Entscheidungsstichwort (Thema)
MdE. besonderes berufliches Betroffensein. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Bittet ein Geschädigter vor Gericht, seine festgestellte MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit zu erhöhen und geht das Gericht in seinen Urteilsgründen auf dieses Begehren nicht ein, so liegt hierin ein Verstoß gegen § 128 Abs 1 SGG.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 2; SGG § 128 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 08.07.1965) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Juli 1965 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Beim Kläger sind seit 1951 linksseitige Schwäche als Folge einer Rückenmarksverletzung und teilweise Lähmung des Arm-Nervenstranges sowie Narben am Hals und rechten Arm als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. anerkannt. Der Verschlimmerungsantrag des Klägers von Oktober 1959 wurde mit Bescheid vom 19. Februar 1960 abgelehnt. Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) wies mit Urteil vom 25. Januar 1962 die Klage ab. Im Berufungsverfahren begehrte der Kläger die zusätzliche Anerkennung einer Skoliose und Lordose der Wirbelsäule, einer spastischen Gangstörung links und einer leichten spastischen Störung im rechten Arm sowie Rente ab 1. Oktober 1959 nach einer MdE um 90 v. H. und ab 1. Januar 1960 nach einer MdE um 100 v. H. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte mit Urteil vom 8. Juli 1965 den Beklagten, spastische Veränderung am linken Bein und Rückwärtsschwingung der Halswirbelsäule als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen; im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Auf die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und auf eine höhere Rente habe der Kläger keinen Anspruch. Der Kläger habe in der Jugend eine Scheuermann'sche Erkrankung durchgemacht, worauf die Skoliose zurückzuführen sei. Die Fehlhaltung der Brustwirbelsäule (Skoliose und Lordose) sei durch die Verwundung weder entstanden noch verschlimmert worden. Spastische Störungen im rechten Arm seien nicht festgestellt worden. Eine MdE-Erhöhung hätte nur dann in Erwägung gezogen werden können, wenn die spastische Veränderung am linken Bein eine MdE von mindestens 30 v. H. bedingt hätte.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) der §§ 1 ff BVG und eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG. In allen Gutachten sei unberücksichtigt geblieben, daß im Verwaltungsverfahren vorgesehen war, die Skoliose als WDB anzuerkennen. Wenn damals die Ausbildung der Skoliose der Brustwirbelsäule auf die spastische Lähmung im Bereich der linken oberen Extremitäten zurückgeführt worden sei, so sei dies zu beachten, da vor mehr als 20 Jahren die Beurteilung der Zusammenhangsfrage noch eher möglich gewesen sei als heute. Das LSG hätte zumindest die damalige Beurteilung des Truppenarztes durch einen Fachmediziner überprüfen lassen müssen (Verstoß gegen § 103 SGG), nicht aber diese Frage selbst beurteilen dürfen. Das LSG habe sich ferner mit der geltend gemachten besonderen beruflichen Betroffenheit überhaupt nicht befaßt, obwohl die von ihm anerkannten weiteren Leiden dabei zu berücksichtigen seien und sich danach eine MdE von mindestens 90 v. H. ergeben hätte. Das LSG habe schließlich dem Kläger auch das rechtliche Gehör versagt, weil es verhandelt habe, obwohl der in stationärer Krankenhausbehandlung befindliche und zur mündlichen Verhandlung nur beurlaubte Kläger keine klaren Antworten mehr habe geben können. Deswegen habe sich der Kläger auch am Tage darauf beim LSG beschwert. Aus alledem ergebe sich, daß auch bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt sei.
Der Kläger beantragt, in Abänderung der Urteile des LSG und des SG sowie der Bescheide des Beklagten diesen zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen 1.) Skoliose und Lordose der Wirbelsäule, 2.) leichte spastische Störung im rechten Arm, und dem Kläger vom 1. Oktober 1959 an Versorgungsrente nach einer MdE um 90 v. H. und ab 1. Januar 1960 nach einer MdE um 100 v. H. zu gewähren, hilfsweise das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision zu verwerfen. Wesentliche Verfahrensmängel oder eine Verletzung des § 1 BVG lägen nicht vor, eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG sei nicht schlüssig vorgetragen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164, 166 SGG).
Zutreffend rügt der Kläger, daß sich das LSG mit der von ihm geltend gemachten besonderen beruflichen Betroffenheit nicht befaßt hat, obwohl die von ihm anerkannten weiteren Leiden dabei hätten berücksichtigt werden müssen. Der Kläger hat bereits in der Klage vorgebracht, er fühle sich nicht fähig, die Abschlußprüfung des Verwaltungslehrganges nachzuholen, die MdE sei bisher nur vom Gesichtspunkt der Schädigung seiner Gesundheit, niemals von dem der Berufsschädigung beurteilt worden. Das SG hat dazu ausgeführt, das Berufsleben des Klägers habe sich nicht ungünstig entwickelt, überdies sei in einem etwaigen beruflichen Betroffensein gegenüber dem Bescheid von 1951 keine wesentliche Änderung eingetreten. In der Berufungsbegründung hat der Kläger vorgetragen, er sei in seinem vor der Schädigung ausgeübten Beruf besonders betroffen. Er hat ferner später um Prüfung des beruflichen Nachteils als Folge seiner Kriegsbeschädigung gebeten. Daraus ergab sich, daß der Kläger eine Höherbewertung der organisch bedingten MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG idF des Ersten und Zweiten Neuordnungsgesetzes (1. und 2. NOG) begehrte. Das LSG hat in seinem Urteil geprüft, ob die anerkannte MdE von 80 v. H. zu erhöhen ist. Es ist jedoch auf die Frage einer besonderen beruflichen Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG überhaupt nicht eingegangen. Es heißt lediglich im Tatbestand des Urteils, daß der Kläger vor dem Sozialgericht "Berufsschadensausgleich" beantragt habe. Die Urteilsgründe des LSG befassen sich weder mit der Frage eines Berufsschadensausgleichs im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG noch tun sie dar, weshalb eine Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG nicht begründet sei. Es ist daher nicht erkennbar, daß das LSG in einem nach seiner sachlich-rechtlichen Auffassung wesentlichen Punkt sich seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat. Bereits hierin liegt ein Verstoß gegen § 128 Abs. 1 SGG und damit ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (vgl. BSG 7, 72).
Es kann auch nicht angenommen werden, daß das LSG die Frage einer besonderen beruflichen Betroffenheit etwa deshalb nicht geprüft hat, weil es - wie das SG - angenommen hätte, es sei gegenüber dem Bescheid von 1951 keine wesentliche Änderung eingetreten. Das LSG hat vielmehr eine wesentliche Änderung gegenüber dem Bescheid von 1951 angenommen, die Entstehung oder Verschlimmerung der weiter von ihm anerkannten Schädigungsfolgen "spastische Veränderungen am linken Bein und Rückwärtsschwingung der Halswirbelsäule" festgestellt und deshalb geprüft, ob die MdE ab 1. Oktober 1959 höher zu bewerten ist.
Der vorliegende wesentliche Verfahrensmangel macht die Revision bereits statthaft, weshalb nicht mehr geprüft zu werden brauchte, ob noch weitere Verfahrensmängel vorliegen. Die Revision ist auch begründet, da die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es auf die Frage einer besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers eingegangen wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen zur Frage einer beruflichen Betroffenheit nicht selbst entscheiden. Daher war der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung unter Umständen näher zu begründen haben, weshalb eine Erhöhung der jetzigen MdE von 80 v. H. nur dann in Erwägung gezogen werden könnte, wenn die zusätzlich anerkannte spastische Veränderung am linken Bein mit einer MdE von mindestens 30 v. H. zu bewerten wäre. Es ist nicht ohne weiteres verständlich, weshalb bei einer geringeren MdE als 30 v. H. sich nicht wenigstens die Gesamt-MdE auf 85 v. H. = 90 v. H. (vgl. § 31 Abs. 2 BVG) erhöhen sollte. Denn selbst bei rechnerischer Zugrundelegung einer Rest-MdE von 20 v. H. ergäbe sich bei einer zusätzlichen schädigungsbedingten MdE von z. B. 25 v. H. eine Erhöhung um 5 v. H. Dr. D hat die Gesamt-MdE auf 90 v. H. geschätzt.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen