Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang und Ertrag einer selbständigen Erwerbstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Wer mit einem 50 vH überschreitenden Anteil am Stammkapital einer GmbH zugleich - ohne Entgelt - Geschäftsführer der GmbH ist, übt eine selbständige Erwerbstätigkeit iS von § 1247 Abs 2 Satz 3 (= Satz 2 aF) RVO aus.
Orientierungssatz
Auf den Umfang und den Ertrag einer selbständigen Erwerbstätigkeit kommt es in § 1247 Abs 2 S 2 aF (S 3 nF) nicht an.
Normenkette
RVO § 1247 Abs 2 S 3 Fassung: 1983-12-22; RVO § 1247 Abs 2 S 2 Fassung: 1972-10-16; GmbHG § 13
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 29.03.1985; Aktenzeichen L 8 J 562/84) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 30.11.1983; Aktenzeichen S 13 J 2153/82) |
Tatbestand
Streitig ist die Frage der Erwerbsunfähigkeit (EU) eines Gesellschafters einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH).
Dem 1927 geborenen Kläger, gelernter Mechaniker und seit 1959 Inhaber einer mechanischen Werkstätte, hatte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) im Jahre 1966 Rente wegen EU bewilligt und sie 1971 wegen Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) umgewandelt. Eine 1979 durchgeführte ärztliche Kontrolluntersuchung ergab aber eine Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers, aufgrund derer er nur noch fähig erachtet wird, bis zu zwei Stunden täglich eine überwachende Tätigkeit zu verrichten.
Im Januar 1979 wurde dem Betrieb die Rechtsform einer GmbH gegeben. Laut dem notariellen Gesellschaftsvertrag vom 3. Januar 1979 waren am Stammkapital von 100.000,-- DM der Kläger mit 80.000,-- DM und seine Ehefrau R mit 20.000,-- DM beteiligt. Einziger Geschäftsführer - ohne Gehalt - war der Kläger. Laut weiterem notariellem Vertrag vom 10. Juli 1981 schenkte der Kläger seinem Sohn K - unter Vorbehalt des Widerrufs für den Fall des Ausscheidens - von seinem Geschäftsanteil einen neugebildeten Anteil von 20.000,-- DM; der Sohn wurde zugleich zum weiteren Geschäftsführer mit Alleinvertretungsbefugnis bestellt.
Im Mai 1981 beantragte der Kläger bei der Beklagten, seine Rente wieder in eine Rente wegen EU umzuwandeln. Mit dem streitigen Bescheid vom 19. April 1982, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 20. September 1982, lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, daß der Kläger noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe.
Klage und Berufung hiergegen sind ohne Erfolg geblieben. Im angefochtenen Urteil vom 29. März 1985 hat das Landessozialgericht (LSG) die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 30. November 1983 wie folgt bestätigt: Nach § 1247 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, jetzt Satz 3 nF, sei nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Tätigkeit ausübe. Das sei beim Kläger der Fall. Als Gesellschafter-Geschäftsführer übe er eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, weil er nach seiner Kapitalbeteiligung einen maßgeblichen Einfluß auf die Entscheidungen der Gesellschaft habe. Dabei genüge, daß er mit 60 vH des Stammkapitals unternehmerische Entscheidungen verhindern könne (Hinweis auf BSGE 38, 53; BSG SozR § 165 RVO). Jedenfalls bei der GmbH als Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit bedürfe es, nicht anders wie beim Einzelunternehmer, nicht der "tatsächlichen Wahrnehmung" der Geschäftsführung. § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO aF erfasse auch alle Personen, die eine Gesellschaft durch andere betreiben ließen und dadurch Einkünfte erzielten (Hinweis auf BSG SozR 2200 § 1247 Nr 32).
Das LSG hat in dem Urteil die Revision zugelassen.
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er bringt vor, nicht ersichtlich sei, daß das Bundessozialgericht (BSG) zur Frage der selbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO aF im Falle einer Kapitalgesellschaft bereits eine Entscheidung getroffen hätte. Gerügt werde die Verletzung der soeben genannten Vorschrift. Durch die am 10. Juli 1981 vollzogene Änderung der Satzung der GmbH könne nunmehr einzelnen Geschäftsführern Alleinvertretungsbefugnis eingeräumt werden. Dies sei in bezug auf seinen Sohn K geschehen. Durch die genannte Satzungsänderung sei also seinem Sohn "freie Hand" geschaffen worden. Er selbst habe durch die Satzungsänderung das Alleinvertretungsrecht verloren; da alle Beschlüsse der Gesellschaftsversammlung mit einer 2/3-Mehrheit gefaßt werden müßten, vermöge er angesichts seiner Beteiligung von 60 vH an der GmbH nicht, seine Geschäftsführerposition zu ändern und zur Alleinvertretungsbefugnis zu stärken. Auf der anderen Seite erweise sich "die Geschäftsführung" der GmbH als von ihm in keiner Weise abhängig. Er, Kläger, könne weder mit sich allein eine beschlußfähige Gesellschafterversammlung abhalten, noch könne er allein irgendwelche rechtswirksamen Beschlüsse herbeiführen, geschweige denn allein durch eine entsprechende Satzungsänderung die Gegebenheiten zu seinen Gunsten abändern. Eine "Verweigerungsbeteiligung" stelle sich letztlich als eine ganz und gar theoretische Position dar. Ganz abzulehnen sei die Anwendung der vom BSG für ein Einzelunternehmen entwickelten Grundsätze auf die Kapitalgesellschaft. Bei einer GmbH bedürfe es im Gegensatz zu einer Personengesellschaft der tatsächlichen Wahrnehmung der selbständigen Erwerbstätigkeit. Hieran fehle es nachgewiesenermaßen sowohl im tatsächlichen wie im rechtlichen Bereich. Er übe keine selbständige Erwerbstätigkeit aus.
Der Kläger beantragt: 1. Auf die Revision des Klägers wird die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Sozialgerichts Freiburg vom 30. November 1983 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. März 1985 sowie unter Aufhebung der diesen Urteilen zugrundeliegenden Bescheide verurteilt, die dem Kläger gewährte Berufsunfähigkeitsrente ab dem 1. September 1981 in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umzuwandeln, hilfsweise, auf die Revision werden die Urteile des Sozialgerichts Freiburg vom 30. November 1983 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. März 1985 sowie die zugrundeliegenden Bescheide aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen. 2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Nach § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit, Gebrechen oder Schwäche auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben (Alternative 1) oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (Alternative 2). Nach den Feststellungen des LSG sind "die medizinischen Voraussetzungen" dieser Vorschrift erfüllt. Dennoch steht dem Kläger Rente wegen EU nicht zu: Nach Satz 2 aaO in der vor dem Inkrafttreten des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532) geltenden Fassung (aF = Satz 3 in der ab 1. Januar 1984 geltenden neuen Fassung -nF-) ist nämlich nicht erwerbsunfähig, "wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt".
Nach gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung bedarf es in bezug auf diese Vorschrift keiner Prüfung des Umfangs und des Ertrags der unternehmerischen Tätigkeit: Eine selbständige Erwerbstätigkeit bietet nämlich "zu leicht noch" die Möglichkeit zu Erwerbseinkünften selbst dann, wenn die medizinischen Voraussetzungen der EU iS von § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO vorliegen; wer noch selbständig erwerbstätig ist, soll selbst in diesem Fall keine Rente beziehen dürfen, die Erwerbseinkünfte zu ersetzen bestimmt ist (vgl BSGE 51, 190 = SozR 2200 § 1247 Nr 32; SozR aaO Nr 34).
§ 1247 Abs 2 Satz 2 RVO aF definiert freilich nicht, was "selbständige Erwerbstätigkeit" ist. Auch vergleichbare andere Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung enthalten keine Definition (vgl § 1227 Abs 1 Nr 9 RVO; § 2 Abs 1 Nr 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG-). In Fällen, in denen es um die Frage einer selbständigen Erwerbstätigkeit bei einem Einzelunternehmer ging, ist in der Rechtsprechung darauf abgestellt worden, ob die fragliche Tätigkeit im eigenen Namen und auf eigene Rechnung ausgeübt wird (BSGE 45, 239 = SozR § 1247 Nr 19). Abweichend davon hat die Rechtsprechung angenommen, daß bei einem Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft maßgebend sei, ob der Rentenbewerber kraft seiner Stellung in der Gesellschaft die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehörenden Handlungen vornehme; die Tätigkeit innerhalb einer Prokura reiche aber nicht aus (BSGE 50, 284f = SozR 5750 Art 2 § 9a Nr 11). Für den hier zu beurteilenden Fall des - mit der Befugnis zur Geschäftsführung ausgestatteten - Gesellschafters einer Kapitalgesellschaft mit eigener juristischer Rechtspersönlichkeit (§ 13 GmbH-Gesetz) liegen die Dinge insoweit noch schwieriger: Die reine Kapitalnutzung für sich allein kann noch keine "Erwerbstätigkeit" sein, andererseits wirft die Tatsache, daß der GmbH-Gesellschafter die Stellung zugleich eines Geschäftsführers hat (vgl §§ 6, 35 ff GmbH-Gesetz), die Frage nach einer Weisungsgebundenheit, also einer unselbständigen Tätigkeit auf (vgl § 37 GmbH-Gesetz; zu diesem Problem auch BVerwG in Buchholz 427.3 Nr 24).
Diese Überlegungen führen zu folgender Lösung des konkreten Falles: Der Kläger ist mit einem Anteil am Stammkapital der GmbH von 60 vH - im Vergleich von je 20 vH der Ehefrau und des Sohnes - in der Lage, in der Gesellschafterversammlung entscheidenden Einfluß auszuüben (vgl dazu BSG, Urteil vom 22. November 1974 - 1 RA 251/73; SozR 2100 § 7 Nr 7; BSGE 38, 53 = SozR 4600 § 56 Nr 1). Hinzu kommt, daß er zum Geschäftsführer bestellt ist. Bei seinem 50 vH überschreitenden Anteil am Stammkapital und seinem daraus resultierenden entscheidenden Einfluß auch in der Gesellschafterversammlung kann seine Tätigkeit in der Gesellschaft auch nicht deswegen den Charakter einer eigenunternehmerischen Betätigung dadurch verloren haben, daß er als Geschäftsführer grundsätzlich den Weisungen der Gesellschafterversammlung unterworfen ist. Hinzu kommt, daß sich seine Geschäftsführerposition bei fehlendem Gehalt auch nicht als abhängige Beschäftigung iS von § 2 Abs 1 Nr 1 AVG kennzeichnen läßt. Die unentgeltliche Tätigkeit und Position als Geschäftsführer weist den Kläger im Verein mit seinem 60 vH-Anteil am Geschäftskapital aber auch als einen Gesellschafter aus, der nicht nur die Erträgnisse seines Kapitalanteils passiv nutzt, sondern in der Gesellschaft "aktiv" erwerbstätig ist. Auf den Umfang dieser Aktivitäten kommt es, wie ausgeführt, nicht an. Die Alleinvertretungsbefugnis, die der Sohn K als weiterer Geschäftsführer eingeräumt erhalten hat, wirkt nur nach außen und schmälert den starken Einfluß des Klägers in der Gesellschaft nicht. Außerdem ist nicht zu übersehen, daß der Kläger dem Sohn einen Geschäftsanteil nur unter dem Vorbehalt des Widerrufs für den Fall des Ausscheidens geschenkt hatte. Hierdurch ist auch dessen Gesellschafter-Stellung belastet.
Nach allem hat das LSG zu Recht angenommen, daß der Kläger eine selbständige Erwerbstätigkeit iS von § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO aF ausübt, deswegen nicht erwerbsunfähig ist und noch keine Rente nach § 1247 Abs 1 RVO beanspruchen kann. Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen