Entscheidungsstichwort (Thema)
Offenstehen eines Fahrstuhlschachts als kriegseigentümlicher Gefahrenbereich
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Gefahrenbereich ist dann als kriegseigentümlich anzusehen, wenn die Gefahr selbst, die aus ihm hervorgeht, im Zeitpunkt des Unfalls noch kriegseigentümlich ist.
2. Die Tatsache allein, daß ein Fahrstuhlschacht offenstand und sich damit zZt des Unfalls infolge kriegerischer Vorgänge in einem Zustand befand, der die Verkehrssicherheit gefährdete, rechtfertigt nicht ohne weiteres die Annahme, daß dieser Zustand auch noch zZt des Unfalls ein "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" war.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Februar 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin, die im Seitenflügel eines Gebäudes in Berlin wohnte, stürzte am 3. März 1944, wie sie angab, nach dem Ende eines Fliegerangriffs in dem Vorderhaus dieses Gebäudes in einen Fahrstuhlschacht und verletzte sich schwer. Das Versorgungsamt (VersorgA.) B lehnte ihren Versorgungsantrag vom 5. September 1950 mit Bescheid vom 28. Februar 1952 ab, das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Berlin versagte ihrem Einspruch mit Entscheidung vom 17. Februar 1953 den Erfolg, da eine Schädigung im Sinne des § 1 des Berliner Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß-Berlin I S. 318) (KVG) und des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht vorliege; der Sturz in den Fahrstuhlschacht sei nicht die Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung.
Auf ihre Klage verurteilte das Sozialgericht (SG.) Berlin mit Urteil vom 17. August 1954 den Beklagten antragsgemäß, der Klägerin Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 % ab 1. Juli 1950 zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 18. Februar 1955 zurückgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG. hatte die Klägerin einen Teil ihrer Habe in der Wohnung einer Bekannten im Hochparterre des Vorderhauses, in dem sich der Unfall ereignete, untergestellt. Die Eingangstür zu dieser Wohnung und die Fahrstuhltür lagen nahe nebeneinander. Das LSG. hat weiterhin festgestellt, die Klägerin habe sich am 3. März 1944 nach der Entwarnung nach einem Luftangriff, der in dieser Gegend am Abend desselben Tages während der Dunkelheit stattfand, in die Wohnung ihrer Bekannten begeben wollen, um nach ihren Sachen zu sehen. Bei dem Versuch, die Wohnung zu betreten, habe sie fehlgegriffen und sei in den geöffneten Fahrstuhlschacht gestürzt. Die nächtliche Dunkelheit sei von außen durch Feuerschein erleuchtet, die Sicht auf dem Vorflur indessen durch dichten Kalkstaub stark beeinträchtigt gewesen. Das LSG. hat die Schilderung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ohne weitere Ermittlungen als zutreffend angesehen, weil die Klägerin einen durchaus glaubwürdigen Eindruck gemacht habe. In sachlich-rechtlicher Beziehung hat das LSG. nach dem vorliegenden Sachverhalt die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG bejaht. Es hat ausgeführt, an der Unfallstelle habe infolge der Öffnung des Fahrstuhlschachtes durch Luftdruck oder ähnliche Kriegseinwirkungen eine erhebliche Verkehrsgefahr bestanden, die unmittelbar nach dem Luftangriff durch die schlechten Sichtverhältnisse besonders groß gewesen sei; das Gesetz wolle den schützen, der einen vernünftigen Grund habe, sich an der verkehrsgefährdeten Stelle aufzuhalten; einen solchen Grund könne die Klägerin aufweisen. Die kriegsbedingte Verkehrsgefahr bleibe für den Unfall allein ursächlich. Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 7. April 1955 zugestellte Urteil des LSG. Revision eingelegt. Die am 26. April 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangene Revisionsschrift enthält den Antrag,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils der Berufung gegen die Entscheidung des SG. Berlin vom 17. August 1954 stattzugeben.
In der am 23. Mai 1955 beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründungsschrift vom 17. Mai rügt der Beklagte zunächst eine Verletzung der §§ 128 und 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie sei darin zu finden, daß das LSG. bei der Tatsachenfeststellung die ihm glaubwürdig erscheinende Schilderung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zugrunde gelegt und keine Zeugen vernommen habe. Das LSG. habe offenbar übersehen, daß die Klägerin in ihrem Schreiben vom 2. Oktober 1951 an das VersorgA. eine in wesentlichen Punkten andere Sachdarstellung gegeben habe. Das LSG. hätte sich mit den früheren Angaben der Klägerin auseinandersetzen müssen. In Anbetracht der Widersprüche in ihren Angaben hätte das LSG. sich nicht auf die Angaben der Klägerin allein stützen dürfen, sondern auch die Auskunftspersonen, deren schriftliche Äußerungen über den Unfallhergang bei den Akten des VersorgA. sich befinden, als Zeugen hören müssen.
In sachlicher Hinsicht rügt der Beklagte eine Verletzung des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Nach seiner Auffassung sind Türen, die durch den Luftdruck aufgerissen wurden, und ähnliche Beschädigungen an Gebäuden nicht unter den Begriff des "kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs" zu bringen. Derartige Gefahrenquellen könnten durch ein entsprechendes Verhalten ausgeschaltet werden. Das LSG. habe auch den ursächlichen Zusammenhang zwischen einem Gesundheitsschaden und einer unmittelbaren Kriegseinwirkung verkannt; wesentliche Ursache des Unfalles sei das eigene schuldhafte Verhalten der Klägerin gewesen, da sie trotz der allgemein bekannten Gefährlichkeit in der Dunkelheit ohne ausreichende Beleuchtungsmittel das bombenbeschädigte Haus betreten hat.
Die Klägerin hat beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Revision des Beklagten ist zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist auch statthaft, da der Beklagte einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat und dieser Mangel tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die vom Beklagten zur Begründung seiner Rüge angeführten Tatsachen ergeben zunächst - ihre Richtigkeit unterstellt -, daß das LSG. die Vorschrift über die Beweiswürdigung verletzt hat (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Das LSG. hat den Sachverhalt in dem Sinne festgestellt, wie ihn die Klägerin in der mündlichen Verhandlung schilderte, weil es die Klägerin für glaubwürdig hielt. Es hat hierbei nicht berücksichtigt, daß die Klägerin im Verwaltungsverfahren den Sachverhalt in einem nicht nebensächlichen Punkt anders geschildert hatte. Unter diesen Umständen beruht die Überzeugung das LSG. von der Richtigkeit des von ihm festgestellten Sachverhalts auf einem Einzelergebnis, nicht auf dem Gesamtergebnis des Verfahrens, zu dem auch der Inhalt der Versorgungsakten gehört, den das LSG. im übrigen verwertet hat. Nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG muß jedoch das Gericht seine Überzeugung von der Richtigkeit eines tatsächlichen Vorganges aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewinnen. Das bedeutet, daß es alle zum Prozeßstoff gewordenen Umstände, die für die Beweiswürdigung erheblich sind, zu berücksichtigen hat. Da die Klägerin in der Darstellung des Sachverhalts wechselte, hätte das LSG. auch diejenigen Angaben der Klägerin berücksichtigen müssen, die der Schädigung zeitlich näher liegen. Gegenüber ihrer Schilderung in der mündlichen Verhandlung ist die in wesentlichen Punkten abweichende Sachdarstellung der Klägerin in ihrem Schreiben an das VersorgA. III vom 2. Oktober 1951 nicht nebensächlich. Die Klägerin hat damals erklärt, sie habe am Nachmittag die Wohnung betreten wollen und sei dabei in den Fahrstuhlschacht gestürzt. Daraus kann gefolgert werden, daß der Sturz sich bei Tage ereignet hat. Vor dem LSG. hat die Klägerin jedoch erklärt, sie sei abends während der Dunkelheit gestürzt. Das LSG. hat dieser von ihm für wahr erachteten Behauptung Bedeutung beigemessen; denn es hat hieraus auf schlechte Sichtverhältnisse und eine besonders große Verkehrsgefahr geschlossen. Diese Annahme ist die Grundlage seiner Entscheidung. Das LSG. hat die Feststellung des Unfallherganges nur auf die von der Klägerin selbst in der Berufungsverhandlung gegebene Schilderung gestützt und deren Beweiswert mit dem einzigen Satz begründet, die Klägerin habe dem Senat einen durchaus glaubwürdigen Eindruck gemacht. Hiernach hat das LSG. nicht alle im Verfahren zu Tage getretenen Umstände abgewogen, die für und gegen die Glaubwürdigkeit der Klägerin und die Richtigkeit ihres Vorbringens sprechen.
Das LSG. hatte auch keinen triftigen Grund, seine Überzeugung ausschließlich auf die Aussagen der Klägerin zu stützen. Dadurch hat es, wie die Revision mit Recht rügt, seine Pflicht nach § 103 SGG, den Sachverhalt umfassend aufzuklären, verletzt. Es mußte alle Begleitumstände des Unfalls vom 3. März 1944 feststellen, da sie auch nach seiner Auffassung, wonach die Klägerin durch "unmittelbare Kriegseinwirkungen" (§ 1 Abs. 1 Berliner KVG, § 2 Abs. 1 Buchst. e DVO vom 13.12.1950 (VOBl. für Berlin S. 570); § 1 Abs. 2 Buchst. a, § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG) geschädigt worden ist, rechtserheblich waren. Das LSG. hätte über den Zeitpunkt des Unfalls, insbesondere über den zeitlichen Abstand von dem vorausgegangenen Luftangriff und über die durch den letzten Angriff in dem Gebäude verursachten Zerstörungen Feststellungen treffen müssen, da diese Umstände für die Frage, ob der offenstehende Fahrstuhlschacht einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich darstellte, erheblich waren. Es hätte hierüber Zeugen vernehmen und amtliche Auskünfte einholen können, da ihm Ermittlungen dieser Art durch die eigene Darstellung der Klägerin in ihrem erwähnten Schreiben vom 2. Oktober 1951 und durch die schriftlichen Erklärungen zweier Auskunftspersonen, Frau M. ... und Frau H. E. (Bl. 7 und 8 der Akten des VersorgA.), nahegelegt waren. Vielleicht hätte auch das Achenbach-Krankenhaus oder das Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin eine Auskunft über die Zeit der Einlieferung und über die ersten Angaben der Klägerin erteilen können. Da das LSG. nicht den Versuch unternommen hat, die näheren Umstände, unter denen der Unfall sich ereignete, aufzuklären, liegt ein Verstoß gegen § 103 SGG vor.
Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG. beruht auf der unrichtigen Anwendung des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG und auf der Nichtanwendung des § 103 SGG (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist möglich, daß die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn das Verfahren des LSG. von diesen Mängeln frei wäre (BSG. 2 S. 276). Zwar hat das LSG. durch Zurückweisung der Berufung auch über Rente für den zeitlichen Geltungsbereich des Berliner KVG entschieden, da das SG. der Klägerin Rente vom 1. Juli 1950 an zugesprochen hat und da für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1950 nicht das BVG, sondern das nicht revisible Berliner Landesrecht galt. Diese Tatsache steht dem Erfolg der Revision jedoch nicht entgegen, da auch nach der Rechtsauffassung des LSG. über den Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des Berliner KVG die Begleitumstände des Unfalls rechtserheblich sind und auf den vorliegenden Verfahrensmängeln - Verletzung der bundesrechtlichen Vorschriften in den §§ 103, 128 SGG - die Entscheidung des LSG. auch insoweit beruht, als sie den Anspruch für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1950 betrifft.
Das angefochtene Urteil war hiernach in vollem Umfange mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Das BSG. konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, sondern mußte den Rechtsstreit an das LSG. zurückverweisen.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG. in sachlicher Hinsicht die Rechtsprechung des BSG. über den Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a, § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG zu berücksichtigen haben. Wie der Senat in seinem Urteil vom 22. Januar 1957 in dem Rechtsstreit Land Berlin ./. W. - 10 RV 435/55 - ausgeführt hat, setzt die Anwendung dieser Vorschriften voraus, daß der Beschädigte einer Gefahr erlegen ist, die einem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich entsprungen ist. Das Gesetz spricht nicht, wie es in dem angefochtenen Urteil heißt, von einer "kriegsbedingten" Gefahr. Ein Gefahrenbereich ist dann als kriegseigentümlich anzusehen, wenn die Gefahr selbst, die aus ihm hervorgeht, im Zeitpunkt des Unfalls noch kriegseigentümlich ist. Die Tatsache allein, daß der Fahrstuhlschacht sich zur Zeit des Unfalls der Klägerin infolge kriegerischer Vorgänge in einem Zustand befand, der die Verkehrssicherheit gefährdete, rechtfertigt nicht ohne weiteres die Annahme, daß dieser Zustand auch noch zur Zeit des Unfalls ein "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" war. Für die rechtliche Beurteilung der Frage, ob ein solcher Gefahrenbereich aus besonderen Gründen "kriegseigentümlich ist, kommt es auf die gesamten Begleitumstände des Unfallereignisses an.
Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten des Verfahrens bleibt dem Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen