Entscheidungsstichwort (Thema)
Ursächlicher Zusammenhang
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Beantwortung der Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer beruflichen Tätigkeit und einer Krankheit besteht, liegt auf tatsächlichem Gebiet; sie stellt keine Rechtsfrage dar.
2. Es stellt keine Verfahrensrüge dar, wenn ein Beteiligter die tatsächlichen insbesondere - unter Anschluß an bestimmte ärztliche Gutachter - die medizinischen Umstände des Falles anders würdigt als die Vorinstanz.
3. Zum Vorliegen einer Berufskrankheit, wenn die ersten Beschwerden einer Meniskopathie erst etwa 14 Jahre nach Beendigung der bergmännischen Untertagearbeiten im 45. Lebensjahr aufgetreten sind.
Normenkette
SGG § 163 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; BKVO 7 Anl 1 Nr. 42
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. November 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte bei dem Kläger einen Meniskusschaden als Berufskrankheit (BK) anzuerkennen und zu entschädigen hat.
Bei dem 1925 geborenen, von 1948 bis 1956 als Bergmann unter Tage beschäftigt gewesenen Kläger traten im März 1970 Schmerzen im linken Knie auf. Wegen eines Innenmeniskusschadens wurde der Kläger im Juli 1970 operiert. Er war noch bis Februar 1971 arbeitsunfähig krank.
Mit dem streitigen Bescheid vom 22. Februar 1974 lehnte es die Beklagte nach Einholung mehrerer ärztlicher Gutachten ab, den Kläger aus Anlaß einer BK nach Nr. 42 der Anlage 1 zur Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung (7. BKVO) - Meniskusschaden nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit unter Tage - zu entschädigen: Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Untertagetätigkeit und der Erkrankung des Klägers sei nicht wahrscheinlich.
Im Streitverfahren hatte der Kläger in zweiter Instanz Erfolg. Mit dem angefochtenen Urteil vom 27. November 1975 hat das Landessozialgericht (LSG) nach Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 27. Juni 1974 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß eines am 16. April 1970 eingetretenen Versicherungsfalles der BK Nr. 42 der Anlage 1 zur 7. BKVO Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH zu gewähren. In der Begründung heißt es, im Falle des Klägers spreche der erste Anschein für eine BK. Daß die ersten Beschwerden beim Kläger am linken Knie erst etwa 14 Jahre nach Beendigung der bergmännischen Arbeiten unter Tage im 45. Lebensjahr aufgetreten seien, lasse der ärztliche Sachverständige für eine Ablehnung einer BK nicht gelten. Abzulehnen sei auch die auf das Gutachten des Dr. med. habil. A gestützte Auffassung der Beklagten, daß dann, wenn innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren nach Beendigung der Beschäftigung unter Tage keine Erscheinungen einer Meniskopathie aufträten, kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Untertagetätigkeit und Kniegelenkserkrankung mehr angenommen werden könne. Die kniestrapazierende Tätigkeit des Klägers unter Tage sei im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn Bedingung einer vorzeitigen Meniskusdegeneration. Art und Dauer der Tätigkeit des Klägers unter Tage unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten, die eine besondere Beanspruchung der Kniegelenke bewirken, ließen die Entwicklung eines bergmännischen Meniskusschadens zu. Auch der mikroskopische Befund lasse sich durchaus mit der Tätigkeit des Klägers in Zusammenhang bringen. Fehlstellungen der Beine und Bandscheibenschäden lägen nicht vor. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen angeschuldigter Berufstätigkeit und Meniskusschaden sei ausreichend wahrscheinlich.
Das LSG hat in dem Urteil die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie trägt vor, wesentlich sei im vorliegenden Fall, daß verschiedene Momente in ihrer Wertigkeit gegeneinander abgewogen werden müßten, um die Frage beantworten zu können, ob die Voraussetzungen für eine Berufskrankheit erfüllt seien. Hierbei habe das Berufungsgericht die medizinischen Vorstellungen rechtlich unzutreffend eingeordnet. Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß in einer dreijährigen Untertagetätigkeit stets eine wesentliche Bedingung für die Entstehung einer Meniskusläsion zu sehen sei. Zu beanstanden sei deshalb, daß das LSG dem konkurrierenden Faktor, nämlich der langjährigen normalen Belastung des Meniskusgewebes, nicht die ihm zukommende Bedeutung beimesse. Der normale Verschleiß des täglichen Lebens komme in einer Vielzahl von Fällen als alleinige Ursache für einen Meniskusschaden in Frage. Auch die Tatsache, daß nur etwa 1% der gefährdeten Belegschaft an einer Meniskusschädigung erkrankt, habe zu wenig Beachtung gefunden. Es müsse daher nach einem medizinisch und rechtlich vertretbaren Weg gesucht werden, der eine Abgrenzung normaler Verschleißerscheinungen von den Fällen ermöglicht, die durch mehrjährige Untertagetätigkeit eine negative Entwicklung nehmen. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen spreche bei einem längeren Intervall von wenigstens fünf Jahren zwischen Aufgabe der Untertagetätigkeit und den ersten Anzeichen einer Meniskusschädigung nunmehr die Vermutung dafür, daß die normale Einwirkung auf den Meniskus von nachhaltigem Einfluß gewesen sei. Die Untertagetätigkeit sei dann zwar Bestandteil der Gesamtentwicklung, könne aber nicht mit Wahrscheinlichkeit als wesentliche Bedingung gewertet werden. Auch der prima-facie-Beweis sei dann erschüttert. Angesichts der Ätiologie des Meniskusleidens spiele das zeitliche Verhältnis des Manifestwerdens von Beschwerden zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit eine entscheidende Rolle. Dagegen sei nicht von Gewicht, daß der Versicherte in einem verhältnismäßig geringen Lebensalter erkranke. Selbst bei 15- und 16-jährigen Jugendlichen seien degenerativ schwer veränderte Menisken zu beobachten. Art und Dauer der Tätigkeit des Versicherten unter Tage begründe nur die Möglichkeit einer Mitverursachung des Gesamtschadens. Es treffe nicht zu, daß die in der vorliegenden Streitsache festzulegende Abgrenzung rein faktischer, dh medizinisch-naturwissenschaftlicher Natur sei. Es sei eine rechtliche Frage, ob eine mindestens dreijährige Untertagetätigkeit immer zur Anerkennung einer Berufskrankheit führe oder ob hier eine wesentliche Wertigkeit zwischen diesem Faktor und den normalen täglichen Einflüssen gegeben sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. November 1975 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, das LSG habe in seiner Entscheidung keine von den Gutachtern angestellten rechtlichen, sondern Gründe medizinisch-naturwissenschaftlicher Art zugrunde gelegt. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe das LSG keineswegs bei Bejahung einer dreijährigen Untertagetätigkeit stets eine wesentliche Bedingung für die Entstehung einer Meniskusläsion angenommen. Es treffe auch nicht zu, daß der Verordnungsgeber die Entwicklung im Bergbau nicht habe voraussehen können. Das angefochtene Urteil sei richtig.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Die Beklagte kann gemäß § 162 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Revision nur darauf stützen, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt.
Das Bundessozialgericht (BSG) darf mithin die Entscheidung des LSG nur in rechtlicher Hinsicht überprüfen; an die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist das Revisionsgericht dagegen nach § 163 SGG gebunden. Die Beklagte beanstandet an dem angefochtenen Urteil hauptsächlich, daß das LSG zu Unrecht einen wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen der früheren bergmännischen Tätigkeit des Klägers unter Tage und dessen Meniskusschaden angenommen habe. So trägt sie vor, daß das LSG in bezug auf den ursächlichen Zusammenhang "die medizinischen Vorstellungen" unzutreffend eingeordnet habe, daß das Gericht nicht hätte davon ausgehen dürfen, in einer dreijährigen Untertagetätigkeit sei "stets eine wesentliche Bedingung für die Entstehung einer Meniskusläsion zu sehen", daß nach einem "vertretbaren Weg gesucht werden (muß), der eine Abgrenzung normaler Verschleißerscheinungen von den Fällen ermöglicht, die durch mehrjährige Untertagetätigkeit eine negative Entwicklung nehmen", daß "angesichts der Ätiologie des Meniskusleidens ... der Zeitfaktor ... eine entscheidende Rolle" spiele und dergleichen mehr. Der Vortrag der Beklagten betrifft mithin die sogenannte medizinische Kausalität. Die Beantwortung der Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer beruflichen Tätigkeit und einer Krankheit besteht, liegt jedoch auf tatsächlichem Gebiet; sie stellt keine Rechtsfrage dar. Demgemäß haben die Tatsachengerichte in der Regel unter Heranziehung medizinischer Sachverständiger diese Frage im Rahmen der Würdigung der Beweise zu beantworten. Eine Rechtsfrage kann in bezug auf den ursächlichen Zusammenhang nur vorliegen, soweit es um die Anwendung der Kausalnorm geht: Nicht jeder Umstand nämlich, der irgendwie zu einem schädigenden Erfolg beigetragen hat, ist rechtlich beachtlich, also Ursache im Rechtssinne; im Sozialrecht ist als Ursache vielmehr unter Abwägung des verschiedenen Wertes aller Teilursachen nur die Bedingung anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl. RVA AN 1912, 930; 1914, 411; 1926, 480; EuM Bd. 39, 265; BSGE 1, 72, 150 und 268 sowie fortan in ständiger Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall rügt die Beklagte jedoch nicht, daß das LSG - wie § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung formuliert hat - bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt hat. Das LSG ist erkennbar von der Theorie der wesentlichen Bedingung ausgegangen und die Beklagte hat hiergegen auch keinen Angriff gerichtet.
Die Frage, ob die frühere Arbeit des Klägers im Bergbau sein Kniegelenksleiden verursacht hat, wird entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht deswegen zu einer rechtlichen Frage, weil "die mit der Entwicklung im Bergbau einhergehenden neuen Fragestellungen zu lösen und ... neue medizinische Erkenntnisse zu werten und einzuordnen sind". Diese Wertung und Einordnung liegt auf dem den Tatsachengerichten zugewiesenen Gebiet der Beweiswürdigung. Sie könnte die Beklagte nur mit der Rüge der Verletzung des Verfahrensrechts, also mit der Behauptung angreifen, das LSG habe die Grenzen seines ihm nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG zustehenden Rechts, die Beweise frei zu würdigen, verletzt. Eine solche Verfahrensrüge, die den Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG entspräche, hat die Beklagte jedoch nicht vorgebracht. Insbesondere stellt es keine Verfahrensrüge dar, wenn die Beklagte die tatsächlichen, insbesondere - unter Anschluß an bestimmte ärztliche Gutachter - die medizinischen Umstände des Falles anders würdigt als das LSG.
Das angefochtene Urteil beruht auch nicht auf einer Verletzung der Grundsätze über den prima-facie-Beweis. Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen nicht auf diese Grundsätze, sondern auf die Gutachten der Dres. B und L gestützt.
Nach alledem ist die Revision der Beklagten unbegründet. Sie war mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen