Leitsatz (amtlich)
Versicherungszeiten in der Bundesrepublik Deutschland und in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die für den Erwerb eines Anspruchs auf Leistungen nach § 1244a RVO aufgrund der Art 16 ff EWGV Nr 3 zusammenzurechnen sind (vgl EuGH 1972-11-16, 14/72), müssen jeweils in einer sozialen Rentenversicherung zurückgelegt sein.
Leitsatz (redaktionell)
Versicherungszeiten, die in anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft zurückgelegt wurden, sind mit deutschen Rentenversicherungszeiten nach EWG-V 3 Art 16 ff zusammenzurechnen, wenn sie in einer Versicherung erworben sind, die funktionell, dh in ihrer Aufgabe, ihrer Wirkungsweise und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung der deutschen Rentenversicherung verwandt ist.
Normenkette
EWGV 3 Art. 16; RVO § 1244a
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. November 1969 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11. Dezember 1968 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Ersatz der Kosten der stationären Heilbehandlung seiner Ehefrau und seines Sohnes wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er war von 1950 bis 1953 - 36 Kalendermonate - in der Bundesrepublik Deutschland und von 1953 bis 1960 - etwa 84 Kalendermonate - im Großherzogtum Luxemburg rentenversicherungspflichtig beschäftigt.
Mitte 1966 erkrankten seine Ehefrau und sein Sohn an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose. Die Beklagte lehnte seinen Antrag auf Heilbehandlung ab, weil die versicherungsrechtliche Voraussetzung für die Gewährung einer solchen Behandlung, nämlich die Erfüllung der Wartezeit nach § 1246 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - d. h. das Vorhandensein einer Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten - mit den deutschen Versicherungszeiten, die in diesem Zusammenhang allein angerechnet werden dürften, nicht erfüllt sei (§ 1244 a Abs. 2 RVO).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger einen Bescheid positiven Inhalts zu erteilen. Die Tuberkulosebehandlung nach § 1244 a RVO sei - so hat das SG ausgeführt - eine Art Krankenhilfe. Art. 16 der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3) führe zur Anrechnung der vom Kläger in Luxemburg zurückgelegten Versicherungszeiten. Die Wartezeit sei damit erfüllt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Für die Erfüllung der Wartezeit müßten - so das LSG - die in Luxemburg zurückgelegten Versicherungszeiten zwar nicht nach Art. 16, wohl aber nach den Vorschriften der Art. 24 ff EWG-VO Nr. 3 berücksichtigt werden.
Die Beklagte vertritt mit ihrer Revision die Auffassung, ausländische Versicherungszeiten könnten nur angerechnet werden, wenn Leistungen für die Versicherungsfälle Invalidität, Alter oder Tod zu erbringen seien. Hierzu gehöre die Heilbehandlung wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose nicht.
Zur Frage, welche Bedeutung den Art. 16 ff und 26 ff der EWG-VO Nr. 3 für die Berücksichtigung der Versicherungszeiten in Luxemburg beizumessen ist, hat der Senat gemäß Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) angerufen. Dieser hat durch Urteil vom 16. November 1972 den für Art. 2 Abs. 1 der EWG-VO Nr. 3 verwendbaren Begriff der sozialen Sicherheit festgelegt, ferner vorabentschieden, daß die Tbc-Bekämpfung durch die Rentenversicherung im Bereich der sozialen Sicherheit, wie er sie sieht, europarechtlich als Leistung bei Krankheit zu verstehen sei, und daraus gefolgert, daß für einen solchen Fall Versicherungszeiten in mehreren europäischen Mitgliedstaaten sich nach Art. 16 ff der VO Nr. 3 zusammenfügen ließen. - Wegen des Inhalts der Entscheidung im einzelnen wird auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache 14/72 Bezug genommen.
Die Beklagte beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Revision der beklagten LVA hat Erfolg.
Dem Kläger steht nach der in Betracht kommenden Vorschrift des § 1244 a RVO der Anspruch auf stationäre Heilbehandlung seiner an Tuberkulose erkrankten Familienangehörigen nicht zu. Er ist nicht Versicherter im Sinne des § 1244 a Abs. 2 RVO. Bei Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit seiner Frau und seines Sohnes lag die letzte Beitragszeit des Klägers in der deutschen Rentenversicherung länger als zwei Jahre zurück. Mit Versicherungszeiten in Deutschland allein erfüllte der Kläger auch nicht die Wartezeit nach § 1246 Abs. 3 RVO.
Zwar hat der Kläger Beiträge zur Rentenversicherung in Luxemburg in einem solchen Umfange entrichtet, daß durch Zusammenrechnung von Beitragszeiten sich eine Gesamtzeit von 60 Kalendermonaten ergäbe. Eine solche Addition von ausländischen und inländischen Versicherungszeiten ist indessen nicht eröffnet. Diese Rechtsfolge müßte durch das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, insbesondere durch Vorschriften der EWG-VO Nr. 3 angeordnet sein. Die Anwendung dieser EWG-VO scheitert nicht daran, daß die den Trägern der deutschen Rentenversicherung nach § 1244 a RVO auferlegte Aufgabe der Seuchenbekämpfung sich wesentlich nach Art, Umfang, Voraussetzungen, Inhalt und Zweck von den originären Obliegenheiten der Rentenversicherung unterscheidet. Gleichwohl ist dieses Rechtsinstitut unter den Begriff der sozialen Sicherheit zu subsumieren, so wie der EuGH diesen Ausdruck für den EWG-Bereich erläutert hat. Durch das Urteil des EuGH ist klargestellt, daß der im positiven Recht nicht näher umschriebene Terminus "Soziale Sicherheit" nicht etwa als eine Verweisung auf die im nationalen Rechtsbereich entwickelten gleichnamigen und verwandten Gebilde zu verstehen ist. Der EuGH hat diesen Begriff auch nicht aus einer rechtsvergleichenden Gesamtschau gefunden, indem er ihn aus solchen Elementen herauskristallisiert hat, die dieser Erscheinung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Vielmehr hat der EuGH die Bezeichnung "Soziale Sicherheit" für die EWG-VO Nr. 3 - unverkennbar im Hinblick auf den ihm unterbreiteten Sachverhalt - eigenständig und losgelöst von innerstaatlichen Rechtsstrukturen interpretiert. Für die Verwirklichung dieses Begriffs stellt er ab erstens auf die Zugehörigkeit zu einer Rentenversicherung, zweitens auf das Merkmal der Tbc-Erkrankung eines Versicherten od
er eines seiner Familienangehörigen und drittens darauf, daß die vorgesehene Leistung der Heilung dieser Person dient. Diese Definition leitet der EuGH von der Funktion ab, welche die EWG-VO Nr. 3 zu erfüllen hat, nämlich die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft herzustellen (Art. 51 EWGV). Die Zugehörigkeit zu einer Rentenversicherung, also das erste Merkmal der oben wiedergegebenen Definition ist von dem Vorhandensein bestimmter Versicherungszeiten abhängig. Zwar erlaubt die Zugehörigkeit des Anspruchstellers zur Rentenversicherung nach Ansicht des erkennenden Senats nicht ohne weiteres einen Rückschluß auf die rechtliche Natur der in Betracht kommenden Norm. Wegen ihrer Voraussetzungen allein wird die Tbc-Bekämpfung nicht schon zu einer Versicherungsleistung. Dies ist aber von der Sicht des EuGH her unerheblich. Deshalb ist § 1244 a Abs. 2 RVO den supranationalen Normen über die soziale Sicherheit unterzuordnen, obgleich diese Vorschrift im innerstaatlichen Recht lediglich die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers gegenüber anderen an der Seuchenbekämpfung beteiligten Stellen abgrenzt.
Darüber, wie deutsche und andere Versicherungszeiten zusammenzurechnen sind, gibt der EuGH eine Richtlinie; dagegen behandelt er nicht die Frage, in welcher Versicherung diese Zeiten verbracht sein müssen. Der EuGH hat erklärt, daß Leistungen, "die in keinem Zusammenhang mit der Erwerbsfähigkeit des Versicherten stehen, ...hauptsächlich auf die Heilung des Erkrankten sowie den Schutz seiner Umgebung abzielen", als Leistungen bei Krankheit (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a EWG-VO Nr. 3) anzusehen sind. Nimmt man diese Formulierung wörtlich, so müßte man unterscheiden zwischen Sachverhalten, in denen (a) die Erwerbsfähigkeit des Versicherten erhalten oder gebessert werden kann und (b) solchen, in denen dies nicht zutrifft. Je nachdem richtete sich die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten nach Art. 16 ff oder Art. 26 ff EWG-VO Nr. 3. Eine solche, auf die konkrete Sachlage des Einzelfalls abhebende Interpretation würde die Rechtsanwendung erschweren; sie hätte an häufig nicht von vornherein zu beurteilenden Tatsachen anzuknüpfen. Daß der EuGH dies hat aussprechen wollen, ist nicht anzunehmen. Über die Möglichkeit einer Kumulation von Versicherungszeiten nach Art. 26 ff EWG-VO Nr. 3 führt er in seinen Entscheidungsgründen nichts aus. Der Tenor seines Urteils kann deshalb nur dahin verstanden werden, daß es um Leistungen der sozialen Sicherheit gehe, die ohne Rücksicht auf den unmittelbaren Zweck einer Wiederherstellung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des einzelnen gewährt werden und die als solche - an sich, nach der abstrakten Normvorstellung des § 1244 a RVO - "in keinem Zusammenhang mit der Erwerbsfähigkeit des Versicherten" stehen. Zu dieser Deutung sieht sich der Senat um so mehr berechtigt, als damit die Entscheidung des EuGH sich an die ihm vom Senat vorgelegte Frage gehalten hat. In dem Beschluß über die Anrufung des EuGH vom 1. März 1972 hatte der Senat darauf hingewiesen, daß § 1244 a RVO Leistungen "ohne Rücksicht auf den Eintritt oder das Drohen des Versicherungsfalles der Invalidität vorsieht".
Da der Normbereich des § 1244 a RVO sich auf "Leistungen bei Krankheit" im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Buchst. a EWG-VO Nr. 3 bezieht, ist die Addition von Versicherungszeiten in mehreren Staaten der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 16 ff EWG-VO Nr. 3 vorzunehmen. Damit ist lediglich der Modus der Zusammenrechnung vorgeschrieben. Jedoch ist aus der Entscheidung des EuGH nicht auch vorgegeben, aus welchem Versicherungsbereich die zusammenzuzählenden Versicherungszeiten zu entnehmen sind. Die gemeinschaftsrechtliche Qualifikation der Norm des § 1244 a RVO als einer Vorschrift über Leistungen bei Krankheit ändert nicht den Rechtsgehalt dieser Vorschrift. Es ist insbesondere nicht zu folgern, daß die von § 1244 a Abs. 2 RVO geforderten Versicherungszeiten in einer Krankenversicherung erworben sein müßten oder daß Krankenversicherungszeiten genügten. Eine solche - sachlich-rechtliche - Regelung trifft das Gemeinschaftsrecht nicht. Es enthält sich einer Sachnorm und gibt für den gegenwärtigen Zusammenhang lediglich "Koordinierungsregeln", welche die Voraussetzungen bestimmen, unter denen Sachverhalte aus anderen Mitgliedstaaten für Erwerb und Höhe von Leistungsansprüchen zu beachten sind. Diese Koordinierungsregeln - Art. 16 ff EWG-VO Nr. 3 - lassen die Unterschiede innerstaatlicher Versicherungssysteme und Rechtssätze fortgelten (so auch Präambel der EWG-VO Nr. 1408/71). Es hat mithin dabei sein Bewenden, daß mit § 1244 a Abs. 2 RVO geregelt sein soll, wann für eine Tuberkulosebekämpfungsmaßnahme der Träger der Rentenversicherung einzutreten hat. Er hat sich eines Erkrankten anzunehmen, wenn dieser "seiner" Versicherung angehört. Daß dies gewollt ist, verdeutlicht die Stellung des § 1244 a Abs. 2 RVO im 4. Buch der RVO und seine Fassung, insbesondere durch die Verweisung auf § 1246 Abs. 3 RVO - Erfüllung der Wartezeit -, der seinerseits in Verbindung mit der Legaldefinition der in der Rentenversicherung "anrechnungsfähigen Versicherungszeiten" in § 1250 Abs. 1 RVO zu lesen ist. Dieselbe Auslegung entspricht Sinn und Zweck des § 1244 a Abs. 2 RVO. Die Rentenversicherung soll zur Tbc-Bekämpfung und damit für eine ihr originär nicht obliegende Aufgabe zuständig sein, wenn der Tbc-Kranke ihr "nahe steht". Deshalb soll sie nur für solche erkrankten Personen zu sorgen haben, für die zu ihr während einer näher bezeichneten Zeit Beiträge entrichtet worden sind. Versicherungszeiten in Staaten der Europäischen Gemeinschaft können wie solche zur bundesdeutschen Rentenversicherung nur verwertet werden, wenn sie in einer Versicherung erworben worden sind, die funktionell, d. h. in ihrer Aufgabe, ihrer Wirkungsweise und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung der deutschen Rentenversicherung verwandt ist. Davon ist vor allem auszugehen, wenn die ausländische Versicherung auf den gleichen Versicherungsfall hin orientiert ist. (Ebenso die Urteile des Senats vom 21.2.1973 - 4 RJ 213/70 und u. a. 4/1/4 RJ 433/69).
Aus vorstehenden Erwägungen ist zu folgern, daß die vom Kläger in Luxemburg verbrachten Rentenversicherungszeiten zwar an sich anrechenbar sind, jedoch nicht im konkreten Streitfall zur Auffüllung der Wartezeit verwandt werden können. Diese Versicherungszeiten könnten nur berücksichtigt werden, wenn der Kläger nach seiner letzten Einreise in deutsches Hoheitsgebiet abermals versicherungspflichtig geworden wäre (Art. 17 Abs. 1 Buchst. ii VO Nr. 3). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der Kläger zuletzt bis 1960 in Luxemburg versichert. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik sind für ihn Beiträge zur Rentenversicherung nicht mehr entrichtet worden.
Eine andere Beurteilung ist schließlich nicht durch die am 1. Oktober 1972 in Kraft getretene EWG-VO Nr. 1408/71 gerechtfertigt. Zwar ist die VO Nr. 3 aufgehoben worden (Art. 99 VO Nr. 1408/71, Art. 122 VO Nr. 574/72). Das neue Recht bietet aber für einen in der Vergangenheit liegenden Leistungsanspruch keine Rechtsgrundlage (Art. 94 Abs. 1 VO Nr. 1408/71).
Somit ist die Klage nicht begründet. Die Entscheidungen des SG und des LSG sind nicht aufrechtzuerhalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen