Leitsatz (amtlich)
Zum Begriff "offenkundig" iS des RVO § 589 Abs 2 S 2 (Anschluß an BSG 1968-03-14 5 RKn 92/66 = BSGE 28, 38 = SozR Nr 4 zu § 589 RVO).
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. Dezember 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger ist ein uneheliches Kind des am 30. November 1963 verstorbenen früheren Sandsteinschleifers Helmut W. Er begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft Waisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, weil der Tod des Versicherten die Folge einer zuletzt mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. als Berufskrankheit (BK) anerkannt gewesenen Silikose II mit allgemeiner Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit sei.
Der Versicherte hatte sich seit dem 9. November 1963 im Hafenkrankenhaus in H wegen Oberbauchbeschwerden in stationärer Behandlung befunden. Nach der Krankengeschichte hatte er seit fünf Wochen über Appetitlosigkeit und Unwohlsein geklagt und seit etwa zwei Wochen bei sich eine immer größer werdende Geschwulst im rechten Oberbauch beobachtet. Bei einer am 25. November 1963 durchgeführten Probelaparatomie war ein von der rechten Niere ausgehender, etwa kindskopfgroßer Tumor festgestellt worden, der nicht mehr zu operieren war.
Mit Bescheid vom 7. September 1964 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Waisenrente mit der Begründung ab, daß als Todesursache eine Nierengeschwulst (hypernephroides Sarkom) festgestellt worden sei, der Tod mithin keine Folge der BK gewesen sei.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Medizinaldirektors Dr. H hat das Sozialgericht (SG) unter Aufhebung des Bescheides vom 7. September 1964 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) nach Anhörung des Facharztes für innere Krankheiten Dr. M das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Nach den tatsächlichen Gegebenheiten, wie sie sich aus den Gutachten und Stellungnahmen der ärztlichen Sachverständigen ergäben, sei entgegen der vom SG vertretenen Ansicht "offenkundig" i. S. des § 589 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), daß der Tod des Vaters des Klägers mit der anerkannten BK nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe. Nach den ärztlichen Gutachten sei bereits zu Lebzeiten des Versicherten festgestellt worden, daß das damalige Nierenleiden nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der BK gestanden habe. Der Versicherte sei an einer bösartigen Nierengeschwulst verstorben. Bei der kurz vor dem Tode durchgeführten Operation (Probelaparotomie) und der histologischen Untersuchung des dabei entnommenen Gewebes sei festgestellt worden, daß der Versicherte an einem polymorphzelligem Sarkom erkrankt sei, das durch seine Wachstumsgeschwindigkeit, seine Verbreitung im Organismus und in seinen Auswirkungen auf diesen wesentlich bösartiger sei als ein gewöhnlicher Organkrebs. Nach der Bekundung des Sachverständigen Dr. M müsse ein von einem solchen Sarkom Befallener auch ohne zusätzliche Schwächung durch andere Krankheiten ihm binnen gleich kurzer Frist erliegen, es sei denn, daß es im frühesten Stadium radikal entfernt werde; dafür habe sich der Versicherte zu spät in ärztliche Behandlung begeben. Was die Förderung der krebsigen Entartung von Zellen durch Sauerstoffmangel betreffe, habe Dr. M zur Überzeugung klargestellt, daß es hierbei auf einen Sauerstoffmangel in der Zelle ankomme, der nicht mit einer Behinderung der Atmung gleichgestellt werden dürfe. Es sei statistisch nachgewiesen, daß Personen mit Atembehinderung nicht häufiger als Personen ohne eine solche an Krebsen außerhalb der Atemwege erkranken; insoweit vermöge das Berufungsgericht dem Medizinaldirektor Dr. H nicht zu folgen. Bei diesen Gegebenheiten sei offenkundig, daß das an der Niere entstandene Sarkom in seiner Entstehung durch die auf die Atemwege einwirkende Silikose nicht gefördert worden sei und daß es auch ohne die Schwächung des Körpers durch die Silikose zum Tode geführt hätte; ein Zusammenhang zwischen der als BK anerkannten Silikose und dem Tod bestehe also nicht.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt der Kläger,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Er rügt, das LSG habe § 589 Abs. 2 RVO verletzt; es nehme zu Unrecht den Standpunkt ein, daß der Tod des Versicherten mit der anerkannten Silikose offenbar nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Wenn der medizinische Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht ausgeführt habe, daß das Nierensarkom, welches den Tod des Versicherten ausgelöst habe, in keinem ursächlichen Zusammenhang zu dessen Silikose gestanden habe, so könne ihm nicht gefolgt werden. Auch dem gebildeten medizinischen Laien sei bekannt, wie sehr die Entstehung des Krebses in der medizinischen Wissenschaft umstritten sei. Es liege aber durchaus im Bereich des Möglichen, daß heute vertretene und wahrscheinlich klingende und deshalb auch überzeugende Hypothesen der materiellen Grundlage entbehren. Der Versicherte sei durch die BK in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit auch allgemein eingeschränkt gewesen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die herabgeminderte allgemeine Leistungsfähigkeit, wenn auch nicht für die weitere Entwicklung, so doch für die Entstehung des tödlichen Nierensarkoms ursächlich oder auch nur mitverursachend sei.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Der Anspruch des Klägers auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hängt davon ab, ob die mit einer MdE von zuletzt 50 v. H. verbundene Silikose des Versicherten eine Berufskrankheit nach Nr. 34 der Anlage zur Sechsten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 28. April 1961 (BGBl I 505), rechtlich wesentliche Ursache seines Todes ist. Nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO wird das Vorliegen dieses Kausalzusammenhangs vermutet. Diese Vermutung ist allerdings nach Satz 2 des § 589 Abs. 2 RVO als widerlegt anzusehen, wenn "offenkundig" ist, daß die Berufskrankheit nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist.
§ 589 Abs. 2 RVO ist nach Art. 4 § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30. April 1963 (BGBl I 241) auch auf Fälle anzuwenden, in denen, wie hier, der Versicherte bereits vor dem 1. Juli 1963, dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, an einer entschädigungspflichtigen Silikose mit einer MdE von mindestens 50 v. H. gelitten hat, wenn der Tod des Versicherten nach dem 30. Juni 1963 eingetreten ist (BSG 24, 88 = SozR Nr. 1 zu § 589 RVO). Das ist der Fall; denn der Versicherte ist am 30. November 1963 gestorben.
Die Voraussetzungen des Begriffs "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO liegen, wie der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 14. März 1968 (BSG 28, 38 = SozR Nr. 4 zu § 589 RVO) entschieden hat, dann vor, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit auch nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Nach dem angeführten Urteil ist es auch unbedenklich, wenn das Gericht bei einer nur ganz entfernten, d. h. einer lediglich theoretischen Möglichkeit, daß die Silikose den Tod des Versicherten in dem oben angegebenen Sinne verursacht hat, annimmt, der Tod des Versicherten sei ohne jeden ernsthaften Zweifel nicht durch die Silikose in dem oben angegebenen Sinne verursacht worden. Der erkennende Senat tritt dem Urteil des 5. Senats vom 14. März 1968 bei. Die darin entwickelten Grundsätze hat das LSG zutreffend erkannt und auch auf den vorliegenden Fall richtig angewendet. Es hat auf Grund der Stellungnahmen der zu Lebzeiten des Versicherten gehörten Sachverständigen und des Gutachtens des in der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 1966 gehörten Facharztes für innere Krankheiten Dr. M festgestellt, daß das an der Niere entstandene Sarkom in seiner Entstehung durch die auf die Atemwege einwirkende Silikose nicht gefördert worden sei und auch ohne die Schwächung des Körpers durch die Silikose zum Tode geführt hätte; denn die Tödlichkeit dieses Sarkoms sei so groß, daß der von ihm Befallene auch ohne zusätzliche Schwächung durch andere Krankheiten ihm unweigerlich binnen kurzer Frist erliege. Die aus diesen Feststellungen gezogene Folgerung des LSG, daß "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO ein Zusammenhang zwischen der als BK anerkannten Silikose und dem Tod nicht bestehe, ist frei von Rechtsirrtum.
Das Berufungsgericht hat den Begriff der Offenkundigkeit in dem dargelegten Sinne zutreffend angewendet. Mag auch die Ätiologie von Krebserkrankungen noch weitgehend ungeklärt sein, so trifft es doch nach der heutigen allgemein anerkannten medizinischen Auffassung zu, daß im vorliegenden Falle Keine ernstlich ins Gewicht fallenden Zweifel daran bestehen, daß die Silikose den Tod des Versicherten im medizinischen Sinne nicht in erheblichem Maße verursacht und auch sein Leben nicht um wenigstens ein Jahr verkürzt hat.
Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen