Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungseinlegung ohne ausdrückliche Erklärung. Verschulden bei Fristversäumnis
Orientierungssatz
Hat ein offenbar schreibungewandter und rechtsunkundiger Kläger, dessen Klage vom SG abgewiesen wurde, in einem unklaren Schreiben zum Ausdruck gebracht, daß er mit dem Urteil nicht einverstanden sei, so ist darin der Wille zu sehen, dieses Urteil anzufechten bzw gegen dieses Urteil Berufung einzulegen.
Wird das Schreiben jedoch trotz ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung beim SG anstatt beim LSG eingereicht und deshalb die Berufungsfrist versäumt, weil das SG in dem Schreiben zu Unrecht keine Berufungseinlegung erkennt, so wird dadurch ein Verschulden des Klägers an der Fristversäumnis nicht ausgeräumt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann in diesem Fall nicht gewährt werden.
Normenkette
SGG §§ 151, 67 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 31.05.1961) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 11.11.1960) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Mai 1961 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger hat im August 1958 die Gewährung von Versichertenrente beantragt. Die Beklagte hat diesen Antrag mit Bescheid vom 4. März 1959 abgelehnt, weil nach den eingeholten Gutachten weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit vorliege. Die hiergegen erhobene Klage, mit der der Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrte, hat das Sozialgericht in Freiburg durch Urteil vom 11. November 1960 abgewiesen. In der Rechtsmittelbelehrung des Urteils ist ausgeführt, die Berufung sei bei dem Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart, B-straße 16-18, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der dortigen Geschäftsstelle einzulegen; die Berufungsfrist sei auch gewahrt, wenn die Einlegung der Berufung innerhalb der Frist zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts in Freiburg erklärt werde. Das Urteil wurde am 5. Dezember 1960 zur Zustellung an den Kläger mittels eingeschriebenen. Briefes zur Post gegeben.
Mit einem am 20. Dezember 1960 beim Sozialgericht in Freiburg eingegangenen, mit dem Namen des Klägers unterschriebenen Schreiben teilte die Ehefrau des Klägers mit, ihr Ehemann stehe zwar in Arbeit, sein Verdienst reiche jedoch für seine Familie nicht aus; es müsse ihm deshalb entweder eine andere Arbeit mit mehr Verdienst gegeben werden oder sie bringe ihre fünf Kinder zum Gericht nach Freiburg, damit auch sie arbeiten könne. Dieses Schreiben hat das Sozialgericht zu den Akten genommen. Mit einem weiteren Schreiben, das am 20. Januar 1961 vom Postamt Malterdingen abgestempelt und am 21. Januar 1961 beim Sozialgericht in Freiburg eingegangen ist, beklagte sich der Kläger darüber, daß er auf sein früheres Schreiben noch keine Antwort erhalten habe. Er verlangte, daß er jetzt innerhalb von acht Tagen Antwort erhalte, da er sonst vor das Bundessozialgericht gehe. Mit seinem Einkommen könne er seine Familie nicht ernähren. Das Sozialgericht in Freiburg hat dieses Schreiben als Berufung gegen das Urteil vom 11. November 1960 angesehen und es nebst den Akten am 30. Januar 1961 dem Landessozialgericht Baden-Württemberg, dort eingegangen am 1. Februar 1961, vorgelegt. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts auf die Fristversäumnis machte der Kläger geltend, er habe bereits mit dem Brief vom 19. Dezember 1960 (am 20. Dezember 1960 beim Sozialgericht in Freiburg eingegangen) Berufung eingelegt, hierauf aber keine Antwort erhalten.
Das Berufungsgericht hat nach Aktenlage entschieden; es hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen.
Nach § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei die Berufung beim Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Diese Frist habe der Kläger nicht gewahrt. Da das angefochtene Urteil am 5. Dezember 1960 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben worden sei, gelte es nach § 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 (BGBl I 379) mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, also am 8. Dezember 1960, als zugestellt. Die Berufungsfrist habe somit am 9. Dezember 1960 zu laufen begonnen (§ 64 Abs. 1 SGG) und habe - da der 8. Januar 1961 ein Sonntag gewesen sei - am 9. Januar 1961 geendet (§ 64 Abs. 2 und 3 SGG). Die Berufungsschrift des Klägers sei jedoch erst am 1. Februar 1961 beim Landessozialgericht eingegangen.
Die Behauptung des Klägers, er habe bereits mit dem am 19. Dezember 1960 zur Post gegebenen Schreiben Berufung eingelegt, gebe zu einer anderen Beurteilung keinen Anlaß. Denn dieses Schreiben sei an das Sozialgericht in Freiburg und nicht an das Landessozialgericht Baden-Württemberg gerichtet, bei dem es erst am 1. Februar 1961 eingegangen sei. Der Eingang dieses Schreibens beim Sozialgericht in Freiburg am 20. Dezember 1960 habe die Berufungsfrist schon deshalb nicht gewahrt, weil nach § 151 Abs. 1 SGG die Berufung schriftlich nur beim Landessozialgericht eingelegt werden könne und die Berufungsfrist nach § 151 Abs. 2 SGG nur dann auch gewahrt sei, wenn die Einlegung der Berufung innerhalb der Frist zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts erklärt werde.
Die Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 SGG, wonach ein Rechtsbehelf noch innerhalb eines Jahres seit Zustellung des Urteils eingelegt werden könne, wenn die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt worden sei, lägen nicht vor, da die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils den Erfordernissen des § 66 Abs. 1 SGG entspreche.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht. Sie sei nur zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert gewesen sei, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Kläger habe die Berufungsfrist aber schuldhaft versäumt. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob er sich etwa über die Bedeutung der Rechtsmittelbelehrung, wonach die Berufungsfrist auch dann gewahrt sei, wenn die Einlegung der Berufung innerhalb der Frist zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts in Freiburg erklärt werde, geirrt habe, indem er angenommen habe, es genüge zur Wahrung der Frist auch die Einreichung eines Schriftsatzes beim Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts. Denn ein solcher Irrtum, der im Hinblick auf den Bildungsgrad ein Verschulden des Klägers ausschließen könne, sei für die Versäumung der Berufungsfrist nicht ursächlich. Diese beruhe vielmehr darauf, daß der Kläger überhaupt erst nach Ablauf der Berufungsfrist ein als Berufung anzusehendes Schreiben verfaßt und abgesandt habe. Denn er habe erstmals mit dem am 20. Januar 1961 zur Post gegebenen Schreiben zu erkennen gegeben, daß er das Urteil des Sozialgerichts in Freiburg vom 11. November 1960 mit einem Rechtsbehelf anfechten wolle. Das vorhergehende Schreiben vom 19. Dezember 1960 gebe auch bei weitestgehender Berücksichtigung der Schreibungewandtheit und des Bildungsgrades des Klägers nicht den geringsten Hinweis auf einen Berufungswillen und könne deshalb nicht als Rechtsmittelschrift gewertet werden. Der Kläger habe darin allein die Forderung erhoben, ihm eine andere Arbeit zu geben, da er mit der gegenwärtig ausgeübten nicht genügend verdiene. Ein solcher Wunsch könne aber nicht dahin verstanden werden, daß er das sozialgerichtliche Urteil durch eine weitere Instanz habe nachprüfen lassen wollen.
Gegen dieses ihm am 9. Juli 1961 zugestellte Urteil hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt Dr. F..., mit Schriftsatz vom 31. Juli 1961, beim Bundessozialgericht eingegangen am 3. August 1961 - unter Stellung eines Revisionsantrages -, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Er ist der Auffassung, er habe mit seinem beim Sozialgericht am 20. Dezember 1960 eingegangenen Schreiben mit genügender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß er eine Abänderung des Urteils des Sozialgerichts herbeiführen wolle. Dies ergebe sich auch daraus, daß er sich mit seinem Schreiben vom 20. Januar 1961 nach den von ihm erwarteten weiteren Schritten des Gerichts erkundigt habe. Zumindest hätte das Sozialgericht den Kläger fragen müssen, was er mit seinem am 20. Dezember 1960 beim Sozialgericht eingegangenen Schreiben bezwecke. Das Berufungsgericht hätte dem Kläger jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen, zumal ihm aus den Akten bekannt sei, daß der Kläger infolge der Hirnverletzung zeitweilig nicht imstande sei, seine Gedanken klar zu formulieren.
Er beantragt,
1. die Urteile des Sozialgerichts in Freiburg vom 11. November 1960 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Mai 1961 und den Bescheid der Beklagten vom 4. März 1959 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm vom Ersten des Antragsmonats an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren,
3. evtl. die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Selbst wenn man annehmen wolle, daß das am 20. Dezember 1960 beim Sozialgericht eingegangene Schreiben des Klägers als Berufung angesehen werden könne, wäre diese unzulässig, weil das Schreiben erst nach Ablauf der Berufungsfrist beim Landessozialgericht eingegangen sei. Wenn das Sozialgericht dieses Schreiben nicht an das Landessozialgericht weitergegeben habe, so liege darin kein Wiedereinsetzungsgrund, da die Rechtsmittelbelehrung richtig gewesen sei und die fehlerhafte Berufungseinlegung daher von dem Kläger zu vertreten sei, zumal er sich bei seinem Anwalt über die Form der Berufungseinlegung hätte erkundigen können.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zwar form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist jedoch nach § 160 in Verbindung mit § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht statthaft. Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat und die Voraussetzungen der Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG schon der Sache nach nicht vorliegen können, hätte sie nur statthaft sein können, wenn die von dem Kläger erhobene Verfahrensrüge durchgreifen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Berufungsgericht hat vielmehr zu Recht die Berufung als unzulässig verworfen.
Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, daß die Berufung verspätet eingegangen ist. Nach § 151 Abs. 1 SGG muß die Berufung binnen eines Monats nach Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils beim Landessozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt werden. Dies ist nicht der Fall gewesen. Das Urteil des Sozialgerichts ist am 5. Dezember 1960 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben worden. Nach § 4 Abs. 1 VwZG vom 3. Juli 1952 (BGBl I 379) gilt es als am 8. Dezember 1960 zugestellt. Die Berufungsfrist lief somit, da der 8. Januar 1961 ein Sonntag war, am 9. Januar 1961 ab (§ 64 SGG). Bis zum Ablauf dieses Tages war aber beim Berufungsgericht noch kein Berufungsschreiben des Klägers eingegangen. Nach § 151 Abs. 2 SGG ist zwar die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Berufungsfrist zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts erklärt wird. Dies ist jedoch ebenfalls nicht geschehen. Da die Rechtsmittelbelehrung in dem sozialgerichtlichen Urteil auch richtig ist - sie entspricht dem Inhalt des § 151 SGG - lief hier auch nicht ausnahmsweise die Jahresfrist des § 66 SGG für die Einlegung der Berufung. Die Berufungsfrist ist also versäumt.
Das Berufungsgericht hat dem Kläger auch zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG verweigert. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts und auch des Berufungsgerichts ist das Schreiben des Klägers vom 20. Dezember 1960 allerdings als Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil aufzufassen. Wenn es auch, obwohl der Name des Klägers als Unterschrift erscheint, wie sich aus seinem Inhalt eindeutig ergibt, von der Ehefrau des Klägers gefertigt ist, so ist es doch als Berufung des Klägers anzusehen, da zu unterstellen ist, daß die Ehefrau des Klägers von diesem bevollmächtigt war (§ 73 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der Auslegung dieses Schreibens muß bedacht werden, daß es sich bei dem Kläger und seiner Ehefrau um einfache, schreibungewandte und rechtsunkundige Personen handelt, die ihren Willen oft nur undeutlich zum Ausdruck bringen können. Ihr Wille aber ging dahin, das sozialgerichtliche Urteil anzufechten, da der Kläger sich in dem Schreiben vom 20. Januar 1961 danach erkundigt hat, was das Sozialgericht auf das erste Schreiben hin veranlaßt habe. Dieser Wille kommt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts in diesem ersten Schreiben auch zum Ausdruck. Es ist gerichtsbekannt, daß Versicherte in der rechtsirrigen Meinung, für die Frage der Berufsunfähigkeit komme es darauf an, wie hoch ihr Verdienst sei und ob sie mit diesem in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, zuweilen ihre Unzufriedenheit mit einem Urteil dadurch zum Ausdruck bringen, daß sie erklären, mit ihrem niedrigen Lohn könnten sie nicht auskommen. Wenn der Kläger auch nicht ausdrücklich erklärt hat, er lege Berufung ein, so war doch seine Absicht, es nicht bei diesem Urteil bewenden zu lassen, deutlich genug erkennbar. Schon das erste Schreiben mußte daher als Berufung angesehen werden. Das Sozialgericht hätte dieses Schreiben an das Landessozialgericht, dem alleine die Entscheidung über die Berufung und damit auch die Entscheidung, ob es sich um ein Berufungsschreiben handelte, zusteht, übersenden oder wenigstens bei dem Kläger anfragen müssen, was er mit seinem Schreiben bezwecke.
Hierdurch wird aber das Verschulden des Klägers an der Fristversäumnis nicht ausgeräumt. Der Kläger durfte nicht ohne weiteres damit rechnen, daß sein mehrdeutiges Schreiben auch wirklich als Berufung erkannt und behandelt werden würde, wenn er es an das für die schriftliche Berufungseinlegung unzuständige Sozialgericht sandte, ohne die ordnungsmäßig erteilte Rechtsmittelbelehrung zu beachten. Nach § 67 Abs. 1 SGG kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aber nur gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil der Kläger nicht ohne Verschulden verhindert war, rechtzeitig Berufung einzulegen.
Da die Revision gegen das angefochtene Urteil somit nicht statthaft ist, mußte sie nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen