Entscheidungsstichwort (Thema)

Witwerrente. Bindung des BSG an seine Entscheidung, auch wenn anderer Senat zuständig geworden ist

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage des Anspruchs auf Witwerrente bei besonders hohen Einkünften beider Ehegatten.

2. Das BSG ist an seine bei der Zurückverweisung vertretenen Rechtsauffassung auch dann gebunden, wenn für die gegen das neue Urteil des LSG gerichtete Revision ein anderer Senat zuständig geworden ist, es sei denn, daß inzwischen eine Änderung der Rechtsprechung eingetreten ist (vgl GmSOGB 1973-02-06 GmS-OGB 1/72 = BSGE 35, 293; BSG 1968-03-14 5 RKn 67/66 = SozR Nr 12 zu § 170 SGG).

 

Normenkette

RVO § 593 Abs 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 170 Abs 4 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.05.1982; Aktenzeichen L 3 U 105/79)

SG München (Entscheidung vom 07.07.1975; Aktenzeichen S 23 U 13/72)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Witwerrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der Kläger ist der Witwer der am Sonntag, dem 19. März 1967, bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Fachärztin für Dermatologie und Venerologie r.med.R. S. (Sch.). Der Unfall ereignete sich bei Schneetreiben auf glatter Straße, als Frau Sch. mit dem Kläger abends in einem Pkw von ihrem Haus in . zu der Mietwohnung des Ehepaares in M. zurückfahren wollte, um am nächsten Morgen die Arbeit aufzunehmen. Frau Sch. war damals Oberärztin in der Dermatologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses T. Straße in M. und Privat-Dozentin an der Dermatologischen Klinik und Poliklinik der Universität M. . Der Kläger arbeitete als Werksarzt bei den B. M. AG  in M. ; außerdem führte er in M. eine private Arztpraxis und war Belegarzt der Klinik W. in G. , wo ihm seine Ehefrau assistierte.

Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger Witwerrente und seinen beiden 1955 und 1960 geborenen Kindern Waisenrente sowie Sterbegeld und Überbrückungshilfe zu gewähren, weil Frau Sch. nicht durch Arbeitsunfall verstorben sei. Ihr Haus in . sei nicht die ständige Familienwohnung gewesen, so daß die unfallbringende Fahrt von dort nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe (Bescheid vom 25. Oktober 1967). Das Sozialgericht (SG) München verurteilte die Beklagte, "die gesetzlichen Leistungen" zu gewähren (Urteil vom 13. April 1970). Während des Berufungsverfahrens lehnte es die Beklagte erneut ab, die begehrten Leistungen zu erbringen, und berief sich diesmal darauf, Frau Sch. habe den Unterhalt ihrer Familie nicht überwiegend bestritten (Bescheid vom 22. Dezember 1970). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung der Beklagten als unzulässig, soweit sie das Sterbegeld und die Überbrückungshilfe betraf. Hinsichtlich der Witwerrente und der Waisenrenten hob es das Urteil des SG auf und verwies die Sache an das SG zurück. Das SG habe die Prüfung, ob Frau Sch. ihre Familie überwiegend unterhalten habe, unter Zugrundelegung der rechtlichen Beurteilung über das Bestehen eines Versicherungsschutzes nach § 550 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nachzuholen und erneut zu entscheiden, ob dem Kläger Witwerrente zustehe (Urteil vom 16. Dezember 1971). Die von der Beklagten eingelegte uneingeschränkte Revision wies das Bundessozialgericht (BSG) zurück (Urteil vom 29. Mai 1973 - 2 RU 24/72 -).

Das SG ermittelte die Einkommensverhältnisse der Eheleute Sch., hob die Bescheide vom 25. Oktober 1967 und 22. Dezember 1970 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die gesetzliche Witwerrente zu gewähren (Urteil vom 7. Juli 1975). Das LSG hob wiederum dieses Urteil auf und wies die Klagen gegen beide Bescheide ab, weil der Beitrag von Frau Sch. zum Unterhalt ihrer Familie zu keinem Zeitpunkt das Dreifache des Beitrages des Klägers erreicht gehabt habe; somit könne ein überwiegender Unterhalt im Sinne des Beschlusses des Großen Senats des BSG vom 21. Mai 1969 (BSGE 29, 225) in dem letzten maßgebenden wirtschaftlichen Zeitraum nicht vorliegen (Urteil vom 13. Dezember 1977). Auf die vom Kläger eingelegte Revision hob das BSG dieses Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Das LSG habe § 593 RVO nicht richtig angewendet. Die Wiedergabe der gesetzlichen Voraussetzungen einer Witwerrente reichten für die erforderliche tatsächliche und rechtliche Feststellung des Arbeitsunfalls nicht aus. Bei seinen neuen Feststellungen sei das LSG an die früheren Feststellungen in der rechtskräftigen Entscheidung über die Waisenrente nicht gebunden. Außerdem habe das LSG die Begriffe "Unterhalt der Familie" und "überwiegend bestritten" verkannt, indem es auf Rechtsprechung des BSG abgehoben habe, die zu anderen gesetzlichen Vorschriften ergangen sei (Urteil vom 25. Januar 1979 - 8a RU 26/78 -).

Mit dem in diesem Verfahren angefochtenen Urteil vom 25. Mai 1982 hat das LSG das Urteil des SG vom 7. Juli 1975 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Wohnung der Frau Sch. in H.  habe nicht ihre ständige Familienwohnung dargestellt. Stattdessen sei die Wohnung, die der Kläger und seine Ehefrau in M. innegehabt hätten, als Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse anzusehen. Das BSG habe in seinem Urteil vom 25. Januar 1979 festgestellt, daß der Senat im vorliegenden Rechtsstreit sämtliche Anspruchsvoraussetzungen, zu prüfen habe, das heiße auch, ob der Tod der Frau Sch. Folge eines Arbeitsunfalls gewesen sei, und daß er hierbei nicht an die rechtskräftige Entscheidung über den Waisenrentenanspruch der Kinder des Klägers gebunden sei. Diese rechtliche Beurteilung habe das LSG seiner Entscheidung zugrundezulegen (§ 170 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Eigene Feststellungen zu der Frage, ob Frau Sch. den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten habe, hat das LSG nicht getroffen. Es hat die Revision wegen der Abweichung von der Entscheidung des BSG vom 29. Mai 1973 (2 RU 24/72) zugelassen.

Die Revision macht geltend, das LSG habe rechtsfehlerhaft einen Arbeitsunfall iS von §§ 548 ff RVO verneint. Insoweit sei es an die rechtskräftige Entscheidung des BSG vom 29. Mai 1973 gebunden gewesen, die nicht nur zu dem Anspruch auf Waisenrente, sondern auch zu demjenigen auf Witwerrente ergangen sei. Auch hierzu habe das BSG positiv entschieden, daß Sch. durch Arbeitsunfall verstorben sei. Das BSG habe damit die Rechtsmeinung des LSG bestätigt, die der Zurückverweisung an das SG als unerläßliche Voraussetzung zugrundelag. Hieran sei das LSG nach wie vor und unabhängig von der Rechtskraft der Entscheidung über die Waisenrente gebunden.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Mai 1982 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Juli 1975 zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Nach § 593 Abs 1 iVm § 590 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 -UVNG- (BGBl I 241) erhält ein Witwer Witwerrente, wenn seine durch Arbeitsunfall verstorbene Ehefrau den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat und solange sie ihn bestritten haben würde.

Das LSG war nicht befugt, entgegen seinem eigenen Urteil vom 16. Dezember 1971 und entgegen dem Urteil des 2. Senats des BSG vom 29. Mai 1973 zu entscheiden, Frau Sch. sei nicht an einem Arbeitsunfall verstorben. Nach § 550 Abs 3 idF des UVNG schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Wege von und nach der Familienwohnung nicht aus. Dazu hat das LSG in seinem og Urteil in dieser Streitsache und zugleich in der inzwischen rechtskräftig abgeschlossenen Streitsache über die Waisenrenten mit ausführlicher Begründung entschieden, daß sich für Frau Sch. in H. und nicht in M. der Mittelpunkt ihrer privaten Lebensverhältnisse und damit die ständige Familienwohnung befunden habe. Das LSG hatte damit zwar nicht rechtskräftig über den Anspruch auf Witwerrente entschieden - das war Aufgabe des SG -, aber es hatte seiner zurückverweisenden Entscheidung die rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt, daß Frau Sch. durch Arbeitsunfall verstorben sei. Auf die uneingeschränkte Revision der Beklagten hat das BSG diese Rechtsmeinung in seinem Urteil vom 23. Mai 1973 mit eingehender Begründung bestätigt. Daran war das LSG gebunden, weil es nicht neue Tatsachen festgestellt hat, die eine andere Beurteilung ermöglichten (vgl § 170 Abs 4 SGG). Daran muß auch das BSG festhalten, weil inzwischen keine Änderung der Rechtsprechung eingetreten war (vgl Gemeinsamer Senat -GmS- in BSGE 35, 293; BSG in SozR Nr 12 zu § 170 SGG).

Der Hinweis des 8. Senats in seinem Urteil vom 25. Januar 1979, daß die Tatbestandsmerkmale des § 593 RVO ausdrücklich festzustellen seien, bedeutet nicht, daß die Vorentscheidungen zum Arbeitsunfall unbeachtlich seien. Das LSG hatte zwar erneut alle Tatsachen zur Entscheidung über den Witwerrentenanspruch unabhängig von der Entscheidung über die Waisenrente festzustellen, war aber in der rechtlichen Beurteilung an die Entscheidung des BSG vom 29. Mai 1973 und an seine eigene Entscheidung vom 16. Dezember 1971 gebunden. Auch der jetzt zuständig gewordene 9b Senat hat die Auffassung des 2. Senats, die dieser in dem vorgenannten Urteil vertreten hat, zugrundezulegen (vgl BVerwG Buchholz 310 § 144 Nr 10). Denn auch in der Zeit zwischen dem Urteil des 8. Senats und heute hat sich die Rechtsprechung zu § 550 Abs 3 RVO nicht geändert.

Auch dazu, ob die Ehefrau des Klägers den überwiegenden Unterhalt der Familie bestritten hat, liegt bereits eine Vorentscheidung des BSG, nämlich die des 8. Senats, vor, die den 9b Senat bindet, weil keine neuen Tatsachengrundlagen für diese Rechtsfrage zutage getreten sind und auch keine Änderung der Rechtsprechung eingetreten ist. Das BSG hat in dem og Urteil entschieden, daß die Nettoeinkünfte der Ehefrau des Klägers im Verhältnis zu den Nettoeinkünften des Klägers selbst ausreichen, um die überwiegende Unterhaltsgewährung festzustellen. Unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG zur Witwerrente im Rentenversicherungsrecht hat der 8. Senat auch klargestellt, daß von dem Erfahrungssatz ausgegangen werden kann, wonach das beiderseitige Nettoeinkommen von vollerwerbstätigen Ehegatten für das Verhältnis der tatsächlichen Unterhaltsgewährung maßgebend ist (vgl hierzu auch BSG SozR Nr 4 zu § 1266 RVO). Es hat ferner entschieden, daß dieser Grundsatz auch dann gilt, wenn - wie hier - die Ehegatten besonders hohe Einkünfte haben. Allerdings - und deshalb hat es die Sache zurückverwiesen - mußte den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, ob dieser Erfahrungssatz etwa hier nicht wirke, weil möglicherweise die Ehefrau einen besonders großen Teil für Anschaffungen verwendet haben könnte, die nicht zur Unterhaltsleistung gehören.

Dazu hat das LSG in dem jetzt angefochtenen Urteil zwar nichts gesagt. Das hindert aber den Senat nicht festzustellen, daß weder im Verfahren vor dem LSG noch im Verfahren vor dem BSG substantiiert behauptet worden ist, das Verhältnis der beiderseitigen Nettoeinkünfte spiegele hier ausnahmsweise nicht das Verhältnis der beiderseitigen tatsächlichen Unterhaltsleistungen wider. Darüber waren sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch einig (vgl zur Feststellung unbestrittener Tatsachen durch das Revisionsgericht Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 2. Aufl, § 163 Anm 2 mN).

Fraglich konnte nur sein, ob der entstandene Anspruch auf Witwerrente wieder entfiel, weil sich das Verhältnis der Unterhaltsleistungen voraussichtlich später geändert haben würde, wenn die Ehefrau am Leben geblieben wäre. Dafür sind nur Vermutungen darüber vorgetragen worden, daß Frau Sch. nach einem späteren Wechsel des Klinikdirektors nicht mehr so viel nebenher hätte verdienen können wie bisher. Solche Vermutungen reichen für den Wegfall der Witwerrente nicht aus. Zwar sind für voraussichtliche Änderungen keine Beweise zu fordern (vgl § 287 Abs 2 ZPO), überzeugende Hinweise sind aber unentbehrlich. Ein möglicher Grund für den Wegfall der Voraussetzungen der Witwerrente in der Zukunft könnte die Verselbständigung der Kinder sein. Von dieser Zeit an könnte der Familienunterhalt nur noch in dem gegenseitigen Unterhalt bestehen, so daß dann die Grundsätze des GS zum überwiegenden Unterhalt, den ein Ehegatte dem anderen leistet, wirksam werden (BSGE 29, 225).

Da es für den Witwerrentenanspruch nicht darauf ankommt, daß der Ehemann von der Ehefrau überwiegend unterhalten worden ist, sondern darauf, daß die Ehefrau den überwiegenden Unterhalt der Familie bestritten hatte, kann nicht eingewendet werden, daß der Kläger durch den Tod seiner Ehefrau in seiner Unterhaltssituation keine Einbuße erlitten hat. Solche Einwände lassen jedenfalls gegenwärtig auch noch nicht die Feststellung zu, daß ein Verstoß gegen Art 3 und Art 6 Grundgesetz vorliegt (vgl BVerfGE 39, 169; BSG SozR 3200 § 1266 Nr 17 und SozR 2200 § 593 Nr 1).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663925

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