Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. November 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig sind die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der im Jahre 1936 geborene Kläger ist seit 1950 als gelernter Tischler tätig. Im Januar 1989 zeigte der HNO-Arzt L. … bei der Beklagten einen beim Kläger festgestellten Ausfall des Geruchssinns (Anosmie) als BK an und führte diesen auf die Einwirkung von Holzstäuben und den Umgang mit Lacken zurück. Die Beklagte führte umfangreiche Ermittlungen durch. Sie holte ua Stellungnahmen von Prof. Dr. Sch. … und dem Landesgewerbearzt, einen Bericht ihres Technischen Aufsichtsdienstes sowie Gutachten des Arztes für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Prof. Dr. F. … und des Internisten und Arbeitsmediziners Dr. S. … ein und lehnte sodann die Anerkennung des Geruchsausfalls als BK durch Bescheid vom 25. Juni 1992 idF des Widerspruchsbescheids vom 15. September 1992 ab. Eine Listenerkrankung liege nicht vor, und es fehle an neueren Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft für eine Anerkennung wie eine BK.
Das Sozialgericht Hannover (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. September 1994). Eine Anerkennung als Listenerkrankung scheide aus, weil der Ausfall des Geruchssinns nicht in der Liste der Berufskrankheiten (Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung ≪BKVO≫) enthalten sei. Eine Anerkennung wie eine BK gemäß § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei abzulehnen, weil es an aussagekräftigen neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft fehle und insbesondere die erforderliche Vielzahl von vergleichbaren Erkrankungen von in der Berufsgruppe des Klägers Beschäftigten nicht dokumentiert sei.
Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat ein Gutachten des Chefarztes der Hals-Nasen-Ohrenklinik des Städtischen Klinikums Braunschweig Prof. Dr. Sc. … vom 1. Juli 1996 eingeholt. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, aufgrund der neueren wissenschaftlichen Literatur bestehe ein Zusammenhang zwischen der Einwirkung von Holzstäuben, Formaldehyd sowie sonstigen Zusatzstoffen bei der Holzverarbeitung und Schäden der Nasenschleimhaut einschließlich Riechstörungen, was den Zusammenhang zwischen der bei dem Kläger festgestellten Anosmie und einer entsprechenden beruflichen Exposition mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erkläre. Hiergegen hat die Beklagte Einwände erhoben: Aus der von Prof. Dr. Sc. … herangezogenen Literatur sei nur die Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen der Exposition gegenüber Stäuben und Zusatzstoffen und dem aufgetretenen Krankheitsbild abzuleiten. Neue medizinische Erkenntnisse, die geeignet wären, auf einen Zusammenhang zwischen einer Exposition gegenüber Holzstäuben und anderen Zusatzstoffen (insbesondere Formaldehyd) und dem Auftreten von Geruchsausfall hinzudeuten, seien nicht ersichtlich. Erst recht könne im vorliegenden Fall nicht von einer BK-Reife gesprochen werden. Die in der Vergangenheit möglicherweise erfolgte Entschädigung durch andere Versicherungsträger „im Einzelfall” nach § 551 Abs 2 RVO erlaube keine allgemeine Schlußfolgerung für andere Erkrankungsfälle.
Der Kläger hat daraufhin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 26. November 1996 neben dem Sachantrag vorsorglich beantragt, dem Sachverständigen Prof. Dr. Sc. … aufzugeben, sich mit den Einwänden der Beklagten gegen sein Gutachten kritisch auseinanderzusetzen und sich insbesondere zur Problematik der Validität des vorhandenen Zahlenmaterials zu äußern.
Das LSG hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 26. November 1996 zurückgewiesen. Soweit der Kläger das Vorliegen einer Listenerkrankung gemäß § 551 Abs 1 RVO iVm der Anlage 1 (Nrn 1103, 1104 und 1311) zur BKVO geltend mache, lägen die entsprechenden Voraussetzungen nicht vor. Ebensowenig sei ein Anspruch des Klägers auf Anerkennung seines Geruchsausfalls wie eine BK gemäß § 551 Abs 2 RVO gegeben.
Zwar hätten Prof. Dr. F. …, Prof. Dr. Sch. … und Prof. Dr. Sc. … einen Ursachenzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und dem Geruchsausfall des Klägers bejaht. Daraus allein sei indessen nicht der Schluß zu ziehen, daß ein Ausfall des Geruchssinns bei Tischlern bzw Personen, die mit Holzstäuben und Lack-, Spritzlack und Lösemitteldämpfen beruflichen Kontakt hätten, gehäuft einen Ausfall des Geruchssinns zu beklagen hätten. Die Beklagte mache zu Recht geltend, daß die Einwirkung von Holzstaub nach den Beobachtungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften zwischen den Jahren 1963 und 1988 zu den am häufigsten angeschuldigten Einwirkungen für die sog Quasi-BKen gehöre und insgesamt 91 Meldungen im Beobachtungszeitraum erfolgt seien. Selbst wenn man davon ausginge, daß die gemeldeten vier „sonstigen Nasenerkrankungen” alle Geruchsausfälle beträfen, würde es sich bei den 91 insgesamt gemeldeten Fällen eben nur um Einzelfälle handeln. Dies reiche in quantitativer Hinsicht nicht aus, um die erforderliche Vielzahl von vergleichbaren Erkrankungen, dh also BK-Reife anzunehmen. Die von Prof. Dr. F. … und Prof. Dr. Sc. … zitierten Studien seien – „soweit erkennbar” – nicht durchgehend auf Tischler bezogen und gäben auch nicht die Anzahl der überprüften Personen und die Anzahl der bei diesen Kohorten beobachteten Geruchsausfälle an.
Mit seiner – vom Senat zugelassenen – Revision rügt der Kläger, die Entscheidung des LSG beruhe auf einem Verstoß gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er habe ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung am 26. November 1996 beantragt, dem Sachverständigen Prof. Dr. Sc. … aufzugeben, sich mit den Einwänden der Beklagten auseinanderzusetzen und sich auch zur Validität des vorhandenen Zahlenmaterials zu äußern. In den Gründen des Berufungsurteils fehle jegliche Darlegung dafür, weshalb es auf diese Beweisanträge nicht (mehr) ankommen sollte.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des SG Hannover vom 19. September 1994 und des Niedersächsischen LSG vom 26. November 1996 sowie den Bescheid vom 25. Juni 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1992 aufzuheben und festzustellen, daß der bei ihm bestehende Ausfall des Geruchssinnes Folge einer Berufskrankheit ist sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil in verfahrens- und materiell-rechtlicher Hinsicht für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine Entscheidung, ob der geltend gemachte Ausfall des Geruchsinns wie eine BK nach dem hier noch anwendbaren § 551 Abs 2 RVO zu entschädigen ist, nicht aus. Das Urteil beruht auf dem vom Kläger gerügten Verfahrensmangel, daß das LSG unter Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), entschieden hat, bei dem Kläger liege keine wie eine BK zu entschädigende Erkrankung vor.
Zutreffend rügt der Kläger, daß das LSG den medizinischen Sachverhalt unzureichend erforscht hat, indem es dem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisantrag nicht nachgekommen ist. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese das sozialgerichtliche Verfahren beherrschende Untersuchungsmaxime ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterläßt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen (s zuletzt Urteil des Senats vom 18. März 1997 – 2 RU 27/96 – mwN). Aus der sachlich-rechtlichen Sicht des LSG kam es ua darauf an, ob der beim Kläger festgestellte Ausfall des Geruchssinns wie eine BK zu entschädigen ist, und insbesondere zunächst, ob ein Ausfall des Geruchssinns bei Tischlern bzw Personen, die mit Holzstäuben und Lack-, Spritzlack und Lösemitteldämpfen beruflichen Kontakt hätten, gehäuft einen Ausfall des Geruchssinns zu beklagen hätten. Dabei hatte das LSG von allen geeigneten Ermittlungsmöglichkeiten erschöpfend Gebrauch zu machen (vgl BSGE 30, 192, 205).
Weshalb es dem im Termin am 26. November 1996 hilfsweise gestellten Antrag auf nochmalige Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. Sc. … zu den medizinischen Einwänden der Beklagten nicht gefolgt ist, läßt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Insoweit fehlt es sowohl an einer Erwähnung dieses Beweisantrags im Tatbestand des Urteils als auch an einer Auseinandersetzung damit in den Entscheidungsgründen. Dabei mußte es sich angesichts der von ihm nicht aufgeklärten Widersprüche zwischen den Ausführungen des von ihm beauftragten Sachverständigen zu der von ihm herangezogenen medizinischen Fachliteratur und den von ihm daraus gezogenen Schlußfolgerungen zu den von der Beklagten dazu erhobenen Einwänden gedrängt fühlen; es durfte diese einander widersprechenden Aussagen nicht einfach ungeklärt im Raum stehen lassen und insoweit dem Vortrag der Beklagten folgen. Dies gilt hier um so mehr, als Kern der Auseinandersetzung offensichtlich ein Meinungsstreit auf medizinischem Fachgebiet ist, der dem LSG Veranlassung hätte geben sollen, diesem Beweisantrag des Klägers Folge zu leisten, zumal der Sachverständige selbst an einschlägigen medizinischen Forschungsprojekten, die sich mit der Wirkung von Holzstaub und Zusatzstoffen auf die Nasenschleimhaut befaßten, beteiligt war und insoweit fachlich besonders geeignet erscheinen mußte, die Sachaufklärung weiter zu fördern.
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach nochmaliger Anhörung des Sachverständigen und ggf weiterer Ermittlungen zu einer anderen Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens (vgl § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) und damit des vom Kläger erhobenen Anspruchs gelangt wäre.
Die Sache war allein schon deshalb unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen