Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozessvoraussetzung. Klageänderung. Kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Auslegung von Verwaltungsakten. Anerkennung. Rückenleiden. Berufskrankheit. Übergangsleistung
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Auslegung von Verwaltungsakten ist in Anwendung der für Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) vom objektiven Sinngehalt ihrer Erklärungen auszugehen, wie sie der Empfänger bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste. Dabei ist der der Bestandskraft (Bindungswirkung) zugängliche Verfügungssatz zugrunde zu legen und zur Klärung seines Umfangs die Begründung des Bescheides zu berücksichtigen.
Normenkette
SGG § 99 Abs. 1; BKV § 3 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 2003 aufgehoben, soweit es die Beklagte zur Gewährung von Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 der Berufskrankheiten-Verordnung verurteilt hat. Insoweit wird die Klage als unzulässig abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Ausgangspunkt des Verfahrens ist ein Streit um die Anerkennung eines Rückenleidens als Berufskrankheit (BK).
Der 1941 geborene Kläger war zuletzt in den Jahren 1969 bis 1996 mit Unterbrechungen als Baumaschinist beschäftigt, seitdem ist er arbeitslos. Aufgrund einer ärztlichen BK-Anzeige wegen seines Rückenleidens leitete die Beklagte entsprechende Ermittlungen ein, lehnte aber die Gewährung von Leistungen aufgrund der Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers und die Anerkennung einer BK Nr 2108 oder 2110 nach der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) ab (Bescheid vom 19. Juli 1995, Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1995).
Das angerufene Sozialgericht (SG) Leipzig hat nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen die Klage wegen fehlenden Ursachenzusammenhangs zwischen den beruflichen Belastungen und der Erkrankung des Klägers abgewiesen (Urteil vom 24. Juni 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat weitere medizinische Ermittlungen durchgeführt und aufgrund eines entsprechenden Antrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung, die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG sowie ihrer Bescheide verpflichtet, “Leistungen nach § 3 Abs 2 BKV zu erbringen”. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung der Leistungen nach § 3 Abs 2 BKV hat es ausgeführt: Die Gewährung dieser Leistungen setze nicht die Anerkennung einer BK voraus. Unabhängig von der Ursache der bandscheibenbedingten Erkrankung des Klägers bestehe nach den vorliegenden Befunden für diesen die Gefahr der Entstehung einer BK durch die Verschlimmerung seines Leidens. Bei seinem Befund sei eine weitere mehrjährige Tätigkeit als Baumaschinist ausgeschlossen. Die Entscheidung der Beklagten, dem Kläger Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund seiner Wirbelsäulenbeschwerden nicht zu gewähren, beinhalte auch eine Ablehnung von Leistungen nach § 3 BKV, deren Voraussetzungen von Amts wegen zu prüfen seien. Wenn der Kläger beantrage, seine BK zu berenten, dann liege darin auch das “Minus” einer Leistung nach § 3 BKV.
Mit der – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Sie macht geltend, das LSG habe über einen Anspruch gemäß § 3 Abs 2 BKV entschieden, ohne dass zuvor ein Verwaltungs- und ein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden seien. Im Bescheid vom 19. Juli 1995 und im Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1995 sei nur über ein Ersuchen auf Rente, nicht aber über einen Anspruch auf Leistungen nach § 3 BKV entschieden worden. Ein Antrag auf Berentung einer BK enthalte nicht als Minus einen Antrag auf Leistungen nach § 3 BKV. Zwischen einem Rentenanspruch und einem derartigen Anspruch beständen erhebliche Unterschiede. Die Rente werde als Schadensersatz für den Verlust der Erwerbsfähigkeit nach Eintritt des Versicherungsfalls gezahlt; während Leistungen nach § 3 BKV präventiven Charakter hätten und den Eintritt des Versicherungsfalles vermeiden sollten. Das LSG habe den Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt, die Voraussetzungen des § 3 Abs 2 BKV seien nicht abschließend geprüft worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 2003 abzuändern und die auf die Gewährung von Übergangsleistungen gerichtete Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG ist insofern aufzuheben und die Klage als unzulässig abzuweisen, als es die Beklagte verpflichtet hat, “Leistungen nach § 3 Abs 2 BKV zu erbringen”.
Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch diese Verpflichtung der Beklagten durch das Urteil des LSG, weil nur die Beklagte Revision eingelegt hat. Im Übrigen ist das Urteil des LSG rechtskräftig geworden.
Hinsichtlich der noch umstrittenen Gewährung von “Leistungen nach § 3 Abs 2 BKV” durch die Beklagte ist die Klage unzulässig, sodass das LSG nicht über diesen Anspruch entscheiden durfte.
Denn es fehlt eine Prozessvoraussetzung für die während des Berufungsverfahrens im Wege der Klageänderung nach § 99 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nachträglich erhobene Klage auf Gewährung von Übergangleistungen.
Für eine Klageänderung gelten die üblichen Prozessvoraussetzungen wie für eine neue Klage (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl, 2005, VII RdNr 74). Über die Gewährung von Sozialleistungen, zu denen die besagten Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKV gehören, ist vor Klageerhebung in einem Verwaltungsverfahren zu befinden, das mit einem Verwaltungsakt abschließt, gegen den die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage oder Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig ist (§ 54 Abs 1, 2, 4 SGG). Die Voraussetzungen für eine echte Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG sind bei einem Streit um Übergangsleistungen nicht gegeben (vgl nur Krasney/Udsching, aaO, IV RdNr 1 f, 62, 65 f).
Ein solcher Verwaltungsakt ist bezüglich der Übergangsleistungen nicht ergangen. Der mit der Klage angefochtene Bescheid hat lediglich die Nicht-Anerkennung des Wirbelsäulenleidens des Klägers als BK nach Nr 2108 oder Nr 2110 der Anlage zur BKV zum Gegenstand gehabt. Über Ansprüche auf Geld- oder Sachleistungen im Zusammenhang mit der Wirbelsäulenerkrankung ist dagegen nicht entschieden worden. Der anders lautenden Auffassung des LSG ist nicht zu folgen.
Bei der Auslegung von Verwaltungsakten ist in Anwendung der für Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches ≪BGB≫) vom objektiven Sinngehalt ihrer Erklärungen auszugehen, wie sie der Empfänger bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste (Engelmann in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 31 RdNr 26 mwN), wobei der der Bestandskraft (Bindungswirkung) zugängliche Verfügungssatz zugrunde zu legen und zur Klärung seines Umfangs die Begründung des Bescheides zu berücksichtigen ist (vgl Engelmann, aaO, RdNr 51).
Der Verfügungssatz des Bescheides vom 19. Juli 1995 enthält zwar neben der Ablehnung der Anerkennung einer BK auch die Aussage, dass Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zu erbringen seien. Der Verfügungssatz mag insofern für sich genommen, missverständlich sein. Aus der anschließenden Begründung wie auch aus den Begleitumständen und dem Ablauf des Verwaltungsverfahrens ergibt sich jedoch, dass damit nicht über konkrete Leistungsansprüche entschieden werden sollte.
Das die Klage auslösende Verwaltungsverfahren wurde nicht durch einen Antrag des Klägers eingeleitet, sondern durch eine ärztliche Anzeige auf Verdacht einer BK. Im gesamten Verwaltungsverfahren sind konkrete Leistungen, etwa eine Rente oder die später vom LSG ins Spiel gebrachten Übergangsleistungen, weder vom Kläger beantragt noch zu irgendeinem Zeitpunkt von der Beklagten geprüft oder auch nur erwähnt worden. In der Begründung des angefochtenen Bescheides hat die Beklagte ausgeführt, dass die medizinischen Voraussetzungen zur Anerkennung einer BK nach Nr 2108 oder Nr 2110 der Anlage der BKV nicht gegeben seien, weil keine bandscheibenbedingte Erkrankung vorliege und es an einem ursächlichen Zusammenhang der Wirbelsäulenbeschwerden mit der beruflichen Tätigkeit fehle. Diese Einschätzung hat sie im Widerspruchsbescheid wiederholt. Bei dieser Sachlage konnte für einen verständigen Empfänger des Bescheides kein Zweifel bestehen, dass die Beklagte allein über das Vorliegen einer BK entscheiden wollte und etwaige Leistungsansprüche nicht in Erwägung gezogen hat.
Letzteres ist auch daraus zu ersehen, dass die Gewährung von Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKV den Eintritt eines Versicherungsfalles einer BK nicht voraussetzt, sondern einen eigenen “kleinen” Versicherungsfall neben den “großen” Versicherungsfällen Arbeitsunfall und BK nach § 7 Abs 1, §§ 8, 9 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch darstellt, der weitere und andere Feststellungen, zB hinsichtlich der vorliegenden wirtschaftlichen Nachteile, erfordert (BSGE 93, 164 = SozR 4-5671 § 3 Nr 1, jeweils RdNr 12). Dieses Verhältnis zwischen dem Versicherungsfall einer BK dem Grunde nach und dem für die Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKV erforderlichen “kleinen” Versicherungsfall spricht gegen die Annahme, dass in einem Streit um die Anerkennung des Versicherungsfalls einer BK dem Grunde nach gleichzeitig, ohne dass dies durch eine entsprechende Antragstellung bzw Begründung deutlich wird, als “Minus” der Streit um die Gewährung von Übergangsleistungen enthalten ist.
Die Formulierung im Verfügungssatz des Bescheides: “Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund Ihrer Wirbelsäulenbeschwerden können nicht gewährt werden” sollte ersichtlich nur allgemein die Folgerungen beschreiben, die sich aus der Nichtanerkennung einer BK ergeben. Eine Entscheidung über einzelne konkrete Leistungsansprüche war damit entgegen der Auffassung des LSG nicht verbunden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Trotz ihres Obsiegens in der Sache hat die Beklagte dem Kläger seine Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten, weil sie den Streit um die Gewährung der Übergangsleistungen nach § 3 Abs 2 BKV mit ihrer weiten Formulierung des Verfügungssatzes einerseits und ihrer unzureichenden Prüfung von Amts wegen andererseits veranlasst hat.
Fundstellen