Entscheidungsstichwort (Thema)
Bei gescheiterter Vermittlung von Arbeit nicht zwingend Erwerbsunfähigkeitsrente
Leitsatz (amtlich)
Wird ein noch vollschichtig arbeitsfähiger Versicherter auf eine ihm zumutbare Arbeitstätigkeit verwiesen, so ist die Frage, ob es dafür ausreichend Arbeitsplätze gibt, nur dann zu prüfen, wenn
a) er die Tätigkeit nicht unter den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann, oder
b) er entsprechende Arbeitsplätze von seiner Wohnung aus nicht zu erreichen vermag, oder
c) die Tätigkeiten nicht in Tarifverträgen erfaßt werden oder nur vereinzelt vorkommen
(Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung, vgl BSG 1977-05-27 5 RJ 28/76 = BSGE 44, 39, BSG 1977-09-21 4 RJ 131/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 22, BSG 1978-04-19 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 30, BSG 1980-11-05 4 RJ 71/79).
Orientierungssatz
Aus fehlgeschlagenen Vermittlungsversuchen des Arbeitsamtes allein kann nicht zwingend geschlossen werden, daß einem noch vollschichtig auf leichte Tätigkeiten verweisbaren Versicherten der Arbeitsmarkt verschlossen und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 20.06.1979; Aktenzeichen L 6 J 996/78) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 28.07.1978; Aktenzeichen S 2 J 2/77) |
Tatbestand
Der im Jahr 1919 geborene Kläger, gelernter Schreiner, war bis 1975 als Schreiner, Bauarbeiter, Zimmermann und Einschaler beschäftigt. Wegen gesundheitlicher Einschränkungen kann er seit seinem Rentenantrag nur noch leichte körperliche Arbeiten zu ebener Erde, überwiegend im Sitzen, nicht unter Zeitdruck oder Wechselschichtbedingungen sowie ohne häufiges Bücken oder Heben und Tragen schwerer Lasten ganztags verrichten.
Der Kläger, der seit Anfang 1975 arbeitslos ist, beantragte im April 1976 Rente. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 21. Juli 1976 den Antrag ab. Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Darmstadt mit Urteil vom 28. Juli 1978 die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1976 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 20. Juni 1979 das Urteil des SG "insoweit aufgehoben und die Klage abgewiesen, als die Beklagte für die Zeit vom 1. Mai 1976 bis zum 30. April 1977 über die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit hinaus verurteilt wurde"; im übrigen hat es die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Rentenantrages nur berufsunfähig gewesen, der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei erst ab Mai 1977 feststellbar. Sein bisheriger Beruf sei der des Zimmerers und Einschalers. Dabei könne offenbleiben, ob es sich um eine Facharbeitertätigkeit oder um einen sonstigen Anlernberuf handele. Denn auch als angelernter Arbeiter könne der Kläger nicht auf "unqualifizierte Arbeiten" verwiesen werden. Das Arbeitsamt habe keine qualifizierten Arbeiten benannt, die für den Kläger noch in Betracht kommen könnten; auch die Beklagte habe keine Einsatzmöglichkeiten des Klägers näher beschrieben. Dies lasse den Schluß zu, daß geeignete Verweisungstätigkeiten für den Kläger praktisch nicht existierten. Demzufolge sei der Kläger berufsunfähig. Das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit könne erst ab April 1977 festgestellt werden, weil dem Kläger der letzte Arbeitsplatz am 30. März 1977 erfolglos angeboten und danach ersichtlich kein Stellenangebot mehr unterbreitet worden sei. Von dieser Zeit an seien konkrete Einsatzmöglichkeiten weder vom Arbeitsamt noch von der Beklagten bezeichnet worden noch sonst feststellbar.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor: Dem Kläger sei der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Es fehlten auch Anzeichen dafür, daß der Kläger nicht in der Lage sei, unter den in Betrieben in der Regel üblicherweise anzutreffenden Arbeitsbedingungen tätig zu sein.
Sie beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 1979-06-20
zu ändern,
auf die Berufung hin das Urteil des SG Darmstadt
vom 1978-07-28 insoweit aufzuheben, als sie, die
Beklagte, zur Zahlung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
verurteilt wurde, und in diesem Umfang die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet
zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden mußte. Die Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Streitig ist jetzt nur noch die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Mai 1977, da die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung anerkannt und die Revision nur hinsichtlich der höheren Rentenart eingelegt hat.
Das Berufungsgericht hat Erwerbsunfähigkeit ab April 1977 angenommen, weil dem Kläger seit März 1977 kein Stellenangebot mehr unterbreitet worden sei; das Arbeitsamt rechne nicht damit, in absehbarer Zeit den Kläger in Arbeit vermitteln zu können und im übrigen seien konkrete Einsatzmöglichkeiten weder von der Beklagten bezeichnet worden noch sonst feststellbar. Diesem Schluß vermag der Senat nicht zu folgen.
Der Kläger ist erwerbsunfähig, wenn er wegen seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit
- auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser
Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder
- nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch
Erwerbstätigkeit erzielen
kann (§ 1247 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung).
Voraussetzung für die Erwerbsunfähigkeit ist also, daß der Versicherte eine "Tätigkeit" nicht mehr regelmäßig oder nicht mehr wirtschaftlich sinnvoll ausüben kann. Auf die Frage, ob dem Versicherten eine Stelle vermittelt werden kann oder ob "konkrete Einsatzmöglichkeiten" bestehen, kommt es dagegen nicht an. Das ergibt sich zum einen aus dem Gesetzestext und ist zum anderen vom Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung so entschieden worden, allerdings nur für sog Vollzeitarbeitskräfte (Urteile vom 1977-05-27 - 5 RJ 28/76 = BSGE 44, 39 = SozR 2200 § 1246 Nr 19; vom 1977-09-21 - 4 RJ 131/76 = SozR aaO Nr 22; vom 1978-04-19 - 4 RJ 55/77 = SozR aaO Nr 30). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten (vgl auch das Urteil vom 1980-11-05 - 4 RJ 71/79 - S 4 und allgemein: Wolff, Zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit, DRV 1980, 238).
Ausnahmsweise ist auch bei Vollzeitarbeitskräften zu prüfen, ob es Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt, und zwar dann,
- wenn der Versicherte die an sich mögliche
Vollzeittätigkeit nicht unter den in Betrieben in
der Regel üblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann,
- wenn er nicht in der Lage ist, entsprechende Arbeitsplätze
von seiner Wohnung aus aufzusuchen, oder schließlich,
- wenn die Tätigkeiten, die er noch verrichten kann, nicht
von Tarifverträgen erfaßt sind oder nur vereinzelt vorkommen
(Wolff, aaO, S 240 mwN).
Das LSG hätte von Vermittlungsschwierigkeiten und fehlenden Einsatzmöglichkeiten nur dann auf die Erwerbsunfähigkeit des Klägers schließen dürfen, wenn es vorher das Vorliegen eines der drei erwähnten Ausnahmetatbestände ermittelt und festgestellt hätte. Es hat dazu aber nur ausgeführt, nach der Dauer der Arbeitslosigkeit des Klägers und der Erfolglosigkeit der Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes sei festzustellen, daß der Gesundheitszustand des Klägers wesentliche Ursache für seine Unfähigkeit sei, unter den üblichen Arbeitsbedingungen eine Beschäftigung auszuüben. Nähere Feststellungen darüber, warum der Kläger nicht unter den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen tätig sein könne, hat das LSG nicht getroffen. Aus den fehlgeschlagenen Vermittlungsversuchen des Arbeitsamtes läßt sich jedoch noch nicht zwingend auf die Unfähigkeit des Klägers zu betriebsüblicher Arbeit schließen.
Der Senat hat im Urteil vom 5. November 1980 - 4 RJ 71/79 - im einzelnen auf die - hier heranzuziehende - Rechtsprechung zu dem in § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Arbeitsförderungsgesetz genannten Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" hingewiesen.
Da der Senat die erforderlichen Ermittlungen nicht selbst anstellen kann, war der Rechtsstreit zurückzuverweisen. Das LSG wird zunächst zu prüfen haben, welche Tätigkeiten für den Kläger bei dessen eingeschränkter Leistungsfähigkeit in Frage kommen. Gibt es solche Tätigkeiten, dann ist der Kläger nicht erwerbsunfähig. Bestehen Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein kann, dann muß das zunächst ermittelt werden. Wird eine derartige - zusätzliche - Einschränkung in der Leistungsfähigkeit des Klägers festgestellt, dann erst kann aus dem Nichtvorhandensein geeigneter Arbeitsplätze auf die Erwerbsunfähigkeit des Klägers geschlossen werden.
Fundstellen