Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 21.09.1960)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 21. September 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Das Versorgungsamt (VersorgA) gewährte der Klägerin auf ihren Antrag vom 25. Juni 1953 nach Aufklärung des Sachverhalts durch Bescheid vom 23. Januar 1954 Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 1. Juni 1953 ab. Mit dem Widerspruch wiederholte die Klägerin ihre schon früher gemachten Angaben, sie habe am 14. Januar 1953 im Flüchtlingslager Altenstadt die Gewährung von Hinterbliebenenrente beantragt. Sie habe in der sowjetischen Besatzungszone Kriegswitwenrente bezogen. Der Widerspruch und die mit gleicher Begründung erhobene Klage blieben im Hinblick auf die Bescheinigung des Bürgermeisters der Gemeinde Altenstadt vom 14. Januar 1953 erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat ausgeführt, der Antrag vom 14. Januar 1953 habe sich lediglich auf die Rente aus der Sozialversicherung gemäß § 1613 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bezogen. Es sei glaubhaft, daß die Klägerin auch die Kriegshinterbliebenenrente habe beantragen wollen. Diese Absicht habe jedoch weder in diesem Antrag noch sonst irgendwie Ausdruck gefunden. Es hat die Berufung zugelassen.

Die Klägerin hat Berufung eingelegt und ist dabei geblieben, sie habe am 14. Januar 1953 auch die Witwenrente aus der Kriegsopferversorgung beantragt. Die von der Klägerin als Zeugin benannte ehemalige Fürsorgerin im Lager hat erklärt, sie könne im Hinblick auf den großen zeitlichen Abstand keine genauen Angaben mehr machen. Sie wisse aber, daß die Klägerin ihre Rentenanträge gestellt habe. Durch Urteil vom 21. September 1960 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, an die Zulassung der Berufung durch das SG sei das LSG nur dann gebunden, wenn sie mit dem Gesetz in Einklang zu bringen sei. Weder der Urteilsbegründung des SG noch dem sonstigen Akteninhalt sei zu entnehmen, daß die Rechtssache der Klägerin grundsätzliche Bedeutung habe. Es gehe um die Auslegung einer bestimmten Willenserklärung, wobei es sich sicherlich um einen ganz seltenen Einzelfall handele. Andere Gründe für die Zulassung der Berufung seien nicht ersichtlich. Sie sei mit dem Gesetz nicht vereinbar und deshalb für das LSG nicht verbindlich. Das LSG hat sich hierbei auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) über die Unwirksamkeit der Zulassung der Revision gestützt und hat die Revision zugelassen, weil die Rechtsfrage, ob die gesetzwidrige Zulassung der Berufung das Rechtsmittelgericht binde, von grundsätzlicher Bedeutung sei.

Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Sie rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Nach ihrer Ansicht habe das LSG seine Bindung an die Zulassung der Berufung durch das SG zu Unrecht verneint, da die Entscheidung der ersten Instanz den Stempel der Rechtswidrigkeit nicht auf der Stirn trage.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Revision ist durch Zulassung, gegen deren Rechtsgültigkeit keine Bedenken bestehen, statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Mithin ist sie zulässig.

Das Rechtsmittel ist aber nicht begründet.

Nach § 150 Nr. 1 SGG hat das SG im Urteil die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn das SG in der Auslegung einer Rechtsvorschrift von einem Urteil des im Rechtszug übergeordneten LSG abweicht. Hier hat das SG nicht ausgeführt, aus welchen Gründen es die Berufung zugelassen hat. Dies ist nach dem Gesetz zwar nicht erforderlich, denn eine Begründung dieser Nebenentscheidung des SG ist nicht vorgeschrieben. Das Fehlen einer Begründung hat es aber dem LSG nicht ermöglicht festzustellen, aus welchen Gründen das SG die Zulassung ausgesprochen hat. Die zweite Alternative des § 150 Nr. 1 SGG, das Abweichen von einem Urteil des LSG bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift, kommt hier nicht in Betracht. Infolgedessen hat das Berufungsgericht hier angenommen, das SG habe die Berufung deshalb zugelassen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukomme. Im Hinblick auf die fehlende Begründung der Zulassung hat das LSG nicht von den Erwägungen des SG ausgehen können, sondern hat nur von seinem Rechtsstandpunkt die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache prüfen können. Es hat diese Voraussetzung verneint und deshalb die Zulassung für unwirksam angesehen. Dieses Verfahren ist im vorliegenden Falle frei von Rechtsirrtum.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sind das Berufungs- und das Revisionsgericht grundsätzlich an die Zulassung oder Nichtzulassung des Rechtsmittels durch das Gericht gebunden, dessen Entscheidung durch das Rechtsmittel angefochten werden soll (BSG 6, 70 ff; BSG in SozR SGG § 150 Bl. Da 7 Nr. 17, Bl. Da 8 Nr. 19). Insbesondere ist die Entscheidung des Vordergerichts für das Rechtsmittelgericht nach der ständigen Rechtsprechung des BSG dann bindend, wenn die Zulassung zu Unrecht unterblieben ist; dies begründet auch nicht etwa einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne der §§ 150 Nr. 2, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Aus der Bindung des Rechtsmittelgerichts an eine zu Unrecht unterbliebene Zulassung des Rechtsmittels ist gelegentlich gefolgert worden (Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGb 2. Aufl., 11. Nachtrag, § 150 Anm. 2 S. III/60), die Zulassung der Berufung könne nicht anders behandelt werden als die Nichtzulassung, weshalb die Rechtsgültigkeit der Zulassung vom Rechtsmittelgericht nicht geprüft werden dürfe. Nach dieser Auffassung ließen sich keine zwingenden Gründe dafür finden, daß der Gesetzgeber einerseits dem SG die Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung mit bindender Wirkung für das LSG überlassen wolle, während andererseits das LSG berechtigt sein solle, die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nachzuprüfen. Dem kann sich der Senat nicht anschließen.

Auch wenn die Zulassung der Berufung als eine das weitere Verfahren gestaltende Nebenentscheidung angesehen wird, die eine besondere Prozeßvoraussetzung des Berufungsverfahrens ist (BSG in SozR SGG § 150 Bl. Da 8–9 Nr. 19), s. ist damit allein nicht dargetan, daß die Zulassung der Berufung ebenso behandelt werden müsse wie die Nichtzulassung. Denn diese beiden Entscheidungen weichen in ihren Wirkungen grundlegend von einander ab. Ist die Berufung nicht zugelassen worden, s. ist dem Beteiligten, welcher durch das Urteil beschwert ist, der weitere Rechtszug genommen. Er ist also benachteiligt, wenn die Berufung zu Unrecht nicht zugelassen worden ist. Diese Folge einer unrichtigen Entscheidung über die Nichtzulassung hat der Gesetzgeber gewollt, wie sich aus dem Abweichen der Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG von § 98 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung (BT-Drucks., 1. Wahlperiode, Nr. 4357) ergibt (vgl. BSG in SozR SGG § 150 Bl. Da 7 Nr. 17 und Bl. Da 8 Nr. 19). Ist andererseits die Berufung zugelassen worden, s. ist der weitere Rechtsweg ermöglicht und der Beteiligte beschwert, welcher in der Sache vor dem SG obgesiegt hat. Darüber hinaus aber kann das weitere Verfahren rechtswidrig sein, wenn die Zulassung gegen das Gesetz verstößt. Denn wenn auch die besondere Prozeßvoraussetzung der Zulassung vorliegt, s. macht ihr Vorhandensein allein das weitere Verfahren nicht zu einem rechtmäßigen, wenn sie selbst gegen das Gesetz verstößt. Diese weitreichende Wirkung kann die zu Unrecht – ja entgegen dem Gesetz – unterbliebene Zulassung der Berufung nicht haben. Aus diesem Grunde kann die das weitere Verfahren gestaltende Nebenentscheidung des SG über die Zulassung der Berufung nicht ebenso beurteilt werden wie die über die Nichtzulassung.

Da jedes Gericht vorab zu prüfen hat, ob der zu ihn beschrittene Rechtsweg rechtsgültig ist, kann das Berufungsgericht dieser Pflicht durch eine Nebenentscheidung des Vordergerichts nicht stets enthoben sein. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß das Berufungsgericht die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nicht nur hinsichtlich ihres Vorhandenseins, sondern auch hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit nachprüfen darf. Hieran schließt sich die Frage an, in welchen Fällen das Gericht des zweiten Rechtszuges an eine unrichtige Zulassung nicht gebunden ist. Insoweit wendet der Senat die Grundsätze an, welche die Rechtsprechung über die Unwirksamkeit einer Zulassung der Revision entwickelt hat (vgl. BSG 1, 104 ff; 10, 240 ff, 269 ff). Zwar stimmen die Vorschriften der §§ 150 Nr. 1 und 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht wörtlich überein. Diese Verschiedenheiten sind jedoch – wie der Senat bereits entschieden hat (BSG in SozR SGG § 150 Bl. Da 7 bis Da 8 Nr. 17) – nur äußerliche Fassungsunterschiede, während inhaltlich der gleiche Wille zum Ausdruck gebracht wird, daß nämlich das vorgesehene Rechtsmittel nur bei Zulassung durch das Gericht gegeben ist, dessen Entscheidung angefochten werden soll. Die Aufzählung der Zulassungsgründe in § 150 Nr. 1 SGG ist erschöpfend. Der Wortlaut der Nr. 1 läßt – ebenso wie § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG – eine andere Auslegung nicht zu. Danach sind die Möglichkeiten, die Berufung zuzulassen, auf die Fälle der Zulassungspflicht beschränkt. Das SG kann mithin die Berufung – ebenso wenig wie das Berufungsgericht die Revision – nicht nach freiem Ermessen, sondern nur in den Fällen zulassen, die in Nr. 1 des § 150 SGG genannt sind. Aus diesen Gründen können die in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Grundsätze über die Unwirksamkeit einer Zulassung der Revision hier herangezogen werden.

Nach dieser Rechtsprechung (BSG 1, 104 ff; 10, 240 ff, 269 ff) ist nicht schon jede unbegründete Zulassung der Revision rechtsunwirksam, sondern nur eine offenbar gesetzwidrige. Bei Anwendung auf die Berufung ist also festzustellen, daß nur eine offenbar gesetzwidrig erfolgte Zulassung der Berufung rechtsunwirksam ist und das Berufungsgericht nicht bindet. Dies hat das BSG bereits für den Fall einer Sprungrevision nach § 161 SGG entschieden, wenn die Berufung, obwohl sie nach § 143 SGG zulässig war, auf Antrag eines Beteiligten nach § 150 Nr. 1 SGG offensichtlich nur zur Ermöglichung der Sprungrevision zugelassen worden war (BSG 8, 84 ff). In Übereinstimmung mit dem Schrifttum und der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG 10, 241 mit weiteren Nachweisen) ist eine offenbar oder offensichtlich gesetzwidrige Zulassung dann anzunehmen, wenn sich aus der gegebenen Zulassungsbegründung und dem Gesamtinhalt des Urteils des SG eindeutig ergibt, daß keine der in § 150 Nr. 1 SGG genannten Voraussetzungen gegeben ist, unter der die Berufung zuzulassen ist.

Diese Grundsätze stehen mit dem Urteil des dritten Senats vom 20. Februar 1957 – 3 RK 29/55 – (vgl. BSG in SozR § 150 Bl. Da 8 Nr. 19) nicht in Widerspruch, weil in diesem Rechtsstreit die Berufung nicht zugelassen worden und über die Frage zu entscheiden war, ob die Nichtzulassung der Berufung einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG darstelle.

Im vorliegenden Fall konnte das LSG die Gründe für die prozessuale Nebenentscheidung der Zulassung der Berufung nicht aus dem Urteil des SG entnehmen, weil es insoweit keine Begründung enthält. Das Berufungsgericht war deshalb berechtigt, die Gründe hierfür durch die von ihn selbst vorgenommene Auslegung der Entscheidung des SG zu ermitteln. Es hat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, ohne daß in seiner Entscheidung ein Rechtsverstoß ersichtlich wäre, und hat ausgeführt, die hier zu entscheidende Rechtssache sei einmalig, ihr komme grundsätzliche Bedeutung nicht zu. Eine Rechtssache hat dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie über den Einzelfall hinaus für die Einheit und Fortentwicklung des Rechts belangvoll ist oder für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle eine Klärung bringt (BSG 2, 129 ff, 132). Im Hinblick auf diese zweifelsfreie Auslegung des § 150 Nr. 1 SGG konnte das LSG bei dem vorliegenden Sachverhalt entgegen der Auffassung der Klägerin, die Entscheidung des SG trage nicht „den Stempel der Rechtswidrigkeit auf der Stirn”, die Zulassung der Berufung ohne Rechtsverstoß als offenbar gesetzwidrig ansehen, s. daß seiner Rechtsauffassung im Ergebnis beizupflichten ist, es sei hier an die Zulassung nicht gebunden, wenn auch – wie bereits dargelegt – seine allgemein geäußerte Rechtsansicht über die Unwirksamkeit der Zulassung nicht ohne weiteres gebilligt worden kann.

Infolgedessen hat das Berufungsgericht ohne Rechtsverstoß die Berufung trotz Zulassung als nicht statthaft ansehen dürfen und hat sie zu Recht als unzulässig verworfen. Damit war ihm ein Eingehen auf die Auslegung verwehrt, welche das SG über die Tragweite des Antrags vom 14. Januar 1953 vorgenommen hat. Bei dieser Rechtslage konnte das BSG auch nicht zu der Frage Stellung nehmen, ob der – von der Aufnahmebehörde gefaßte – Antrag vom Januar 1953 mit Rücksicht auf die Rentenregelung in der sowjetisch besetzten Zone nicht auch als Antrag auf Gewährung der Hinterbliebenenversorgung nach dem BVG hätte aufgefaßt werden können. Dementsprechend erweist sich die Revision der Klägerin als nicht begründet und war nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 15 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

 

Unterschriften

Stengel, Dr. Rottmann, Petersen

 

Fundstellen

NJW 1962, 2174

MDR 1962, 1023

DVBl. 1963, 121

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge