Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung. Erlangung eines Arbeitsplatzes
Orientierungssatz
Eine abweichende ärztliche Beurteilung, die nicht auf einer Besserung des Krankheitszustandes und auch nicht auf Anpassung und Gewöhnung beruht, reicht grundsätzlich zur Begründung einer Änderung in den Verhältnissen iS des RVO § 1286, die wesentlich ursächlich für den Wegfall der BU ist, nicht aus.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 17.02.1977; Aktenzeichen V IBf 151/75) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 27.10.1975; Aktenzeichen S 18 J 1799/74) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Februar 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU). In seinem beruflichen Werdegang begann der Kläger 1944 eine Lehre als Maschinenschlosser, die er 1947 abbrach. Ab Mitte 1949 wurde er in einjähriger Anlernzeit zum Klischeefräser und Klischeemonteur ausgebildet. In diesem Beruf arbeitete er bis zu seiner Erkrankung im Jahre 1968. Von April 1957 bis Juni 1960 absolvierte er ein Fernstudium als Maschinenbautechniker.
Mit Bescheid vom 14. Februar 1969 bewilligte die Beklagte dem Kläger wegen einer endogenen Depression ab 1. September 1968 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU). Im Gutachten vom 25. November 1969 gelangte Dr. R zu dem Ergebnis, der psychische Zustand des Klägers habe sich gebessert und er sei nun fähig, leichte Männerarbeiten im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen sowie im "Leistungsumfang eines vergleichbaren Gesunden von weniger als halbtägiger Dauer" zu verrichten. Daraufhin wandelte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Dezember 1969 die Rente des Klägers ab 1. Februar 1970 in Rente wegen BU um.
Seit dem 8. Juli 1970 ist der Kläger bei der Firma M als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Er arbeitet in der Warenannahme und hat insbesondere die Übereinstimmung angelieferter Waren mit den Begleitpapieren zu prüfen sowie die Waren dem dafür bestimmten Lagerbereich zuzuführen. Mit Bescheid vom 13. November 1974 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente wegen BU mit Ablauf des Monats Dezember 1974, weil in seinen Verhältnissen eine Änderung dadurch eingetreten sei, daß er ohne Gefährdung seiner Gesundheit wieder einfache geistige und leichte körperliche Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen in ausreichendem Maße verrichten könne. Dies werde durch die Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter bewiesen.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat in der angefochtenen Entscheidung das Urteil des SG und den Entziehungsbescheid der Beklagten aufgehoben. Das Berufungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, eine zur Rentenentziehung berechtigende Änderung in den Verhältnissen iS des § 1286 Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) lasse sich nicht allein aus der Ausübung einer Erwerbstätigkeit herleiten, selbst wenn diese für den Versicherten zumutbar iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO sei. Neue Kenntnisse und Fähigkeiten habe der Kläger nicht erworben. Bei der Firma R sei er relativ kurz in den Betriebsablauf der Wareneingangskontrolle und der Verteilung von Waren auf die Lagerbereiche eingewiesen worden. Zwar erfordere seine Tätigkeit Gründlichkeit und Genauigkeit; dabei handele es sich aber um persönliche Eigenschaften, die die Arbeitsweise beträfen und die der Kläger bereits vor Beginn der jetzigen Beschäftigung besessen habe. Das gelte auch für seine betriebsorganisatorischen Kenntnisse, die ihm in der Wareneingangskontrolle zugute kämen. Erst wenn die Einweisung und Einarbeitung einen Zeitraum von wenigstens 3 Monaten erfordere, werde im allgemeinen davon ausgegangen werden können, daß hierdurch neue Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt worden seien. Das treffe auf den Kläger nicht zu. Auch in seinen gesundheitlichen Verhältnissen habe sich gegenüber dem Zustand zur Zeit der Rentenumwandlung keine rechtserhebliche Änderung ergeben.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision. Sie rügt die unrichtige Auslegung und Anwendung des § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO. Ihrer Ansicht nach stellt das Erlangen eines Arbeitsplatzes jedenfalls dann eine rechtserhebliche Änderung in den Verhältnissen dar, wenn der Versicherte dadurch in die Lage versetzt wird, auf einem neuen Tätigkeitsgebiet mit einer zumutbaren Arbeit Erwerbseinkommen zu erzielen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 17. Februar 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hamburg vom 27. Oktober 1975 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG Hamburg vom 7. Februar 1977 zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Wenn es zulässig sein sollte, ihn auf die jetzt ausgeübte Tätigkeit zu verweisen, so habe das bereits zur Zeit der Rentenumwandlung geschehen können. In der bloßen Aufnahme einer Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter könne kein Umstand gesehen werden, auf den sich der Fortfall der BU kausal zurückführen lasse.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet, denn die Voraussetzungen, unter denen nach § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO dem Kläger die Rente wegen BU entzogen werden kann, sind nicht erfüllt. Im Vergleich zum Zeitpunkt der Rentenumwandlung im Dezember 1969, auf den es hier ankommt (vgl BSGE 28, 292), fehlt es an einer Änderung in den Verhältnissen des Klägers, die wesentlich ursächlich für den Wegfall der BU ist.
Nach den für den erkennenden Senat gem § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen des LSG ist weder in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers seit der Rentenumwandlung eine rechtserhebliche Änderung eingetreten, noch übt er aufgrund neuer Kenntnisse und Fähigkeiten eine zumutbare Erwerbstätigkeit aus. Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß eine abweichende ärztliche Beurteilung, die nicht auf einer Besserung des Krankheitszustandes und auch nicht auf Anpassung und Gewöhnung beruht, grundsätzlich zur Begründung einer Änderung iS des § 1286 RVO nicht ausreicht. Deshalb kann die Rentenentziehung nicht damit begründet werden, daß Dr. R im November 1969 beim Kläger einen Leistungsumfang von weniger als halbtägiger Dauer und Dr. F in späteren Gutachten nach der Rentenumwandlung Einsatzfähigkeit in vollen Schichten angenommen hat. Zwar kann die Beschäftigung des Klägers seit 1970 bei der Firma R dafür sprechen, daß er gesundheitlich tatsächlich einer Belastung im Umfang der vollen üblichen Arbeitszeit gewachsen ist. Wie das LSG ausgeführt hat, beweist aber diese Arbeitsleistung die erforderliche Änderung nicht. Insoweit bedurfte es auch keiner zusätzlichen Feststellungen mehr, weil die Entscheidung des LSG unter beiden hier denkbaren Gesichtspunkten zutreffend ist: Da das LSG - unangegriffen von der Revision - eine rechtserhebliche Änderung im medizinischen Bereich verneint hat, war der Kläger entweder im Dezember 1969 schon in der Lage, in vollen Schichten zu arbeiten, oder aber eine solche Belastung konnte ihm auch bei Erlaß des angefochtenen Urteils noch nicht zugemutet werden. Die Entziehung der Rente wegen BU setzt voraus, daß der Versicherte bei der Rentenbewilligung oder -umwandlung berufsunfähig gewesen ist (vgl BSG SozR Nr 14 zu § 1286 RVO mwN.), weil nur dann die Änderung in den Verhältnissen kausal für die Beseitigung der BU sein kann. Konnte der Kläger schon 1969 in vollen Schichten arbeiten, dann ist die Rente zu Unrecht umgewandelt und nicht entzogen worden, wenn die jetzige Tätigkeit ihm im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO zugemutet werden kann. Dann hätte der Kläger auch 1969 schon darauf verwiesen werden können. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (vgl BSG 35, 277, 278 f mwN) kann der Versicherungsträger die Rente nicht nach § 1286 Abs 1 RVO entziehen, wenn er bei der Rentenbewilligung oder -umwandlung von Verhältnissen ausgegangen ist, die zwar die Annahme von BU gerechtfertigt hätten, objektiv aber nicht bestanden haben. Weder das angefochtene Urteil noch das Revisionsvorbringen der Beklagten geben Veranlassung, für die Rentenumwandlung 1969 eine unrichtige Subsumtion richtig erkannter Verhältnisse unter die Vorschrift des § 1246 Abs 2 RVO in Erwägung zu ziehen, die eine spätere Rentenentziehung rechtfertigen könnte (vgl BSGE aaO). Kann dem Kläger - das ist die zweite Möglichkeit - ein voller Arbeitseinsatz nicht abverlangt werden, ist er also etwa auf Kosten seiner Gesundheit erwerbstätig, dann ist ebenfalls die Rentenentziehung rechtswidrig, weil der Kläger in diesem Fall nicht auf die Beschäftigung bei der Firma R verwiesen werden kann.
Da unter die Änderung in den Verhältnissen iS des § 1286 RVO jeder nach der Rentengewährung eintretende Umstand fällt, der die Erwerbsfähigkeit des Versicherten erhöht, gehören auch neue Kenntnisse und Fertigkeiten hierzu (BSG SozR 2600 § 86 Nr 1). Das LSG ist zutreffend von der Rechtsprechung des Senats ausgegangen, wonach generell eine mindestens dreimonatige Einweisung und Einarbeitung am Arbeitsplatz neue Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt (vgl BSG SozR Nr 40 zu § 45 Reichsknappschaftsgesetz - RKG -; 2600 § 86 Nr 1 und 3), was im Fall des Klägers zu verneinen sei. Die Beklagte greift diese Feststellungen nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen an. Sie meint, die Rechtsprechung des BSG zur BU hätte das LSG veranlassen müssen, sorgfältig der Frage nachzugehen, ob tatsächlich in jedem Fall eine Einweisung und Einarbeitung über einen Zeitraum von wenigstens 3 Monaten erforderlich sei, um von neuen Kenntnissen und Fähigkeiten auszugehen. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob Maßstab für die Kenntnisse und Fertigkeiten des Versicherten nur die konkrete Einweisungs- und Einarbeitungszeit am Arbeitsplatz ist, oder ob es auf die Zeit ankommt, die normalerweise jemand ohne Vorkenntnisse benötigt, um diesen Arbeitsplatz vollwertig auszufüllen. Erneut bieten sich im Falle des Klägers zwei Alternativen an: Entweder ist zur vollwertigen Verrichtung der Tätigkeit bei der Firma R ihrer Art nach eine dreimonatige Einarbeitung nicht erforderlich, oder der Kläger benötigt im Hinblick etwa auf seine Vorkenntnisse eine kürzere Einarbeitungszeit als normal. Auch die zweite Möglichkeit rechtfertigt die Rentenentziehung nicht. Besaß der Kläger einschlägige Vorkenntnisse, dann konnte er diese auch schon 1969 zur Zeit der Rentenumwandlung nutzen, eine entsprechende gesundheitliche Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben vorausgesetzt. Ursächlich für die Beseitigung einer damals bestehenden BU sind somit bei beiden Alternativen nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten des Klägers.
Entgegen der Auffassung des LSG kann allerdings die Änderung in den Verhältnissen nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG darin liegen, daß der Empfänger einer Rente wegen BU nach Bewilligung der Rente eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit erlangt hat (Urteile vom 23. März 1977 - 4 RJ 1/76 - und 28. Februar 1978 - 4 RJ 43/77). Darauf stützt die Beklagte ihre Revision im wesentlichen. Sie meint, auch das Erlangen eines Arbeitsplatzes stelle jedenfalls dann eine rechtserhebliche Änderung in den Verhältnissen dar, wenn der Kläger dadurch in die Lage versetzt worden sei, auf einem neuen Tätigkeitsgebiet mit einer zumutbaren Arbeit Erwerbseinkommen zu erzielen. Der 4. Senat hat jedoch in der zuletzt genannten Entscheidung vom 28. Februar 1978 klargestellt, daß unabhängig von der Änderung in den Verhältnissen durch eine Besserung der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit im Erlangen eines zumutbaren Arbeitsplatzes eine Änderung in den Verhältnissen nur dann zu sehen ist, wenn der Umstand, daß für den Versicherten kein zumutbarer Arbeitsplatz vorhanden war, für die Bewilligung der Berufsunfähigkeitsrente wesentlich mitursächlich gewesen ist. Weder aus der angefochtenen Entscheidung des LSG noch aus dem Revisionsvorbringen der Beklagten ergeben sich Anhaltspunkte für eine kausale Verknüpfung zwischen dem Fehlen eines zumutbaren Arbeitsplatzes für den Kläger und der Umwandlung der Rente wegen EU in eine solche wegen BU im Jahre 1969. Die Frage des Arbeitsplatzes hat vielmehr bei der Rentenumwandlung - wie bereits aus der damaligen Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers ersichtlich - keine Rolle gespielt. Im Falle des Klägers läßt sich somit allein aus der tatsächlichen Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht die für die Entziehung der Rente nach § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO notwendige Änderung in den Verhältnissen herleiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen