Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.10.1991; Aktenzeichen L 2 BU 66/91)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Verletztenrente wegen verschiedener Berufskrankheiten (BKen). Er ist im bisherigen Verfahren ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Duisburg ≪SG≫ vom 11. Juli 1991; Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ≪LSG≫ vom 24. Oktober 1991).

Wegen unterschiedlicher Erkrankungen des Klägers ging bei der Beklagten am 20. November 1989 eine Ärztliche Anzeige über BKen ein. Die Beklagte bildete bezüglich der einzelnen BKen jeweils einen gesonderten Aktenvorgang. Am 19. Oktober 1990 lehnte sie den Anspruch des Klägers auf Entschädigung wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Nrn 4101 und 4102 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ≪BKVO≫) mit der Begründung ab, daß die geringgradigen pneumokoniotischen Veränderungen noch keine die Erwerbsfähigkeit mindernde Einschränkung der Lungen- und Herzkreislauffunktion zeigten. Dem hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers half die Beklagte mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1991 nicht ab.

Durch ihren Bescheid vom 26. November 1990 lehnte die Beklagte auch die Entschädigung einer BK Nr 2103 der Anlage 1 zur BKVO (Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen) ab. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger die am 28. Dezember 1990 beim SG eingegangene Klage.

Durch den weiteren Bescheid vom 16. Januar 1991 lehnte die Beklagte ferner die Entschädigung des Klägers wegen verschiedener Änderungen am Skelettsystem ab, weil die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht gegeben seien.

Das Verfahren wegen der geltend gemachten BK Nr 2301 der Anlage 1 zur BKVO (Lärmschwerhörigkeit) gab die Beklagte wegen ihrer Unzuständigkeit an eine andere Berufsgenossenschaft (BG) ab.

In seiner Klageschrift vom 23. Dezember 1990 wandte der Kläger sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. November 1990 und führte darüber hinaus folgendes aus: „Auch ist schon vor mehreren Jahren Steinstaub in meiner Lunge festgestellt worden, so daß ich heute auch ständig mit Luftnot zu tun habe. Auch habe ich während meiner Arbeit unter Tage mehrere schwere und leichte Unfälle gehabt, die mir heute viel zu schaffen machen”.

Er beantragte in der mündlichen Verhandlung Verletztenrente wegen einer BK Nr 2103 der Anlage 1 zur BKVO. In dem klageabweisenden Urteil des SG heißt es ua, daß beim Kläger eine entsprechende Erkrankung nicht vorliege. Auch in dem Urteil des LSG ist ausgeführt, daß durch Sachverständige krankhafte Veränderungen, wie sie für eine Erkrankung als Folge der Arbeit mit Druckwerkzeugen typisch seien, nicht hätten festgestellt werden können. Zuvor hatte der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf eine entsprechende Belehrung des LSG hin erklärt, daß er Ansprüche wegen sonstiger BKen in dem anhängigen Verfahren nicht geltend mache.

Im Revisionsverfahren rügt der Kläger, das LSG hätte sich nicht damit begnügen dürfen, nur über das Vorhandensein einer einzigen BK zu befinden. Es hätte unter Berücksichtigung von § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch auf die weiteren Bescheide der Beklagten sowie auf die Frage eingehen müssen, ob dem Kläger im Zusammenhang mit der von ihm geltend gemachten Lärmschwerhörigkeit eine Verletztenrente zustehe. Lediglich die Geltendmachung einer Entschädigung gemäß § 551 Abs 2 RVO scheide aus. Es hätte berücksichtigt werden müssen, daß unter Umständen die Zahlung einer sogenannten Stützrente in Betracht komme. Zwar habe er nicht ausdrücklich eine solche Stützrente begehrt. Seinem Klagebegehren sei jedoch zu entnehmen gewesen, daß er sein Rentenbegehren allgemein auf das Vorliegen mehrerer BKen stütze. Zwar sei es möglich, daß das Urteil des LSG mit Bezug auf die BK Nr 2103 der Anlage 1 zur BKVO nicht anders hätte ausfallen können; im Hinblick auf die anderen geltend gemachten BKen hätte dem Kläger jedoch eine Rente zugesprochen werden können und müssen. Dies sei durch das verfahrensfehlerhafte Verhalten des LSG verhindert worden.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des Sozialgerichts Duisburg vom 11. Juli 1991 und des Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1991 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente aus der Unfallversicherung zu zahlen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1991 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Erklärungen des Klägers gegenüber dem Gericht zeigen nach Meinung der Beklagten, daß er Ansprüche nur wegen der BK Nr 2103 der BKVO geltend gemacht habe. § 96 SGG greife in einem solchen Falle nicht ein. Es bestehe auch keine Veranlassung, diese Vorschrift angesichts des § 581 Abs 3 RVO weiter auszulegen als die Vorschrift dies aus sich heraus verlange. Die streitbefangene BK sei nicht vorhanden gewesen, weil entsprechende regelwidrige Körperbefunde nicht hätten festgestellt werden können. Aus diesem Grunde sei durch die BK Nr 2103 der Anlage 1 zur BKVO eine Beeinflussung des Streitstoffes bezüglich anderer BKen nicht möglich gewesen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das angefochtene Urteil ist nicht verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Es ist in der Sache zutreffend.

Hauptstreitpunkt zwischen den Verfahrensbeteiligten ist die Frage, über welchen Streitgegenstand bzw über welches Begehren des Klägers die Gerichte der Vorinstanzen zu entscheiden hatten. Während der Kläger der Auffassung ist, das LSG hätte sich mit seinem umfangreichen Begehren und nicht lediglich mit einer einzigen BK befassen müssen, vertritt die Beklagte die Ansicht, das LSG und auch das SG hätten zutreffend nur im Rahmen der Anträge des Klägers entschieden.

Der Senat vermag der Auffassung der Revision nicht zu folgen, daß mit der Klageschrift vom 23. Dezember 1990 das Gesamtbegehren des Klägers rechtshängig gemacht worden sei. Es kann hier unentschieden bleiben, ob dies zumindest teilweise deswegen unzulässig gewesen wäre, weil keine Bescheide vorlagen. Der Kläger hat sich in seiner Klageschrift erkennbar nur gegen die Nichtanerkennung der BK Nr 2103 gewandt. Allein dies hat er ausführlicher begründet. Auch die Auslegung der oben wörtlich wiedergegebenen Passage aus seiner Klageschrift führt zu keinem anderen Ergebnis. Sie enthält lediglich den Hinweis, daß es infolge seiner Untertagetätigkeit zu Steinstaubeinlagerungen und mehreren schweren und leichten Unfällen gekommen sei. Aufgrund dessen bestand für das SG „auch angesichts der knappen Darstellung des komplexen Geschehens” keine Veranlassung, der Aufklärung weiterer Arbeitsunfälle oder BKen nachzugehen. Insbesondere brauchte es über die behaupteten Steinstaubeinlagerungen nicht zu befinden.

Anders wäre es zu beurteilen, wenn das weitergehende Begehren – das im sozialgerichtlichen Verfahren bisher nicht behandelt und beurteilt worden ist – durch eine gesetzliche Vorschrift Gegenstand des Verfahrens geworden wäre. Dies könnte gem § 96 SGG oder § 581 Abs 3 RVO geschehen sein. Dann käme es auf die weitere Frage an, ob die Gerichte der Vorinstanzen oder die Beteiligten einen Teil des kraft Gesetzes gebildeten Streitgegenstandes aus dem Verfahren ausnehmen und einem anderen Verfahren zuweisen können.

Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß bei Streit über die Gewährung von Verletztenrente wegen verschiedener BKen ein etwaiger Anspruch auf sogenannte Stützrenten beachtet werden müßte. Das Gesetz enthält nämlich in § 581 Abs 3 RVO eine Sonderregelung für die Behandlung dieser Renten; sie erfordert eine gleichzeitige und einheitliche Beurteilung. Dies folgt daraus, daß beim Vorhandensein einer BK oder eines Arbeitsunfalles mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 10 vH diese zusammen mit einer anderen BK oder den Folgen eines anderen Unfalles wenigstens die Zahl 20 erreichen muß. Nur dann wird für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall, Verletztenrente gewährt (§ 581 Abs 3 Satz 1 RVO). Das Zusammenzählen der Hundertsätze der MdE aus den einzelnen Arbeitsunfällen führt nicht zur Bildung einer Gesamt-MdE. Vielmehr wird für jeden Arbeitsunfall von den – ggfs verschiedenen – Unfallversicherungsträgern die Teilrente entsprechend dem jeweiligen Grad der MdE gesondert festgestellt (vgl hierzu im einzelnen und ausführlich das Urteil des BSG vom 28. Februar 1986 – 2 RU 23/84 –).

Aufgrund dessen verlangen die genannten Vorschriften bereits nach Sinn und Wortlaut, daß beim Vorliegen mehrerer Arbeitsunfälle bzw BKen, welche eine MdE von wenigstens 10 vH bedingen, wie oben dargelegt, eine einheitliche Entscheidung zu erfolgen hat. Dem hat das BSG (aaO) Rechnung getragen, indem es die Beurteilung der Folgen der einzelnen BK bzw des einzelnen Arbeitsunfalles nicht lediglich als eine materiell-rechtliche Vorfrage wertet, sondern davon ausgeht, daß § 581 Abs 3 RVO eine einheitliche Entscheidung erforderlich macht. Gegenstand eines Streites über die Gewährung mehrerer Stützrenten jeweils mit einer MdE unter 20 vH kann demnach nicht die Gewährung einer Teilrente für die einzelne BK oder den einzelnen Arbeitsunfall allein sein, sondern vielmehr sämtliche Stützrenten, weil die Zahlung der einzelnen Stützrenten untrennbar mit der der anderen verbunden ist.

Die Revision geht demnach von dem zutreffenden Grundgedanken aus, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in der Regel über eine einzelne Stützrente nicht entscheiden dürfen. Ob sich dies schon aus der materiell-rechtlichen Vorschrift des § 581 Abs 3 RVO oder aber aus der Verfahrensvorschrift des § 96 SGG ergibt, kann im Einzelfalle unterschiedlich zu beurteilen sein. Dies erschließt sich aus der jeweiligen Sachverhaltsgestaltung bzw prozessualen Situation, wobei es zwar auf unterschiedlichen Wegen, letztlich aber doch zu einer einheitlichen Entscheidung kommt (s dazu BSG SozR 2200 § 581 Nr 20 und das oben zitierte Urteil des 2. Senats des BSG).

Voraussetzung dafür, daß Verfahren über Stützrenten untrennbar verbunden sind, ist, daß sich in dem sozialgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit zeigt, daß einem Verletzten mehrere Stützrenten zu zahlen sind. Nach § 581 Abs 3 Satz 2 RVO sind die Folgen eines Arbeitsunfalles bzw einer BK – wie ausgeführt – nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vH mindern. Ist dies erkennbar nicht der Fall, etwa weil ein Arbeitsunfall nicht vorliegt oder ein solcher keine MdE bedingt, kommt eine Stützrente nicht in Betracht. Dann ist es unerheblich, ob andere Arbeitsunfälle oder BKen mit einer MdE um mindestens 10 vH vorhanden sind. Bei einer solchen Sachlage bedarf der Rechtsstreit keiner einheitlichen Entscheidung auch über andere Arbeitsunfälle oder BKen, weil eine Stützrente in dem anhängigen Verfahren nicht in Betracht kommen kann.

So ist es hier. Aufgrund der bindenden Feststellungen des LSG steht fest, daß bezüglich der BK Nr 2103 der Anlage 1 zur BKVO jegliche Befunde fehlen, welche überhaupt nur das Vorhandensein einer BK im Sinne dieser Vorschrift möglich erscheinen lassen. Aus diesem Grunde lagen die Voraussetzungen nicht vor, unter denen eine einheitliche materiell-rechtliche Entscheidung zusammen mit anderen Arbeitsunfällen oder BKen, sei es nach § 96 SGG, sei es nach § 581 Abs 3 RVO, erforderlich werden könnte.

Die Gerichte der Vorinstanzen haben daher mit Recht keine Veranlassung gesehen anzunehmen, daß kraft Gesetzes weitere BKen oder Arbeitsunfälle in das anhängige Verfahren hätten einbezogen werden müssen.

Nach alledem ist die Revision des Klägers nicht begründet. Sie war zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174689

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