Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage der verfahrensrechtlichen Behandlung eines neuen Verwaltungsaktes, der nach der Urteilsverkündung in der Tatsacheninstanz, aber vor Einlegung der Revision ergangen ist.

2. Die Vorschrift des RVO § 150 Abs 1, daß der Ortslohn für Männer und Frauen besonders festzusetzen ist, verstößt nicht gegen GG Art 3 Abs 2 und GG Art 3 Abs 3.

3. Die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes für eine Versicherte nach dem Ortslohn für weibliche Erwachsene (RVO § 563 Abs 3 in Verbindung mit § 150 Abs 1 ) verstößt gegen GG Art 3 Abs 2 und GG Art 3 Abs 3, wenn dieser Ortslohn auf Grund von Unterlagen festgesetzt worden ist, bei denen der Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit (BAGE 1 258, 348) in wesentlichem Umfang nicht berücksichtigt wurde. In einen solchen Fall ist der Jahresarbeitsverdienst nach dem Ortslohn für männliche Erwachsene zu berechnen.

 

Normenkette

RVO § 150 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 563 Abs. 3 Fassung: 1952-08-13; GG Art. 3 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23, Abs. 3 Fassung: 1949-05-23; SGG § 96 Fassung: 1953-09-03, § 171 Fassung: 1953-09-03, § 171 Abs. 2

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts München vom 16. Februar 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

I

Die 1897 geborene Klägerin war seit dem 2. Januar 1954 als kaufmännische Hilfskraft mit einem Entgelt von wöchentlich 17, 50 DM bei einer Großhandelsfirma tätig. Am 20. Mai 1954 erlitt sie bei einer Besorgung für die Firma einen Arbeitsunfall. Mit Bescheid vom 18. Januar 1955 gewährte ihr die Beklagte für die Folgen dieses Unfalls eine vorläufige Rente von 30 v.H. Da der Arbeitsentgelt, den die Klägerin für die 102 Tage ihrer Beschäftigung vor dem Unfall bezogen hatte (§ 563 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), nur 350,-- DM betrug, legte die Beklagte gemäß § 563 Abs. 3 RVO als Jahresarbeitsverdienst (JAV) für die Rentenberechnung das 300-fache des Ortslohnes für Erwachsene zugrunde. Durch Bekanntmachung des Oberversicherungsamts (OVA.) München vom 5. März 1953 (Bayer. Staatsanzeiger 1953 Nr. 11 S. 5) war damals im Stadtkreis München der Ortslohn für männliche Erwachsene auf 8, 60 DM, für weibliche Erwachsene auf 7,-- DM festgesetzt. Die Beklagte berechnete den JAV für die der Klägerin zu gewährende Rente auf 2.100,-- DM - entsprechend den 300-fachen des für weibliche Erwachsene festgesetzten Ortslohnes.

Mit ihrer Klage, die sie auf Anregung des Rentenausschusses der Beklagten erhob, machte die Klägerin geltend, die im Grundgesetz (GG) festgelegte Gleichberechtigung von Mann und Frau müsse bei der Rentenfestsetzung nach dem ortsüblichen Tagelohn berücksichtigt werden.

Das Sozialgericht (SG.) hat durch Urteil vom 16. Februar 1956 der Klage stattgegeben und die Beklagte in Änderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Rentenberechnung einen JAV von 2.580,-- DM zugrunde zu legen. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG.) ist es der Auffassung, der Gleichberechtigungsgrundsatz und das Benachteiligungsverbot (Art. 3 Abs. 2 u. 3 GG) umfaßten auch den Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit. Die in § 150 Abs. 1 RVO vorgeschriebene unterschiedliche Ortslohnfestsetzung für Männer und Frauen sei mit diesem Verfassungsgrundsatz nicht vereinbar, deshalb sei jene Vorschrift nach dem 31. März 1953 gemäß Art. 117 Abs. 1 GG außer Kraft getreten. Bis die hierdurch entstandene Gesetzeslücke vom Gesetzgeber geschlossen werde, sei sie von der Rechtsprechung auszufüllen. Das könne in dem zur Entscheidung stehenden Fall nur dadurch geschehen, daß die Beklagte verpflichtet werde, der Rentenberechnung den für einen männlichen Tagarbeiter festgesetzten Ortslohn von 8,60 DM, also einen JAV von 2.580,-DM, zugrunde zu legen. Das SG. hat die nach seiner Meinung durch § 145 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 150 Nr. 1 SGG).

Gegen das am 3. März 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20. März 1956 - unter Vorlage einer schriftlichen Einwilligungserklärung der Klägerin (§ 161 Abs. 1 Satz 2 SGG) - Sprungrevision eingelegt und sie zugleich begründet. Die Beklagte rügt unrichtige Anwendung des Art. 3 Abs. 2 und 3 und des Art. 117 Abs. 1 GG, ferner der § 149, 150, 563 Abs. 2 und 3 RVO sowie der Ersten Verordnung über Ortslöhne und Jahresarbeitsverdienste in der Sozialversicherung vom 9. August 1950 (BGBl. I 1950 S. 369). Sie meint, die gesonderte Ortslohnfestsetzung für Männer und Frauen gemäß §§ 149, 150 RVO sei mit Art. 3 GG vereinbar. Es handle sich hierbei nicht um eine allgemeine Unterbewertung der Frauenarbeit an sich, sondern lediglich um die Feststellung von tatsächlich gegebenen Verschiedenheiten der ortsüblichen Tagesentgelte männlicher und weiblicher Tagarbeiter. Selbst wenn eine ortsübliche geringere Entlohnung der weiblichen im Vergleich zu den männlichen Tagarbeitern gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz verstieße, bleibe es doch zulässig, diese unterschiedlichen Entgeltsätze amtlich zu ermitteln und als Ortslohn festzusetzen. Bei der Feststellung des JAV berücksichtige das Gesetz in § 563 Abs. 2 RVO grundsätzlich die individuellen Lohnverhältnisse des Verletzten im Jahre vor dem Unfall. Eine solche Anpassung an die individuellen Verhältnisse des Verletzten müsse nach dem Sinn des Gesetzes auch bei der Heranziehung des Ortslohnes als Mindestgrenze des JAV gelten. Die gesonderte Ortslohnfestsetzung für männliche und weibliche Erwachsene gemäß § 150 Abs. 1 RVO sei ein dem GG nicht widersprechendes Verfahren, um diese Annäherung an die individuellen Lohnverhältnisse bei gewöhnlichen Tagarbeitern zu erzielen. Der vom SG. vertretene Standpunkt führe folgerichtig zu dem rechtlich unhaltbaren Ergebnis, daß keine weibliche Verletzte eine niedrigere Unfallrente erhalten dürfe als ihr in gleicher Stellung beschäftigter, aber - entgegen dem GG - besser bezahlter männlicher Arbeitskollege, falls dieser den Unfall erlitten hätte. Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat sich zur Revision nicht geäußert und auch nach Belehrung keinen Prozeßbevollmächtigten bestellt. Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat sind ihr mitgeteilt worden.

Nach der Verkündung des angefochtenen Urteils hat die Beklagte mit Bescheid vom 24. Februar 1956 die vorläufige Rente von 30 v.H. auf 20 v.H. herabgesetzt; mit Bescheid vom 26. Mai 1956 hat sie die Rente in dieser Höhe als Dauerrente festgestellt (§ 1585 Abs. 2 RVO). Nachdem die Rente während einer Heilanstaltspflege weggefallen war (§ 559e RVO), wurde sie für die Folgezeit durch den Bescheid vom 17. Januar 1957 wiederum auf 20 v.H. festgesetzt.

II

Die Sprungrevision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die von der Klägerin persönlich unterzeichnete Einwilligungserklärung ist rechtswirksam (vgl. BSG. 3 S. 13). Die besonderen Voraussetzungen der Statthaftigkeit der Sprungrevision nach § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG sind gegeben: Die Berufung war durch § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossen, da das Urteil des SG. einen dem Grunde nach unstreitigen Anspruch auf vorläufige Rente betraf; wegen des streitigen JAV war hierbei die Berufung unzulässig (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 2. Aufl., Anm. 4a zu § 145 SGG mit zutreffender Bezugnahme auf die Rechtsprechung zu § 1700 Nr. 7 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-5. Aufl., S. 250 1). Die Berufung ist aber durch das SG. wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 150 Nr. 1 SGG ausdrücklich zugelassen worden.

Die nach der Verkündung des angefochtenen Urteils von der Beklagten erteilten Bescheids haben die Statthaftigkeit und den Gegenstand der Sprungrevision nicht berührt. Der Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente ist erst am 26. Mai 1956, also nach der Einlegung der Sprungrevision, ergangen; er ist mithin - ebenso wie der Bescheid vom 17. Januar 1957 - nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden, sondern gilt nach § 171 Abs. 2 SGG als mit der Klage beim SG. angefochten. Hinsichtlich des Bescheides über die Herabsetzung der vorläufigen Rente vom 24. Februar 1956, der nach der Verkündung, aber vor der Zustellung des angefochtenen Urteils beschlossen wurde, ist die Rechtslage allerdings nicht so eindeutig. Dieser Bescheid ist nicht während des Revisionsverfahrens ergangen, das erst mit der Einlegung der Revision am 20. März 1956 begonnen hat (vgl. BSG. 4 S. 156 [158] S. 219 [221]). Es ist unerheblich, ob er vor oder nach dem Zeitpunkt der Urteilszustellung (3. März 1956) der Klägerin zugegangen ist; denn nach einem allgemeinen Grundsatz des Verfahrensrechts ist auch der Zeitraum zwischen den Instanzen in der Regel der unteren Instanz zuzurechnen (vgl. RGZ 68 S. 247 [253, 254]; 158 S. 195 [196], Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 123 § 30 III 1b). Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob für diesen im Gesetz nicht besonders geregelten Fall eine entsprechende Anwendung des § 171 Abs. 2 SGG in Erwägung zu ziehen oder aber die Rechtslage auf Grund des § 96 SGG zu beurteilen ist. Selbst wenn allein die letztgenannte Vorschrift in Betracht käme, wäre der Bescheid vom 24. Februar 1956 als Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens jedenfalls nicht infolge der Anfallswirkung zum Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden; denn sonst wäre der auch hier zu beachtende Verfahrensgrundsatz verletzt, daß dem Betroffenen nicht die Möglichkeit einer Tatsachennachprüfung abgeschnitten werden darf (vgl. Brackmann a.a.O. S. 254).

Der Verhandlung und Entscheidung über die Revision stand der Umstand nicht entgegen, daß die Klägerin vor dem Bundessozialgericht nicht durch einen nach § 166 Abs. 2 SGG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten gewesen ist (vgl. BSG. 3 S. 106 [109].

Da der wirkliche Arbeitsentgelt der Klägerin vor dem Unfall täglich kaum 3, 50 DM betrug, hatte die Beklagte für die Rentenberechnung als Mindestsatz den "Ortslohn für Erwachsene" gemäß § 563 Abs. 3 RVO heranzuziehen. Einen einheitlichen Ortslohn für Erwachsene beiderlei Geschlechts sieht das Gesetz jedoch nicht vor, vielmehr wird nach dem maßgebenden § 150 Abs. 1 RVO der Ortslohn für Männer und Frauen über 21 Jahre besonders festgesetzt. In der Bekanntmachung des OVA. München vom 5. März 1953, die im Bayerischen Staatsanzeiger vom 14. März 1953 abgedruckt und damit ordnungsgemäß veröffentlicht wurde (149 Abs. 2 Satz 1 RVO), ist für die Zeit vom 1. Januar 1953 an der Ortslohn im Stadtkreis München für männliche Erwachsene auf 8, 60 DM, für weibliche Erwachsene dagegen auf 7,-- DM festgesetzt worden. Nach Wortlaut und Zusammenhang der geltenden Bestimmungen hatte die Beklagte keine andere Möglichkeit) als der Rentenberechnung für die Klägerin den Ortslohn für Frauen von 7,-- DM zugrunde zu legen. Bei einer Berücksichtigung des für Männer festgesetzten Ortslohnes von 8, 60 DM hätte die Beklagte die Vorschriften der 563 Abs. 3, 150 Abs. 1 RVO unrichtig angewandt.

Der Vorderrichter ist indessen - in Ausübung seiner Normenkontrollbefugnis (vgl. BVerfG. 2 S. 124 [128 ff.]) - zu dem Ergebnis gelangt, 150 Abs. 1 RVO und die darauf beruhende Bekanntmachung des OVA. München vom 5. März 1953 seien grundgesetzwidrig. Zu einer Nachprüfung dieser Ansicht ist der erkennende Senat berufen: Auch die Bekanntmachung des OVA. München enthält materielles Recht; denn die Ortslohnfestsetzung - ebenso wie die Feststellung der Sachbezugswerte (§ 160 Abs. 2 RVO) und die Festsetzung der durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienste in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung (§ 933 RVO) - wirkt für und gegen alle von diesen Bestimmungen erfaßten Personen (§ 2 der Ersten VO über Ortslöhne und Jahresarbeitsverdienste in der Sozialversicherung vom 9.8.1950; vgl. auch BSG. 6 S. 41 [45] mit weiteren Nachweisen). Allerdings entspricht die Bekanntmachung des OVA. München als solche nicht den Erfordernissen des 162 Abs. 2 SGG; unzweifelhaft hat aber das Revisionsgericht irrevisibles Recht auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem revisiblen Recht - im vorliegenden Fall dem GG - nachzuprüfen (vgl. BSG. 2 S. 201 [205]; 6 S. 46).

Zutreffend ist das SG. davon ausgegangen, daß der Grundsatz der Gleichberechtigung von Männer und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) sowie das Gebot, niemanden wegen seines Geschlechts zu benachteiligen oder zu bevorzugen (Art. 3 Abs. 3 GG), in arbeitsrechtlicher Hinsicht auch den Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit umfassen (vgl. BAG. 1 S. 258 [260, 261] mit weiteren Nachweisen; S. 348 [352]; BAG. Urteil vom 23.3.1957 in AP. zu Art. 3 GG Nr. 16). Nach Ansicht des erkennenden Senats hat dies im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung die weitere Folgewirkung, daß auch die den weiblichen Versicherten zustehenden Rentenleistungen unter dem Gesichtspunkt der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung zu prüfen sind. Gegen diesen Grundsatz wird freilich - was das SG. verkannt hat - nicht schon ohne weiteres dadurch verstoßen, daß die ortsüblich gezahlten Tagesentgelte gewöhnlicher Tagarbeiter getrennt nach Männern und Frauen ermittelt und hieraus für bestimmte Bezirke Durchschnittssätze für männliche und weibliche Tagarbeiter gebildet werden. Lediglich im Wege einer solchen Ermittlung und Durchschnittsberechnung tatsächlich gezahlter Tagelöhne - nicht etwa daneben auch noch durch freie Schätzung - erfolgt aber die in §§ 149, 150 RVO vorgeschriebene Festsetzung der Ortslöhne (vgl. RVO-Mitgl. Komm., 2. Aufl., Bd. I, S. 105 Anm. 5 zu § 149; Schraft in DVZ. 1950 S. 245). Ein solches Verfahren hat an sich überhaupt keine Berührungspunkte zum verfassungsmäßigen Gleichberechtigungsgrundsatz; es kann zu gesetzlich vorgesehenen Zwecken benutzt werden, bei denen eine Benachteiligung der weiblichen Versicherten gar nicht in Betracht kommt, wie z.B. in § 732 RVO. Der Senat ist hiernach der Auffassung, daß die in § 150 Abs. 1 RVO vorgeschriebene besondere Ortslohnfestsetzung für Männer und Frauen nicht gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verstößt (s. auch BMA., Erlaß vom 7.2.1958 in ErsK. 1958 S. 90).

Ausschlaggebend kommt es vielmehr nach Ansicht des Senats darauf an, wofür der nach Geschlechtern gesondert festgesetzte Ortslohn jeweils herangezogen wird. Bei einer auf den Ortslohn gestützten Berechnung von Geldleistungen für Unfallverletzte Frauen ist die Möglichkeit, daß eine Benachteiligung gegenüber vergleichbaren männlichen Verletzten eintritt, grundsätzlich gegeben. Die verfassungsrechtliche Prüfung erstreckt sich damit auf die Vorschriften des § 563 Abs. 3 in Verbindung mit § 150 Abs. 1 RVO und der gesetzesausfüllenden Bekanntmachung des OVA. München vom 5. März 1953.

Die in § 563 Abs. 3 RVO vorgeschriebene Berechnung des JAV nach dem 300-fachen des Ortslohnes bezweckt, die Berechnungsgrundlage für Unfallrenten, die Versicherten mit außergewöhnlich geringem Verdienst (z.B. Lehrlingen, Gelegenheitsarbeitern) zu gewähren sind, nicht zu stark absinken zu lassen. Der Beklagten ist darin beizupflichten, daß auch bei dieser Gruppe von Versicherten eine gewisse Annäherung an die - in 563 Abs. 2 RVO vorherrschenden - individuellen Lohnverhältnisse angestrebt werden soll. Deshalb ist hierbei die Berücksichtigung eines Ortslohnes, der nach Geschlechtern gesondert festgesetzt ist, entgegen dem vom SG. vertretenen Standpunkt nicht von vornherein ausgeschlossen, jedenfalls nicht insoweit, als in dem für weibliche Tagarbeiter festgesetzten Ortslohn die tatsächliche Entlohnung ausschließlicher oder typischer Frauenarbeit (vgl. BAG. 1 S. 258 [266]; BAG. Urteil vom 2.3.1955 in AP. zu Art. 3 GG Nr. 6) sich auswirkt. Dagegen verstößt die Berechnung des JAV für eine Versicherte nach einem vom OVA. festgesetzten und bekanntgegebenen Ortslohn für weibliche Erwachsene dann gegen den Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit und damit gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, wenn dieser Ortslohn auf Grund von Arbeitsverhältnissen ermittelt und gebildet wurde, in denen die Frauen lediglich ihres Geschlechts wegen geringer entlohnt worden sind; die Unterlagen, aus denen das OVA bei der Ortslohnfestsetzung die ortsüblichen Tagesentgeltsätze entnommen hat (Tarifverträge, Auskünfte von Gemeinden, Gewerkschaften, Arbeitgebervereinigungen u.ä.). müssen also im wesentlichen frei sein von solchen, durch Art. 3 Abs. 2 und 3 GG mißbilligten Benachteiligungen der Frauen, wie sie zumal etwa in generellen und schematischen Abschlagsklauseln für Frauenlöhne (BAG. 1 S. 258 [269]; S. 348 [354] zu erblicken sind.

Die Auslegung, die der Vorderrichter dem Gleichberechtigungsgrundsatz im Hinblick auf die Berechnung des JAV in Fällen des § 563 Abs. 3 RVO gegeben hat, geht somit nach Auffassung des erkennenden Senats über das durch Art. 3 Abs. 2 und 3 GG Gebotene hinaus. Die Revision ist hiernach begründet. Bas SG. hat infolge seines abweichenden rechtlichen Standpunkts nicht geprüft, auf welchen Unterlagen die Ortslohnfestsetzung in der Bekanntmachung des OVA. München vom 5. März 1953 beruhte. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen mußte daher der Senat von einer Entscheidung in der Sache selbst absehen; die Sache war vielmehr zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das SG. wird zu erforschen haben, ob sich aus noch verfügbaren Unterlagen des OVA. München zur Ortslohnfestsetzung vom 5. März 1953 Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Unterschied zwischen dem Männer lohn von 8, 60 DM und dem Frauenlohn von 7,-- DM auf tatsächliche Verschiedenheiten der von Männern und Frauen verrichteten Tätigkeiten oder aber auf grundgesetzwidrige allgemeine Lohnabschläge, für Frauenarbeit zurückzuführen war. Dabei kann - falls die Aufzeichnungen des OVA. hauptsächlich aus bloßen Zahlenangaben bestehen und damit keine zuverlässigen Aufschlüsse ergeben sollten - der Umstand von Bedeutung sein, daß zu Anfang des Jahres 1953, als die angeführte Rechtsprechung des BAG. noch nicht bestand, grundgesetzwidrige Minderentlohnungen von Tagarbeiterinnen vermutlich noch in erheblichem Umfang verbreitet gewesen sein dürften. Im übrigen läßt sich eine genaue Grenze, von der an eine Ortslohnfestsetzung wegen Grundgesetzwidrigkeit der in ihr ausgewerteten Frauenlöhne als unwirksam zu erachten ist, kaum angeben; selbstverständlich kann es hierbei nicht allein auf das zahlenmäßige Verhältnis der einwandfreien zu den grundgesetzwidrigen Tarifversträgen usw., sondern auch auf den Umfang der in ihnen jeweils erfaßten Personenkreise ankommen. Sollte sich durch diese Nachforschungen nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lassen, daß seinerzeit bei der fraglichen Ortslohnfestsetzung der Gleichberechtigungsgrundsatz im wesentlichen unverletzt blieb, so wäre der JAV für die Rente der Klägerin nach dem Ortslohn für männliche Erwachsene zu berechnen. Bei der erneuten Verhandlung. und Entscheidung wird da das SG. so dann auch über die nach der Verkündung seines ausgehobenen Urteils erlassenen Bescheide der Beklagten mit zu befinden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des SG. vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324031

BSGE, 164

NJW 1959, 740

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