrechtlich einwandfrei im Urteilstenor verkündet bzw. schriftlich mitgeteilt wird (vgl. §§ 124 Abs. 2 und 126 SGG) oder ob sie fehlerhaft nur in den Entscheidungsgründen erfolgt, handelt es sich doch stets um die Mitteilung der in der Beratung des SG erfolgten prozessualen Willensbildung, also in jedem Falle nur um die Verlautbarung, daß das SG sich - zuvor in der Beratung - für die Berufungszulassung entschieden habe. Somit kann es rechtlich keinen Unterschied machen, ob den Beteiligten im Tenor oder in den Urteilsgründen die Zulassung der Berufung in der Gegenwartsform oder in einer anderen Zeitform mitgeteilt wird.
Nach alledem hat das LSG, wie die Revision zu Recht beanstandet, die Berufung des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen. Sein Urteil unterliegt daher der Aufhebung. Zugleich muß der Rechtsstreit zur Sachprüfung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Sachentscheidung vorbehalten.
Fundstellen