Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2104 der Anl 1 zur BKVO
Leitsatz (amtlich)
Die Tätigkeiten, zu deren Unterlassung eine Krankheit iS der Anl 1 der BKVO gezwungen haben muß, brauchen dem Arbeitsplatz nicht das bestimmende Gepräge gegeben zu haben.
Orientierungssatz
Zur Frage der Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2104 der Anl 1 zur BKVO:
Die Aufgabe der die Berufskrankheit verursachenden Tätigkeit, im vorliegenden Fall der Umgang mit Motorsägen, ist für die Anerkennung einer Berufskrankheit ausreichend.
Normenkette
BKVO Anl 1 Nr 2104
Verfahrensgang
SG Duisburg (Entscheidung vom 20.08.1980; Aktenzeichen S 18 U 10/80) |
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich gegen die Feststellung einer Berufskrankheit durch das Sozialgericht (SG).
Der Kläger ist von Beruf Waldfacharbeiter. Er arbeitet als Haumeister in einem staatlichen Forstamt. Nach dem Ergebnis zahlreicher ärztlicher Gutachten haben jahrelange Arbeiten mit Motorsägen zu vibrationsbedingten Durchblutungsstörungen an den Händen geführt. Der Kläger hat diese Tätigkeiten aufgegeben, übt seinen Beruf jedoch im übrigen weiter aus.
Der Beklagte lehnte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 2104 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung vom 20. Juni 1968 in der Fassung der Verordnung (VO) zur Änderung der Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl I 1976, 3329 -BKVO-) ab, weil der Kläger weiterhin als Waldfacharbeiter tätig ist (Bescheid vom 26. Oktober 1978). In dem Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 1979 heißt es hierzu, die Arbeiten mit der Motorsäge seien kein wesentlicher Teil aller Verrichtungen am Arbeitsplatz des Klägers gewesen und gäben dem Berufsbild des Waldfacharbeiters nicht das bestimmende Gepräge; er sei daher nicht zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen worden, die für die Entstehung der Krankheit ursächlich waren.
Die Feststellungsklage hatte Erfolg (Urteil vom 20. August 1980). Nach der Rechtsauffassung des SG ist durch die Neufassung der Anlage zur BKVO gegenüber dem bis dahin geltenden Rechtszustand hinsichtlich des Merkmales des Unterlassens aller Tätigkeiten, die für die Entstehung der Krankheit ursächlich waren, gegenüber der bis dahin gültigen Rechtslage eine Änderung eingetreten. Es sei nunmehr ausreichend, daß der Erkrankte die angeschuldigte Tätigkeit aufgebe; die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit - hier: als Waldfacharbeiter/ Haumeister - sei nicht erforderlich.
Das SG hat die Sprungrevision zugelassen. Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel mit Zustimmung des Klägers eingelegt. Nach seiner Meinung sind die einzelnen Verrichtungen am Arbeitsplatz keine "Tätigkeiten" iS der Anlage 1 zur BKVO. Vielmehr müsse der zu meidende Gefährdungsbereich dem Arbeitsplatz das bestimmende Gepräge geben.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Duisburg vom 20. August 1980 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Meinung braucht die unterlassene Tätigkeit nicht "wesentlich" für die Arbeit als Haumeister zu sein.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Sie führt lediglich zur Richtigstellung des angefochtenen Urteilsausspruches.
Das SG ist ohne nähere Prüfung davon ausgegangen, daß die erst durch die VO zur Änderung der Siebenten BKVO vom 8. Dezember 1976 (BGBl I, 3329) neu aufgenommene Berufskrankheit vorliegen kann, ohne daß es auf den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles ankommt. Es hat nicht festgestellt, ob die Voraussetzungen der Berufskrankheit schon vor dem Inkrafttreten der VO am 1. Januar 1977 (Art 4 Abs 1) vorlagen, oder ob sie erst danach eingetreten sind. Einer solchen Feststellung bedurfte es hier auch nicht. Die VO vom 8. Dezember 1976 enthält keine Stichtags- oder Rückwirkungsvorschrift. Von ihr hat der Verordnungsgeber bewußt abgesehen, weil die vier neu aufgenommenen Berufskrankheiten im Zeitpunkt ihrer Normierung bereits nach § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entschädigt worden waren (Begründung der Bundesregierung zu Art 4 der VO, BR-Drucksache 563/76 vom 9. September 1976). Daher könnte im gegebenen Fall allenfalls fraglich sein, ob die Feststellung des SG auf der neuen Liste oder auf einer Anwendung des § 551 Abs 2 RVO beruht (vgl Wendland/Wolff, Die Berufskrankheitsverordnung, M 2104 S 5). Einer Entscheidung bedarf es nicht, da entgegen der Auffassung der Beklagten auch die einschränkenden Voraussetzungen der Nr 2104 der Anlage 1 zur BKVO erfüllt sind.
Nach § 1 BKVO iVm Nr 2104 der Anlage 1 zur BKVO sind vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, eine Berufskrankheit. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des SG hatte der Senat davon auszugehen, daß die geforderten medizinischen Voraussetzungen (sog Weißfingerkrankheit) ebenso gegeben sind wie die Aufgabe der sie verursachenden Arbeiten mit der Motorsäge. Der Senat hatte daher lediglich als weitere Voraussetzung zu überprüfen, ob es sich bei diesen Arbeiten um "Tätigkeiten" iS der Anlage 1 zur BKVO handelt. Das ist nach der Überzeugung des Senats aus den schon vom SG herangezogenen Erwägungen der Fall.
Dem Wortlaut des Gesetzes ist nicht zu entnehmen, daß die unterlassenen Tätigkeiten, wie dies die Revision annimmt, dem Arbeitsplatz das bestimmende Gepräge gegeben haben müssen. Die Entstehungsgeschichte der Nr 2104 der Anlage 1 zur BKVO rechtfertigt ebenfalls nicht die Auffassung der Revision.
Die Voraussetzung, daß die berufsbedingte Erkrankung zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben muß, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, gilt auch für andere Berufskrankheiten (s Nrn 2101, 4301, 4302 und insbesondere 5101 der Anlage 1 zur BKVO). Bis zum 6. Mai 1961 war nach der Anlage zur 5. BKV (BGBl I 1952, 395) insoweit der Zwang "zum Wechsel des Berufs oder zur Aufgabe jeder Erwerbsarbeit" Voraussetzung für bestimmte Berufskrankheiten (s zB Nr 19 der Anlage). Durch die 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I, 505) wurde dieses Tatbestandsmerkmal dahingehend geändert, daß der Erkrankte "zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit gezwungen" sein mußte. Damit war ua auch denjenigen Erkrankten Schutz gewährt, welche ihre qualifizierte Tätigkeit aufgegeben, aber nur eine Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hatten, die keinen Beruf bildete (Berufs-"Wechsel") -vgl zur Geschichte des Merkmals BSG SozR 5677 § 46 Nr 8 und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, S 492 o II ff-. Dennoch blieben auch durch die Fassung der Anlage 1 zur 7. BKVO diejenigen Versicherten begünstigt, deren Berufstätigkeit besondere Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten erforderte. Ungelernte Beschäftigte erreichten dagegen die Anerkennung der Berufskrankheit grundsätzlich nur, wenn sie jede Erwerbsarbeit infolge der Erkrankung hatten einstellen müssen (Brackmann aaO S 492 q II). Diese Benachteiligung ist durch die VO vom 8. Dezember 1976 beseitigt worden. "Die neue Fassung soll sicherstellen, daß Erkrankten, deren Erwerbsfähigkeit durch die Krankheit in entsprechendem Ausmaß eingeschränkt ist, die Leistung gezahlt werden kann" (BR-Drucks aaO zu Nr 2104/2101 der Anlage 1). Auf die mit der Tätigkeit verbundenen beruflichen Anforderungen kommt es nicht mehr an (wie hier: Mertens, SozVers 1978, S 151, 152; Freischmidt, BArbBl 1977, S 52, 53; Asanger, Dermatosen in Beruf und Umwelt 1978, S 172, 173; s auch Stork, SdL 1977, S 519, 521). Ist ein Versicherter gezwungen, wegen der gesetzlich umschriebenen Erkrankung seinen Arbeitsplatz zu wechseln, so ist die gesetzliche Voraussetzung des Unterlassens "aller Tätigkeiten, die" gegeben. Der durch die BKVO beabsichtigte weitgehende Schutz wäre nicht zu erreichen, wenn die krankheitsbedingten Tätigkeiten darüber hinaus weitere Merkmale erfüllen müßten, welche nicht im Zusammenhang mit dem Ausmaß der Erkrankung stehen. Demzufolge ist für das Tatbestandsmerkmal der Aufgabe "aller Tätigkeiten, die" entscheidend, daß die aufgegebenen Tätigkeiten Ursache für die Erkrankung oder deren Verschlimmerung waren; auf ihre Bedeutung für die Gesamtheit aller Verrichtungen am Arbeitsplatz kommt es dagegen insoweit nicht an.
Die gegenteilige Auffassung des Beklagten wird in der Literatur unterstützt (zT Pittroff, BG 1979, 37, 39; Elster, Berufskrankheitenrecht, 2. Lieferung 1978 S 168). Zur Begründung wird vorgebracht, daß anderenfalls eine ausgleichswürdige erhebliche Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten nicht immer gegeben sei (Elster aaO). Diese Argumentation überzeugt den Senat nicht; sie führt im Ergebnis zu einer doppelten Berücksichtigung der Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten. Auch bei einer Berufskrankheit richtet sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), wie der Senat zuletzt in seinem Urteil vom 29. April 1980 - 2 RU 60/78 - (HGBG RdSchr VB 137/81) entschieden hat und hier auch nicht streitig ist, einerseits nach der Schwere des noch vorhandenen akuten Krankheitszustandes sowie andererseits nach dem Umfang der dadurch dem Erkrankten verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Ohne Vorhandensein einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung fällt demgemäß eine nur unbedeutende Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten infolge einer Berufskrankheit systematisch nicht schon bei der Feststellung der Berufskrankheit, sondern erst bei der Bewertung der MdE ins Gewicht. Wollte man dagegen sowie der Beklagte verfahren, wäre nicht auszuschließen, daß ein besonders schwerwiegender Krankheitszustand deshalb nicht zur - nicht nur die Rentenzahlung, sondern ua auch die Heilbehandlung umfassenden - Entschädigung als Berufskrankheit führen würde, weil bereits als Vorfrage der Umfang der Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten für den Erkrankten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gering bewertet würde. Ein solches Ergebnis entspricht nicht, wie bereits dargelegt, dem aus der Geschichte der hier strittigen Voraussetzung sich ergebenden Willen des Gesetzgebers.
Der Kläger hat die Tätigkeiten mit der Motorsäge aufgeben müssen, weil sie eine Beeinträchtigung der Durchblutung an den Händen verursacht hatten. Es liegen daher die Voraussetzungen für die Feststellung einer Berufserkrankung mit den Voraussetzungen der Nr 2104 der Anlage 1 zur BKVO vor. Dennoch mußte der Tenor der angefochtenen Entscheidung des SG geändert werden, da - wie oben aufgezeigt - offengeblieben ist, ob die Feststellung auf dieser Vorschrift oder auf § 551 Abs 2 RVO beruht.
Die Revision des Beklagten mußte mit dieser Maßgabe zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 17 |
Breith. 1982, 669 |