Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswürdigung. Selbstmord

 

Orientierungssatz

Zur Frage der freien richterlichen Beweiswürdigung bei Annahme eines Selbstmordes durch Herbeiführung eines Zusammenstoßes mit einem Lkw wegen Entdeckung einer Unterschlagung.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 01.09.1977; Aktenzeichen I UBf 28/76)

SG Hamburg (Entscheidung vom 15.04.1976; Aktenzeichen 25 U 211/74)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 1. September 1977 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin ist die Witwe des Buchhalters Wilhelm R (R.). R. ist am 27. März 1973 um 7.40 Uhr morgens in dem Personenkraftwagen (Pkw) der Klägerin auf dem Weg von seiner Wohnung zu seinem Arbeitgeber mit einem Lastkraftwagen (Lkw) zusammengestoßen und verbrannt. Als die Beklagte von einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren gegen R. wegen Betrugs und Untreue erfuhr, sah sie den Unfall als von R. absichtlich herbeigeführt an und lehnte deshalb durch Bescheid vom 17. April 1974 Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 553 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hob durch Urteil vom 15. April 1976 den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte diese, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen zu gewähren, weil die absichtliche Herbeiführung des Unfalls nicht wahrscheinlich sei. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat mit Urteil vom 1. September 1977 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenleistungen als durch § 553 RVO ausgeschlossen erachtet, weil es der Überzeugung war, R. habe den Unfall willentlich herbeigeführt. Da Selbstmordpläne wegen ihrer diskriminierenden Wirkung häufig verheimlicht würden, könnten eine unabsichtliche Handlungsweise des R. weder aus dem Fehlen eines Abschiedsbriefes noch daraus hergeleitet werden, daß er am Morgen des 27. März 1973 keinerlei Anzeichen einer Veränderung gezeigt und noch am Vorabend eine Verabredung für das kommende Wochenende getroffen habe. Schwierigkeiten am Motor des Pkws könnten die Lenkung und Manövrierfähigkeit nicht beeinträchtigt haben. Auch das Nierenleiden habe R. nicht daran hindern können, zu bremsen und gegenzulenken. Zahlreiche und gewichtige Hinweise sprächen jedoch dafür, daß R. habe Selbstmord begehen wollen. Er habe unter dem psychischen Druck des Vorwurfs einer strafbaren Handlung mit einem Manko von über 100.000,- DM gestanden. Zwar habe er sich nach seinem Geständnis gegenüber dem früheren Arbeitgeber erleichtert gezeigt; er habe jedoch nicht, wie vorgesehen, am Tage vor seinem Tod die Einzelheiten seines Vorgehens offengelegt und seiner Familie gegenüber - selbst nach Durchführung einer Hausdurchsuchung - die ihm vorgeworfene Straftat bestritten. Er habe also noch die vollständige Aufdeckung seines beruflichen Fehlverhaltens sowie den damit verbundenen Verlust des Arbeitsplatzes und das berufliche Ende als Buchhalter befürchten müssen. Außerdem habe er am Tage nach seinem Geständnis ein seiner Familie verheimlichtes Testament aufgesetzt. Deshalb und wegen des schlechten Gesundheitszustandes - für den 15. April 1973 sei die Operation eines großen Nierenbeckenausgußsteines vorgesehen gewesen - erscheine es verständlich, daß R. seine Gesamtsituation als ausweglos angesehen habe. Vor allem spreche der Unfallhergang für einen Selbstmord. Sichtbehinderungen oder schlechte Straßenverhältnisse hätten dabei nicht mitgewirkt. R. habe die Fahrbahn plötzlich gewechselt und sei mit unverminderter Geschwindigkeit unmittelbar auf den beleuchteten Lkw zugefahren, während er bei einer Bewußtseinstrübung allmählich auf die verkehrte Fahrbahn gekommen und langsamer geworden wäre. Wenn Prof. Dr. L auch einen Selbstmord für möglich halte, beschränkten sich seine Erfahrungen doch auf Fälle, bei denen der Verursacher überlebt habe. Endlich spreche auch die Gefährdung des Lkw-Fahrers nicht gegen die Absichtlichkeit. Denn Dr. Dr. T habe in einem von der Beklagten veranlaßten Gutachten mit dem Hinweis auf in der Literatur dokumentierte Fälle dargelegt, daß Selbstmordabsichten mit einem Fahrzeug durchaus auch bei Gefährdung Dritter verwirklicht worden seien.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe mehrfach die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) überschritten.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des LSG Hamburg vom 1. September 1977 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 15. April 1976 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen;

hilfsweise,

sie zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.

Ansprüche auf Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen des zum Tode des R. führenden Ereignisses hätte die Klägerin nur, wenn es sich dabei um einen Arbeitsunfall in der hier allein in Betracht kommenden Form des Wegeunfalls (§§ 548 Abs 1, 550 Abs 1 RVO) gehandelt hätte. Nach den Feststellungen des LSG trifft dies jedoch nicht zu; die gegen diese Feststellungen erhobenen Revisionsrügen greifen nicht durch.

Mit der Rüge, das LSG habe außer acht gelassen, daß der Zeuge S nach seinen Bekundungen den Eindruck gehabt habe, R. sei nach dem Geständnis am 26. Februar 1973 erleichtert gewesen, und daß dieser Zeuge eine glaubhafte Erklärung dafür gegeben habe, warum R. am Tag vor dem Unfall nicht zu dem Besprechungstermin bei seinem früheren Arbeitgeber gekommen sei, will die Revision offensichtlich beanstanden, das LSG habe - entgegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG - seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen. Diese Rüge ist indes nicht hinreichend substantiiert. Gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG muß die Revisionsbegründung, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Die Revision hat entgegen dieser Bestimmung nicht dargelegt, aus welchen Tatsachen sich ergibt, daß das LSG die hier in Rede stehenden Angaben des Zeugen S bei Bildung seiner Überzeugung außer acht gelassen hat. Es trifft zwar zu, daß das LSG hierzu nicht ausdrücklich Stellung genommen hat. Mit dem bloßen Hinweis darauf kann jedoch nicht dargetan werden, daß das LSG diese Angaben des Zeugen S überhaupt nicht in seine Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens mit einbezogen hat, zumal es die Erleichterung des R. nach Ablegung des Geständnisses auf S. 7 der Urteilsgründe erwähnt hat. Aus welchem Grunde R. zu dem für die Offenlegung der Einzelheiten seines Vergehens vorgesehenen Besprechungstermin nicht erschien, konnte das LSG ohne weitere Erörterung offenlassen, nachdem es ihm insoweit allein auf den für R. fortbestehenden Druck ankam, die Einzelheiten seines Vergehens in naher Zukunft offenlegen zu müssen (vgl BSGE 1, 91, 94).

Entsprechendes gilt für die Rüge, das LSG habe der Aussage der Zeugin K keine Anhaltspunkte dafür entnehmen können, daß R. bei Entdeckung seiner Unterschlagungen durch die Familie nur noch der Weg des Freitodes bleiben würde. Die Revision hat nicht einmal behauptet, das LSG habe den Angaben der Zeugin solche Anhaltspunkte entnommen. Sie hat es aber auch insoweit an der Bezeichnung der dies ergebenden Tatsachen fehlen lassen.

Die Revision rügt weiter, das LSG habe sich - neben der Selbstmordabsicht - nicht mit anderen möglichen Gründen auseinandergesetzt, die R. dazu bewogen haben könnten, seiner Familie die Testamentserrichtung zu verheimlichen. Einen Erfahrungssatz dahin, daß sich mit Selbstmordgedanken trage, wer ein Testament aufsetze und seiner Familie dies und den Grund dafür verheimliche, gebe es nicht. Zumindest habe R. aber die ihm bevorstehende Nierensteinoperation zur Errichtung eines Testaments veranlassen können. Auch hier fehlt es schon an der Behauptung, das LSG sei von dem beanstandeten Erfahrungssatz ausgegangen, ebenso aber auch an der Bezeichnung der Tatsachen, aus denen sich dieser Ausgangspunkt des LSG entnehmen ließe. Zur Testamentserrichtung wegen der bevorstehenden Nierensteinoperation hat die Revision nicht dargelegt, inwiefern R. dadurch auch zur Geheimhaltung gegenüber seiner Familie bewogen werden konnte. Die Rüge ist somit in sich nicht schlüssig.

Auch der Revisionsvorwurf, das LSG habe mit der Beurteilung der Gesamtsituation des R. als "ausweglos" die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten und gegen allgemeine Erfahrungssätze und Denkgesetze verstoßen, vermag die angegriffene Feststellung nicht zu erschüttern. Hier fehlt es schon an der genauen Bezeichnung der für verletzt erachteten allgemeinen Erfahrungssätze und Denkgesetze, ebenso aber auch an der näheren Darlegung, an welcher Stelle und wodurch sich - nach der Meinung der Revision - die Gedankenführung des LSG hierzu in Widerspruch setzt (vgl BSG in SozR Nr 47 zu § 164 SGG).

Zum Unfallhergang geht zunächst der Revisionsvorwurf fehl, das LSG habe kritiklos die Auffassung der Beklagten übernommen, es spreche für die Selbstmordabsicht des R., daß er plötzlich die Fahrbahn gewechselt habe und mit unverminderter Geschwindigkeit unmittelbar auf den beleuchteten Lkw zugefahren sei. Die Revision übersieht dabei, daß sich das LSG insoweit auf die vorhandenen Augenzeugenberichte und ergänzend auch auf die medizinische Beurteilung der Auswirkungen einer etwaigen Nierenkolik auf das Fahrverhalten des R. durch Dr. H und Dr. Horn (Seite 7 des Urteils) gestützt hat. Es trifft auch nicht zu, daß das LSG die Aussage des Professors Dr. L vom 15. Februar 1977 unberücksichtigt gelassen hat, wie die Revision meint. Sie räumt nämlich in ihren weiteren Ausführungen selbst ein, daß das LSG der Auffassung dieses Arztes deshalb nicht gefolgt ist, weil es den Hinweis des Dr. Dr. T auf die in der Literatur dokumentierten Selbstmordfälle mit einem Fahrzeug bei Gefährdung Dritter beachtet hat. Dies ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden. Denn Prof. Dr. L hatte ausdrücklich betont, daß sich seine Erfahrungen auf die Fälle beschränken, in denen der Verursacher das Unfallereignis überlebt hat. Soweit die Revision endlich in diesem Zusammenhang ein näheres Eingehen auf die von Dr.Dr. T zum Auto-Selbstmörder gemachten Ausführungen und einen Vergleich der Persönlichkeit und der Situation des R. damit vermißt, übersieht sie, daß das LSG mit dem Hinweis auf die allgemein getroffenen und nicht auf den vorliegenden Fall bezogenen Äußerungen dieses Arztes nur die selbst von Prof. Dr. L nicht mit letzter Sicherheit vertretene These widerlegt hat, es gebe keinen Selbstmord mit dem Fahrzeug unter Beeinträchtigung Dritter. Insoweit war aber eine Klärung der Frage nicht erforderlich, ob R. eine hierfür geeignete Person in einer selbstmordträchtigen Situation war.

Greifen demnach die gegen die Tatsachenfeststellungen des LSG gerichteten Rügen der Revision nicht durch, so ist der erkennende Senat gemäß § 163 SGG an die Feststellung des LSG gebunden, daß sich R. absichtlich getötet hat, indem er den Zusammenstoß mit dem Lkw herbeiführte. Ein entschädigungspflichtiger Wegeunfall ist zu verneinen. Das LSG hat daher zu Recht die Klage unter Aufhebung der Entscheidung des SG schon aus diesem Grunde abgewiesen. Auf die weitere Frage, wer bei unaufklärbarem Sachverhalt im Falle der Selbsttötung die Beweislast trägt, und auf die hierzu von der Klägerin gegen die Auffassung des Bundessozialgerichts (vgl BSGE 30, 278) erhobenen Zweifel kommt es daher für die Entscheidung des Senats nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655676

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