Leitsatz (amtlich)
Endet die Ausbildung des Versicherten für einen anderen Beruf (RVO § 1237 Abs 3 Buchst b) durch Ablauf der im Bescheid vorgesehenen Zeit, so ist der Träger der Rentenversicherung bei seiner späteren Entscheidung über den Rentenantrag an seine mit der Gewährung des vorgezogenen Übergangsgeldes (RVO § 1241 Abs 1 S 2 ausgesprochene Feststellung, der Versicherte sei berufsunfähig, nicht gebunden. Dies gilt auch, wenn der Versicherte die Ausbildung vorzeitig abbricht.
Normenkette
RVO § 1241 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1958-08-23; RVO § 1237 Abs. 3 Buchst. b Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. August 1972 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der im Jahre 1931 geborene Kläger begann im April 1946 - er lebte damals in der sowjetischen Besatzungszone - die Maurerlehre. Ohne sie zu Ende geführt zu haben, setzte er sich im September 1948 nach Westdeutschland ab. Hier war er zunächst als ungelernter Arbeiter tätig, dann jeweils kurze Zeit als Verzinker, als Bootsführer und als angelernter Fliesenlegen. In der Zeit von Oktober 1957 bis Juni 1966 übte er den Maurerberuf aus. Bis Dezember 1966 war er mit Transportarbeiten beschäftigt. Nach Auflösung dieses Arbeitsverhältnisses bezog er zunächst Arbeitslosenunterstützung. Anschließend arbeitete er einige Zeit als Hilfsarbeiter im Baugewerbe und nahm schließlich eine Tätigkeit als Nachtportier auf.
Im März 1968 beantragte er die Gewährung der Versichertenrente.
Das Angebot der Beklagten auf Durchführung von Berufsförderungsmaßnahmen nahm er an. Daraufhin übernahm die Beklagte durch Bescheid vom 10. September 1969 die Kosten der Ausbildung zum Elektromechaniker. Den Rentenantrag lehnte sie ab (Bescheid vom 24. Oktober 1969). Zur Begründung führte sie aus, dem Kläger werde statt der Rente - er sei auf Zeit berufsunfähig - für die Dauer der Umschulung (1. Oktober 1969 bis 30. September 1971) Übergangsgeld gezahlt. Durch Bescheid vom 7. Januar 1970 gewährte sie dem Kläger auch das sogenannte vorgezogene Übergangsgeld, und zwar für die Zeit vom 24. September 1968 an, weil - so heißt es in dem Bescheid - von diesem Tag an Rente zu zahlen gewesen wäre.
Im Mai 1970 brach der Kläger die Umschulung von sich aus ab. Er stellte erneut Antrag auf Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente.
Durch Bescheid vom 8. September 1970 wurde dieser Antrag abgelehnt.
Die Versagung der Rente hielt die Beklagte für gerechtfertigt, weil der Kläger die Umschulungsmaßnahmen ohne triftigen Grund abgebrochen und damit darauf verzichtet habe, für einen Beruf, der seiner früheren Facharbeitertätigkeit gleichzusetzen sei, einsatzfähig zu werden. Dies gestatte seine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Trotz der Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit sei er bei dieser Betrachtungsweise noch nicht berufsunfähig.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. August 1971). Durch Urteil vom 24. August 1972 hat das Landessozialgericht (LSG) unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des dem Verfahren zugrundeliegenden Bescheides die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. Juni 1970 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. In den Entscheidungsgründen heißt es u. a.: Im Rahmen des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) müsse von dem Maurerberuf des Klägers ausgegangen werden. Diesen Beruf - ebenso auch ihm verwandte Tätigkeiten - könne er im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand nicht mehr ausüben. Damit sei er berufsunfähig. Daran habe sich dadurch, daß er die Umschulung vorzeitig abgebrochen habe, nichts geändert. Er habe sich nicht vom Maurerberuf gelöst. Eine Lösung vom Beruf könne angenommen werden, wenn der Versicherte die Möglichkeit, eine seiner früheren Stellung gleichwertige Beschäftigung zu erlangen, nicht nutze. Voraussetzung sei insoweit die geistige und körperliche Eignung für die neue Arbeit. Diese Voraussetzung habe beim Kläger aber erst durch die Umschulung geschaffen werden sollen. Solange der durch die Umschulung angestrebte Erfolg nicht erreicht sei, kämen nur die in § 1243 RVO vorgesehenen Maßnahmen (Versagung der Rente auf Zeit) in Betracht. Davon habe die Beklagte keinen Gebrauch gemacht. Die vom Kläger zuletzt ausgeübten Tätigkeiten könnten dem Maurerberuf gegenüber nicht als gleichwertig angesehen werden. Die Beklagte greift das Urteil mit der Revision an. Sie ist der Meinung, daß der Kläger nicht berufsunfähig sei. Er habe durch die vorzeitige Beendigung der Umschulung den Berufsschutz als Maurer verloren, so daß er sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen müsse. Auch wenn man dieser Auffassung nicht folge, könne das Urteil keinen Bestand haben. Das LSG habe jedenfalls den Rahmen der in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen. Insbesondere sei es notwendig, Einzelheiten hinsichtlich der vom Kläger zuletzt ausgeübten Tätigkeit festzustellen und zu prüfen, ob ihm diese zugemutet werden könne.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen für eine Entscheidung über den vom Kläger erhobenen Rentenanspruch nicht aus.
Das Berufungsgericht durfte sich nicht mit der Prüfung der Frage begnügen, ob die Beklagte aufgrund der Weigerung des Klägers, die Umschulung zu Ende zu führen, zur Versagung der Rente berechtigt war. Die Entscheidung über den Rentenanspruch hängt davon ab, ob der Kläger berufsunfähig ist. Eine Erörterung der hierzu in § 1246 RVO normierten Voraussetzungen durfte nicht etwa deshalb unterbleiben, weil die Beklagte in den Bescheiden, die im Zusammenhang mit dem Rehabilitationsverfahren ergangen sind, zum Ausdruck gebracht hat, sie halte den Kläger für berufsunfähig. Daran war sie für das spätere Rentenverfahren nicht gebunden. Der Wortlaut des § 1241 Abs. 1 Satz 2 RVO läßt zwar die Auslegung zu, das sogenannte vorgezogene Übergangsgeld - diese Leistung hat der Kläger bezogen - dürfe dem Versicherten nur im Falle seiner Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit gewährt werden. Das Übergangsgeld beginnt nämlich beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen mit dem Zeitpunkt, von dem an die Rente zu zahlen gewesen wäre. Eine Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers zur Zahlung der damit angesprochenen Rente besteht aber nur unter den Voraussetzungen der §§ 1246, 1247 RVO. Der Senat hält es zumindest für fraglich, ob eine solche Folgerung, an die ursprünglich gedacht gewesen sein mag, auch heute noch eine sinnvolle Gesetzesanwendung gewährleistet. Die Rehabilitationsmaßnahmen der §§ 1236 ff RVO gewinnen trotz ihres Charakters als Kannleistungen (vgl. § 1236 Abs. 1 RVO) immer mehr an Bedeutung. Die Auffassung, daß ihnen - in allen geeigneten Fällen - der Vorzug gegenüber Rentenleistungen zu geben sei, hat sich durchgesetzt. Sie berücksichtigt in gleichem Maße die Interessen des Versicherten selbst als auch die der Allgemeinheit. Die Heilung von Krankheiten durch ärztliche Behandlung und andere geeignete Maßnahmen sollte auch auf dem Gebiete der Rentenversicherung nach Möglichkeit im Vordergrund stehen. Entsprechendes gilt für den anderen Zweig der Rehabilitation, die Berufsförderung, insbesondere die Ausbildung für einen anderen Beruf (vgl. § 1237 Abs. 3 RVO). Sie wird in erster Linie - wenn auch nicht ausschließlich - dann in Betracht kommen, wenn es sich um einen Versicherten handelt, der eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt hat, diese aber nicht mehr auszuüben vermag. Gerade ihm wird es Befriedigung verschaffen, zukünftig trotz körperlicher Behinderungen wieder eine seinem bisherigen Beruf gleichwertige Beschäftigung verrichten zu können. Zum modernen Wirtschaftsleben gehört Mobilität. Die Vorstellung, in einem einmal erlernten Beruf während der gesamten Dauer des Arbeitslebens tätig sein zu können, erweist sich immer mehr als überholt. Die fortschreitende Entwicklung auf allen Gebieten der Technik und der Wirtschaft erfordert nicht nur eine ständige Weiterbildung, sondern darüber hinaus häufig das Erlernen neuer Fertigkeiten sowie den Erwerb zusätzlicher Kenntnisse. Eine Umschulung kann nicht mehr als außergewöhnliche Maßnahme bezeichnet werden. Es besteht daher kein Anlaß, sie etwa zögernd zu betreiben, wenn sich ihre Notwendigkeit infolge der körperlichen Behinderung eines Versicherten ergibt.
Rehabilitationsmaßnahmen müssen schnell und möglichst unbürokratisch eingeleitet werden. Eine erst Monate nach Auftreten der Erkrankung einsetzende Heilbehandlung verliert an Wirkung. Ebenso verfehlt eine Umschulung ihr Ziel, die so spät beginnt, daß der Versicherte gezwungen wird, sich übergangsweise für einen ungewissen Zeitraum um eine andere Tätigkeit zu bemühen. Diese Erwägung läßt es nach der Auffassung des Senats als bedenklich erscheinen, im Rahmen des § 1241 RVO exakt auf die Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 RVO abzustellen. Die Entscheidung über die Berufsunfähigkeit eines Versicherten in diesem Sinn wird häufig erst nach langwierigen Ermittlungen ergehen können, sei es, daß die medizinische Beurteilung Schwierigkeiten bereitet, sei es, daß die Aufhellung des Arbeitsmarktes - in Verbindung mit der Entscheidung darüber, auf welche Tätigkeiten der Versicherte zumutbar verwiesen werden kann - eine längere Zeitspanne in Anspruch nimmt. Es dürfte mit der Aufgabe der Rehabilitation nicht vereinbar sein, solche umfassende Prüfungen im Rahmen des § 1241 RVO anzustellen und das sogar nur für eine Übergangszeit. Der Senat verkennt nicht, daß das hier aufgeworfene Problem in erster Linie für das vorgezogene Übergangsgeld des § 1241 Abs. 1 Satz 2 RVO bedeutsam ist. Für die Zeit der Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme selbst spielt es keine entscheidende Rolle, ob die Erwerbsfähigkeit des Betreuten erhalten, gebessert oder wiederhergestellt werden soll (vgl. § 1236 Abs. 1 Satz 1 RVO). Gerade hierdurch wird jedoch die Fragwürdigkeit der allein am Gesetzeswortlaut orientierten Interpretation deutlich. Es wird kaum zu rechtfertigen sein, den Versicherten, dem Heilbehandlung gewährt oder der umgeschult werden soll, für die Zeit bis zum Beginn der Maßnahmen auf eine andere Tätigkeit zu verweisen, selbst wenn sie ihm im Rahmen des § 1246 RVO zugemutet werden könnte. Erst recht dürfte wohl nicht darauf bestanden werden können, daß der Versicherte - wie es § 1246 RVO unter Umständen fordert - zur Vermeidung der Berufsunfähigkeit nur für eine absehbare Zeit seinen Wohnsitz verlegt.
Aus diesen Gründen hält der Senat eine differenzierte Betrachtungsweise, je nach dem, ob es sich um die Gewährung einer Rente oder die Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen handelt, für erwägenswert. Sie sollte dazu führen, daß die Selbstverwaltung des Trägers der Rentenversicherung die Möglichkeit erhält, im Rahmen der Rehabilitation im Einzelfall - gemessen an § 1246 RVO - freier zu verfahren. Der vorliegende Fall erfordert keine abschließende Erörterung darüber, wie im einzelnen verfahren werden sollte. Die vorstehenden Erwägungen geben jedoch einen Hinweis darauf, wie der Umfang der Bindungswirkung eines im Rehabilitationsverfahren ergangenen Bescheides zu beurteilen ist. Wenn die Rehabilitation schnell und unbürokratisch einsetzen soll, so kann den Feststellungen, die in diesem Rahmen vom Versicherungsträger getroffen werden, keine auf unabsehbare Dauer gerichtete Bindungswirkung innewohnen. Es bedarf vielmehr einer zeitlichen Begrenzung. Sie wird dadurch erreicht, daß die Dauer der Rehabilitation von Anfang an fest umrissen sein wird. Mit dem Ablauf der in dem Bescheid festgesetzten Zeit verliert dieser - für den Versicherten erkennbar - seine Wirkung, eine weitere Bindung des Versicherungsträgers an einzelne im Bescheid enthaltene Annahmen oder Feststellungen entfällt.
In dem vorliegenden Fall ist es bereits fraglich, ob ein mit Bindungswirkung ausgestatteter Bescheid darüber, daß der Kläger berufsunfähig sei, überhaupt ergangen ist; diese Feststellung kann bloße Begründung des Entscheidungssatzes - dem Kläger werde Rehabilitation und vorgezogenes Übergangsgeld gewährt - sein und von der Bindungswirkung nicht erfaßt werden. Dies kann jedoch dahinstehen. Auch wenn man darin eine Feststellung sehen will, die fähig ist, eine Bindungswirkung zu entfalten, so endet diese jedenfalls dann, wenn der Bescheid im übrigen seine Wirkung verliert. Dem Kläger war mitgeteilt worden, daß die Umschulung am 30. September 1971 enden und die Zahlung des Übergangsgeldes entfallen werde. Damit stand von Anfang an fest, daß die Beklagte jedenfalls von diesem Zeitpunkt an berechtigt sein würde, neue Entscheidungen - auch hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit des Klägers - zu treffen. Infolge des Verhaltens des Klägers, dadurch nämlich, daß er die Umschulung aus eigenem Antrieb vorzeitig abbrach, hat sie dieses Recht schon früher erworben. Für den Kläger war erkennbar, daß ihm Übergangsgeld längstens für die Dauer der Umschulung gewährt werde. Die Entscheidung der Beklagten war mit der Bedingung verknüpft, daß die Umschulung bis zu der in dem Bescheid enthaltenen Zeitbestimmung fortdauere. Gegen die Wirksamkeit einer solchen Bedingung bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn - wie hier - ihr Eintritt bzw. dessen Verhinderung vom Willen des Empfängers des Bescheides abhängt. Es kann offen bleiben, wie zu entscheiden ist, wenn der Versicherungsträger - möglicherweise gegen den Willen des Versicherten - die Umschulung vorzeitig abbricht. Hier hat der Kläger von sich aus das Ende der Rehabilitationsmaßnahmen herbeigeführt. Von diesem Zeitpunkt an - insbesondere im Rahmen des späteren Rentenverfahrens - war die Beklagte berechtigt und verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1246 RVO neu zu prüfen.
Im Rentenverfahren ist auch die Frage zu klären, auf welche Tätigkeiten der Kläger zumutbar verwiesen werden kann. Das LSG hat den Kreis der für ihn in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen. Für den Kläger kommen nicht nur solche Tätigkeiten in Frage, die mit dem von ihm früher ausgeübten Maurerberuf verwandt sind. Dies hat das BSG schon mehrmals ausgesprochen. Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest (vgl. hierzu insbesondere SozR Nrn 104 und 107 zu § 1246 RVO mit weiteren Hinweisen).
Der Rechtsstreit muß aus diesen Gründen zur weiteren Sachaufklärung an das LSG zurückverwiesen werden. Bei der neuen Entscheidung wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, welche Tätigkeiten im einzelnen - unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG - für den Kläger in Betracht kommen. Möglicherweise kann er auf die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit verwiesen werden. Zur Entscheidung darüber bedarf es der Erforschung weiterer Einzelheiten hinsichtlich dieser Tätigkeit. Es ist nicht auszuschließen, daß auch der Tatsache, daß der Kläger auf die weitere Umschulung verzichtet hat, Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang werden allerdings die Gründe, die im einzelnen zur Beendigung der Umschulung geführt haben, zu erforschen sein. Außerdem wird das LSG sein Augenmerk darauf zu richten haben, daß der Kläger die Maurerlehre nicht abgeschlossen und im Verlaufe seines bisherigen Arbeitslebens nicht nur im Baugewerbe, sondern auch in anderen Bereichen gearbeitet hat.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen