Leitsatz (redaktionell)
Ist das Handeln eines Prozeßbevollmächtigten durch die von diesem gewählte Form der Abgabe der Berufungsschrift (hier: Abgabe beim SG statt beim LSG ) als verwerfbar falsch anzusehen, hat die Entscheidung über die sich ergebenden prozessrechtlichen Folgen unter Beachtung der besonderen Umstände des Einzelfalles zu ergehen.
Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hat zwar vorwerfbar falsch gehandelt, als er die Berufungsschrift beim SG abgab, statt sie dem Gesetz entsprechend dem LSG zu übersenden. Deswegen muß die Klägerin jedoch nicht für alle Folgen dieses Verhaltens einstehen. Hier hatte der Urkundsbeamte des SG noch am gleichen Tage die Weiterleitung der Berufungsschrift mit den erstinstanzlichen Akten als Päckchen an das LSG veranlaßt.
Der Urkundsbeamte hätte die Berufungsschrift als Brief absenden müssen, weil er den Fristablauf ohne weiteres aus Berufungsschrift und aus den Akten des SG erkennen konnte. Die Wahl der falschen Versendungsart darf dann der Klägerin nicht mehr zugerechnet werden.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. März 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Rechtzeitigkeit der Berufung und in der Sache über die Höhe des Altersruhegeldes der Klägerin. Das Urteil des Sozialgerichts (SG) Nürnberg, das der Klage nur teilweise stattgegeben hatte, wurde dem Prozeßbevollmächtigten und Ehemann der Klägerin, einem Rechtsanwalt, am 7. Oktober 1970 zugestellt. Dieser gab am Donnerstag, dem 5. November 1970, die an das SG adressierte Berufungsschrift in der Telefonzentrale dieses Gerichtes ab. Am selben Tag verfügte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des SG die Weiterleitung "nebst drei Beilagen, 1 Klageakt ... mit Urteilsabdruck" an das Bayerische Landessozialgericht (LSG). Mit diesen Unterlagen gelangte die Berufungsschrift noch am 5. November 1970 in N als Päckchen zur Post. Das Päckchen wurde in M mit der Paketpost zugestellt. Nach dem Eingangsstempel des LSG ging die Berufung dort am Dienstag, dem 10. November 1970, ein.
Auf den verspäteten Eingang hingewiesen - die Frist war am Montag, dem 9. November abgelaufen - erklärte der Prozeßbevollmächtigte am 23. November 1970, er habe die Berufung beim SG fristgerecht eingereicht und auf die Weiterleitung keinen Einfluß gehabt. Nachdem ein Vorbescheid ergangen und mündliche Verhandlung beantragt worden war, begehrte er am 11. Februar 1971 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Ihm sei der Eingangsstempel vom 10. November 1970 unerklärlich; Postsendungen von N nach M würden täglich achtmal in direkten Zügen mit einer Laufzeit von drei Stunden befördert und in M sofort sortiert; der Eingangsstempel müsse unrichtig sein. In einem späteren Schriftsatz hob er hervor, ihm sei bekannt gewesen, daß die Berufung noch am 5. November weitergesandt wurde. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG trug er schließlich vor, er habe die Berufung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG erklären wollen, die Geschäftsstelle zur Mittagszeit aber unbesetzt vorgefunden und deshalb die vorbereitete Berufungsschrift bei der Telefonzentrale abgegeben.
Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 31. März 1971 als verspätet verworfen. Der zulässige Beweis einer Unrichtigkeit des Eingangsstempels sei nicht geführt. Der Klägerin könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Es brauche kein Beweis erhoben zu werden, aus welchem Grunde die Berufungsschrift bei der Telefonzentrale des SG abgegeben worden sei; das letzte Vorbringen werde aus Billigkeitsgründen als zutreffend unterstellt. Auch dann habe der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, was sie sich anrechnen lassen müsse, schuldhaft gehandelt. Ihm müsse das Risiko der Rechtsmittelabgabe beim unzuständigen Gericht bekannt sein; die Klägerin habe deshalb alle darauf beruhenden Verzögerungen zu vertreten, soweit sie nicht durch Umstände bedingt seien, mit denen niemand zu rechnen brauche. Die Verspätung sei hier dadurch entstanden, daß das SG die Berufungsschrift mit der allgemeinen Sammelpost zwar noch am gleichen Tage, jedoch nur als Päckchen, weitergeleitet habe. Hiermit habe der Prozeßbevollmächtigte rechnen müssen. Päckchen würden, wie allgemein bekannt, bei Überlastung der Briefpostzusteller mit der Paketpost zugestellt. Bedenke man, daß in die Laufzeit ein Samstag und ein Sonntag fielen und daß auch am Montag in Großstädten die Postzustellung eingeschränkt sei, dann liege die Laufzeit eines Päckchens von N nach M von fünf Tagen nicht außerhalb des Voraussehbaren.
Mit der nicht zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und der Klage im vollen Umfang stattzugeben, vorsorglich: die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die Revision ist zulässig und insoweit begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil die Klägerin einen tatsächlich vorliegenden Mangel im Verfahren des LSG ordnungsgemäß gerügt hat (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG; BSG 1, 150). Das LSG hat die Berufung zu Unrecht durch Prozeßurteil verworfen, anstatt sachlich über sie zu entscheiden.
Allerdings hat das LSG zutreffend angenommen, daß die Berufungsschrift am 10. November 1970, also erst nach Ablauf der Berufungsfrist, beim LSG eingegangen ist. Nach den Feststellungen des LSG gibt der Eingangsstempel den Tag des Eingangs richtig wieder. Die Einwände der Klägerin hiergegen greifen nicht durch. Das LSG hat weder allgemein noch im vorliegenden Fall die Beweiskraft des Eingangsstempels verkannt. Es trifft auch nicht zu, daß das LSG an die Möglichkeit menschlichen Versagens nicht gedacht habe. Das LSG hat die "verhältnismäßig lange Laufzeit der Päckchensendung" ausdrücklich berücksichtigt. Wenn es aufgrund der Erfahrungen der Berufsrichter und der Vernehmung des Regierungshauptsekretärs M von der Posteingangsstelle gleichwohl den Eingangsstempel für richtig hielt, so ist das nicht zu beanstanden. Die Hinweise der Klägerin auf eine irrtümliche Zahlungsaufforderung und die Falschbehandlung eines Rückscheines haben insoweit keine Bedeutung.
Das LSG hätte jedoch der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen.
Dem stand nicht entgegen, daß auch der Antrag auf Wiedereinsetzung verspätet gestellt war. Das LSG hat mit Recht geprüft, ob nach § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag zu gewähren ist, weil jedenfalls die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden war. Diese Voraussetzung ist auch gegeben, wenn die versäumte Rechtshandlung schon vor dem Beginn der Antragsfrist vorgenommen (nachgeholt) worden ist (SozR Nr. 9 und 17 zu § 67 SGG), wie es hier der Fall war.
Nach § 67 Abs. 1 SGG steht die Wiedereinsetzung nicht im Ermessen des Gerichts; sie ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Insoweit besteht kein Zweifel, daß eine Bedingung (conditio sine qua non) für die Nichteinhaltung der Berufungsfrist das fehlerhafte Verhalten des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin war. Da die Berufung schriftlich nur beim LSG eingelegt werden konnte, hat der Prozeßbevollmächtigte vorwerfbar falsch gehandelt, als er die Berufungsschrift - aus welchen Gründen auch immer - beim SG abgab. Hätte er die Berufungsschrift dem LSG mit einfachem Brief übersandt, so spricht alles dafür, daß ein am Donnerstag, dem 5. November 1970, in N zur Post gegebener Brief bis zum Montag, dem 9. November 1970, und damit fristgerecht beim LSG eingegangen wäre.
Wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) jedoch im Urteil vom 28. August 1968 (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) bereits dargelegt hat, schließt die Verschuldenshaftung im Rahmen des § 67 SGG nicht ein Einstehenmüssen für alle Folgen eines fehlerhaften Verhaltens ein; wer fehlerhaft handelt, muß den weiteren Geschehensablauf nur insoweit vertreten, als dieser voraussehbar und mit ihm zu rechnen war. Das hat das LSG zwar nicht verkannt; seiner Meinung, daß die Klägerin auch den weiteren Geschehensablauf zu vertreten habe, kann der Senat jedoch nicht folgen.
Der Senat kann dahingestellt lassen, ob eine Laufzeit von Donnerstag bis Dienstag für ein Päckchen von N nach M wirklich noch im Rahmen eines normalen Beförderungsverlaufs lag. Denn wenn das nicht der Fall war, dann handelte auch der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des SG falsch, wenn er am Donnerstag, dem 5. November 1970, die Berufung in einem Päckchen statt durch einfachen Brief an das LSG weiterleiten ließ. Wenn er sich überhaupt zur Weiterleitung der Berufungsschrift noch am 5. November 1970 entschloß, dann mußte er in diesem Falle die Berufungsschrift - evtl. ohne Akten - als Brief weiterleiten, weil aus der Berufungsschrift wie auch aus den beigezogenen Akten des SG der Zustellungstag des SG-Urteils und infolgedessen der Ablauf der Berufungsfrist zum 9. November 1970 ohne weiteres zu erkennen war; da dann die Weiterleitung als Päckchen die Gefahr des Rechtsmittelverlustes in sich barg, mußte der Urkundsbeamte sich für die Weiterleitung der Berufung durch einfachen Brief entscheiden (vgl. BFH, BStBl. 1962, 406).
Ein sich dem fehlerhaften Verhalten ihres Prozeßbevollmächtigten anschließendes fehlerhaftes Verhalten des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim SG kann der Klägerin aber nicht mehr zugerechnet werden; sie hat es nicht zu vertreten, weil sie damit nicht zu rechnen brauchte. Da die Klägerin somit für die Weiterleitung als Päckchen nicht einzutreten hat, bei einer Weiterleitung als Brief jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Berufungsfrist gewahrt worden wäre, durfte der Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht versagt werden.
In der Sache selbst kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil das LSG insoweit keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat. Auf die begründete Revision muß deshalb der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen