Entscheidungsstichwort (Thema)
An Kindes Statt angenommene Kinder als Vollwaisen
Leitsatz (redaktionell)
An Kindes Statt angenommene Kinder sind nur dann Vollwaisen, wenn Unterhaltsansprüche weder gegenüber den leiblichen Eltern noch gegenüber Adoptiveltern in Betracht kommen, wenn also sowohl die leiblichen als auch die Adoptiveltern verstorben sind. Die Einwände gegen diese Auffassung vermögen nicht zu überzeugen.
Normenkette
AVG § 46 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1269 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. September 1965 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin ist am 4. Oktober 1949 unehelich geboren. Ihre Mutter lebt - verheiratet - im Ausland. 1952 wurde die Klägerin von dem bei der Beklagten versicherten A W adoptiert. Nach dem Tode des Adoptivvaters bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 16. Januar 1964 aus der Versicherung des Adoptivvaters Halbwaisenrente ab 1. September 1963. Die Klägerin begehrt statt dessen die höhere Vollwaisenrente, weil nach dem Tode ihres Adoptivvaters kein ihr gegenüber Unterhaltspflichtiger mehr vorhanden sei; ein etwaiger Unterhaltsanspruch gegen ihre Mutter, die ohne eigenes Einkommen sei, wäre nicht zu verwirklichen.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 29. April 1965). Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) folgte der in den Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Dezember 1961 - BSG 16, 110;, 12/3 RJ 192/59 und 12/4 RJ 358/60 - vertretenen Ansicht, daß Adoptivkinder nur dann Vollwaisen im Sinne des § 1269 der Reichsversicherungsordnung (RVO) = § 46 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) seien, wenn sowohl die leiblichen Eltern als auch die Adoptiveltern verstorben sind. Es komme nur auf den Status der Waise an, nicht jedoch darauf, ob ein Unterhaltsanspruch gegen einen noch lebenden Elternteil bestehe (Urteil vom 17. September 1965).
Mit der - zugelassenen - Revision beantragte die Klägerin,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Januar 1964 zu verurteilen, Vollwaisenrente ab 1. September 1963 zu gewähren.
Zur Begründung führte sie aus, nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG komme es bei der Unterscheidung, ob eine Waise Halb- oder Vollwaise sei, darauf an, ob noch ein Unterhaltsanspruch gegenüber einem Elternteil bestehe. Im vorliegenden Fall sei ein solcher Unterhaltsanspruch gegenüber der Mutter der Klägerin nicht gegeben, weil die Unterhaltsverpflichtung nach § 1603 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bei Gefährdung des eigenen standesgemäßen Unterhalts entfalle.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezog sich im wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils und verwies auf die Entscheidung des BSG vom 21. Dezember 1961 - 12/4 RJ 358/60 -, nach der die Vollwaiseneigenschaft vom "Nichtbestehen", nicht aber von der "Nichtdurchsetzbarkeit" gesetzlicher Unterhaltsansprüche abhänge.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162, 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat den von der Klägerin erhobenen Anspruch auf Vollwaisenrente zu Recht verneint.
Die Frage, wann ein Kind als "Vollwaise" im Sinne von § 46 AVG = § 1269 RVO anzusehen ist und deshalb die erhöhte Waisenrente beanspruchen kann, ist vom BSG bereits in mehreren - auch vom LSG und den Beteiligten angeführten - Entscheidungen behandelt worden. Dabei lag den Urteilen des 12. Senats vom 21. Dezember 1961 in den Sachen 12/3 RJ 192/59 und 12/4 RJ 358/60 (VdK Mitt. 1962 S. 74) ein dem vorliegenden Fall vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Dort wurde nach dem Tode der Adoptivmutter aus deren Versicherung eine Vollwaisenrente begehrt, obwohl jeweils die leibliche Mutter noch lebte. Der 12. Senat hat in diesen Fällen den Anspruch auf Vollwaisenrente abgelehnt und zur Auslegung des Begriffes "Vollwaise" auf den Sinn und Zweck der Vorschrift verwiesen, Vollwaisen deshalb eine höhere Waisenrente zu gewähren, weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben (BT-Drucks. - 2. Wahlperiode - 2437 zu § 1273 RVO des Entwurfs des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes). An Kindes Statt angenommene Kinder seien deshalb nur dann Vollwaisen, wenn Unterhaltsansprüche weder gegenüber den leiblichen Eltern noch gegenüber Adoptiveltern in Betracht kämen, wenn also sowohl die leiblichen als auch die Adoptiveltern verstorben seien.
Dieser Ansicht schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis an. Allerdings sind gegen die Entscheidungen des 12. Senats im Schrifttum Bedenken erhoben worden (vgl. Tannen, Deutsche Rentenversicherung, 1962 S. 136, aber andererseits Schubert, SGb, 1962 S. 225), weil der Begriff der "Vollwaise" eindeutig und damit nicht auslegbar und das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs eine unpraktikable und nicht stets folgerichtige Abgrenzungsmöglichkeit sei. Diese Einwände vermögen nicht zu überzeugen.
Der Begriff "Vollwaise" ist in den Rentenversicherungsgesetzen nicht definiert. Allein der allgemeine Sprachgebrauch, der unter "Vollwaise" ein elternloses Kind versteht, bringt aber für die Frage, unter welchen Umständen ein Adoptivkind Vollwaise ist, keine eindeutige Klarheit. Denn die Situation eines Adoptivkindes ist dadurch gekennzeichnet, daß außer den Adoptiveltern leibliche Eltern vorhanden sein können.
Dadurch entsteht die Frage, wann ein Kind "Vollwaise" wird, mit dem Tod der leiblichen Eltern, der Adoptiveltern oder erst dann, wenn die leiblichen und die Adoptiveltern nicht mehr leben.
Die Antwort hierauf kann nicht den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die rechtliche Stellung des Adoptivkindes entnommen werden, da das BGB den Begriff der "Vollwaise" nicht kennt. Auch die Regelung des Beamtenrechts (§ 127 BBG), des Versorgungsrechts (§ 47 BVG) oder des Lastenausgleichsrechts (§ 265 Abs. 3 LAG), die ebenfalls zwischen Halbwaisen und Vollwaisen unterscheiden, können nicht herangezogen werden, weil sie den Begriff der "Vollwaise" nicht erläutern, sondern voraussetzen.
Unter diesen Umständen ist auf den Sinn und Zweck der - höheren - Vollwaisenrente abzustellen. Dieser kann nur in der größeren wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit der Vollwaise gegenüber der Halbwaise gefunden werden. Da aber nach §§ 1764, 1766 i.V.m. § 1601 BGB die leiblichen Eltern - allerdings nach den Adoptiveltern rangierend - ihrem Kinde in der Regel unterhaltspflichtig bleiben, hat das Adoptivkind grundsätzlich eine umfassendere wirtschaftliche Sicherung als ein anderes Kind. Deshalb ist es gerechtfertigt, ihm die Vollwaisenrente erst dann zuzuerkennen, wenn sowohl die leiblichen als auch die Adoptiveltern verstorben sind.
Hiergegen kann nicht eingewandt werden, eine solche Auslegung des § 46 AVG berücksichtige zu wenig die Subsidiarität der Unterhaltspflicht der leiblichen Eltern; vor einem Rückgriff auf diese müßten zunächst die Sicherungsmöglichkeiten aus dem Adoptivverhältnis voll ausgeschöpft werden, so daß bei Tod der Adoptiveltern aus deren Versicherung bereits die Vollwaisenrente gewährt werden müßte, nicht aber nur die Halbwaisenrente, die daneben Unterhaltsleistungen der leiblichen Eltern erforderlich mache. Denn das Rentenversicherungsrecht hat den im bürgerlichen Recht verwirklichten Vorrang des Adoptivverhältnisses vor der leiblichen Elternschaft nicht übernommen. Das läßt sich der Regelung des § 44 AVG i.V.m. § 39 Abs. 2 AVG entnehmen: Zu den waisenrentenberechtigten Kindern gehören danach u.a. die ehelichen Kinder, die an Kindes Statt angenommenen Kinder, die unehelichen Kinder einer Versicherten wie auch das uneheliche Kind eines männlichen Versicherten, wenn seine Vaterschaft oder seine Unterhaltspflicht festgestellt ist. Dabei ist keine Rangfolge angegeben. Die rentenberechtigenden Eltern-Kind-Verhältnisse bestehen vielmehr gleichwertig nebeneinander; das Adoptivverhältnis verdrängt insoweit nicht die leibliche Elternschaft. Eine "Rangfolge" der Renten wird lediglich durch die Ruhensvorschrift des § 57 Abs. 2 AVG geschaffen.
Die Auffassung, ein Adoptivkind sei erst "Vollwaise" beim Tod sowohl der leiblichen als auch der Adoptiveltern, steht auch nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des BSG, daß eine Vollwaise, die nach dem Tod ihrer leiblichen Eltern adoptiert wird, ihre Vollwaisenrente dadurch nicht verliere (vgl. Urteile des BSG vom 14.12.1966, SozR Nr. 1 zu § 1292 RVO und vom 30.8.1967, SozR Nr. 2 zu § 1292 RVO). Denn diese Folge tritt nur deshalb ein, weil die Vollwaiseneigenschaft auf bestimmten tatsächlichen Beziehungen zwischen dem Kinde und dem Versicherten vor dessen Tode beruht, die sich nachträglich nicht mehr ändern können.
Schließlich führt die Beachtung des gesetzgeberischen Motivs für die höhere Vollwaisenrente auch nicht zu Abgrenzungsschwierigkeiten. Denn entgegen der Ansicht der Revision kommt es nicht darauf an, ob im Einzelfall tatsächlich ein Unterhaltsanspruch gegen einen überlebenden Elternteil gegeben ist. Trotz ihres grundsätzlichen Unterhaltsersatzcharakters wird die Waisenrente nicht für konkret entfallenen Unterhalt gewährt und hängt deshalb weder dem Grunde nach noch in ihrer Höhe und Dauer von einer früheren oder mutmaßlichen künftigen Leistungspflicht des Verstorbenen ab. Vielmehr ist der Gesetzgeber von einer typischen Bedarfssituation ausgegangen und hat sie zum Anlaß für eine typisierende Regelung genommen, unabhängig von der wirtschaftlichen Stellung der Waise im Einzelfall und von der Frage, ob sie auf die Waisenrente angewiesen ist oder nicht. Anknüpfungspunkt für die Rente ist allein der Tod der Eltern, nicht der Verlust von Unterhaltsansprüchen.
Im Falle der Klägerin kann danach dahinstehen, ob die leibliche Mutter nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts der Klägerin Unterhalt leisten muß. Der Klägerin steht der Anspruch auf Vollwaisenrente schon deshalb nicht zu, weil die Mutter noch lebt und die Klägerin deshalb nicht Vollwaise ist.
Da das angefochtene Urteil danach rechtlich zutreffend ist, war die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen