Leitsatz (amtlich)
Ein uneheliches Kind, das seinem Vater (Erzeuger) in dessen Haushalt aufgenommen ist sowie dort laufend mit dessen ehelichen Kindern versorgt und erzogen wird, gilt unabhängig von der Alimentationspflicht (BGB §§ 1708 ff) als Pflegekind im Sinne des KGG § 2 Abs 1 S 3 Fassung: 1955-12-23.
Normenkette
BGB § 1708 Fassung: 1896-08-18; KGG § 2 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1955-12-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. April 1957 und des Sozialgerichts Schleswig vom 6. September 1956 sowie der Bescheid der Beklagten vom 21. März 1956 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger lebt mit drei Kindern aus seiner 1951 geschiedenen Ehe, für die ihm das Personensorgerecht übertragen ist, auf einer kleinen Landstelle. In seinen Haushalt dort hat er auch die von ihm erzeugte, 1953 unehelich geborene U K aufgenommen, deren Mutter - ebenfalls geschieden - bei ihm als Wirtschafterin tätig ist. Von April bis November 1955 war der Kläger in einem Baugeschäft als Maurer beschäftigt. Seinen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für U K lehnte die beklagte Familienausgleichskasse (FAK) durch Bescheid vom 21. März 1956 mit der Begründung ab, das uneheliche Kind gelte nur im Verhältnis zu seiner leiblichen Mutter als Kind im Sinne der Kindergeldgesetzgebung; es könne beim Erzeuger nicht berücksichtigt werden. Auch Pflegekind des Klägers sei es nicht, weil kein familienartiges Band zwischen beiden bestehe; das Zusammenleben mit der Mutter des Kindes könne jederzeit willkürlich gelöst werden.
Im sozialgerichtlichen Verfahren begehrte der Kläger, diesen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Kindergeld für U K zu gewähren. Das Sozialgericht (SG) Schleswig wies durch Urteil vom 6. September 1956 die Klage ab. Seiner Auffassung nach können Kinder nur von einem Ehepaar in Pflege genommen werden, da das ein Pflegekindschaftsverhältnis bestimmende familienartige Band eine durch Ehe begründete Gemeinschaft voraussetze. Die Berufung des Klägers wies das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 1. April 1957 zurück. Zwar könne ein Pflegekind nicht nur von Ehegatten gemeinsam aufgenommen werden, und es spiele auch keine Rolle, daß der uneheliche Vater sich jederzeit aus der rechtlich nicht gesicherten Gemeinschaft mit diesem Kind zu lösen vermöge; denn das sei gerade ein charakteristisches Merkmal des Pflegekindschaftsverhältnisses. Trotz der Aufnahme in den Haushalt sowie der jahrelang andauernden gemeinschaftlichen Versorgung und Erziehung habe der Kläger dennoch zu seinem unehelichen Kind kein familienartiges Band geknüpft, weil er ihm nicht die gleiche Stellung verschafft habe wie den eigenen ehelichen Kindern. Gleichartige äußere Lebensbedingungen seien nicht ausreichend, vielmehr müsse der Wille darauf gerichtet sein, die gleiche soziale und ethische Stellung zu begründen. Durch Heirat des Klägers und der Kindesmutter sei dies möglich. Unterbleibe die Eheschließung, dann könne das Bestehen eines familienartigen Bandes und damit ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht angenommen werden. Revision wurde zugelassen.
Gegen das am 20. August 1957 zugestellte Urteil wurde am 5. September 1957 die Revision vom Kläger eingelegt und begründet. Er ist der Auffassung, daß den tatsächlichen Umständen nach ein Pflegekindschaftsverhältnis vorliegt.
Nachdem der Kläger zunächst beantragt hatte, die angefochtene Entscheidung, das Urteil des SG sowie den Bescheid der beklagten FAK aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm vom 1. Mai bis 30. November 1955 Kindergeld in der Gesamthöhe von 175,- DM zu gewähren, beschränkte er nach einer Vereinbarung mit der Beklagten vom 31. Oktober 1960 in der Verhandlung vor dem erkennenden Senat am 21. Dezember 1960 seinen Antrag dahin, daß er begehrte
1. die angefochtene Entscheidung,
2. das Urteil des SG Schleswig vom 6. September 1956,
3. den Bescheid der Beklagten vom 21. März 1956
aufzuheben.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils für zutreffend. Es verletze den Grundsatz des Schutzes der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -), wolle man uneheliche Kinder als Pflegekinder ihres Erzeugers gelten lassen und ihm für dieses Kindergeld gewähren. Als Kinder nach Kindergeldrecht aber seien uneheliche Kinder nur im Verhältnis zur leiblichen Mutter anzuerkennen.
Die Beteiligten erklärten im Verhandlungstermin vom 21. Dezember 1960 übereinstimmend, darüber einig zu sein, daß die Beklagte das Kindergeld für den streitigen Zeitraum dem Kläger dann gewährt, wenn der Senat die angefochtenen Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen aufhebt.
II
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig.
Verfahrensrechtlich liegt in der Erklärung des Klägers, daß er seinen Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen beschränke, eine teilweise Klagerücknahme (§ 102 SGG). Diese Rücknahme braucht nicht ausdrücklich zu erfolgen, muß aber unmißverständlich sein. Daher kommt sie, wie im vorliegenden Fall, auch in einer Beschränkung des Klageantrags zum Ausdruck (BGH 4, 39; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 127 Anm. II 1 b). Im Sozialgerichtsverfahren kann die Klage auch noch in der Revisionsinstanz zurückgenommen werden, wie der erkennende Senats bereits im Beschluß vom 11. Februar 1958 (SozR, § 102 SGG, Bl. Da 2 Nr. 4) entschieden hat (vgl. auch Mellwitz, Komm. zum SGG, § 102 Anm. 3; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 102 Anm. 3). Das Rechtsschutzinteresse des Klägers ist im vorliegenden Fall auch für die Aufhebungsklage allein zu bejahen, weil sich die Beklagte für den Fall der Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen bereiterklärt hat, dem Kläger das Kindergeld zu gewähren.
Die Revision ist auch begründet.
Auf den Anspruch des Klägers, ihm für U K Kindergeld für die Zeit bis November 1955 zu gewähren, waren die Vorschriften des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeldgesetze (KGÄndG) vom 27. Juli 1957 (BGBl. I, 1061) noch nicht anzuwenden, da dieses erst mit Wirkung vom 1. Oktober 1957 in Kraft getreten und nicht mit Rückwirkung ausgestattet ist. Der Anspruch des Klägers war daher nach dem Gesetz über die Gewährung von Kindergeld und die Errichtung von Familienausgleichskassen (Kindergeldgesetz - KGG -) vom 13. November 1954 (BGBl. I, 333) zu beurteilen, dessen hier maßgebliche Vorschriften auch durch das Gesetz zur Ergänzung des Kindergeldgesetzes (Kindergeldergänzungsgesetz - KGEG -) vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I, 841) keine Änderung erfahren haben. Infolgedessen galt das uneheliche Kind im Verhältnis zum Kläger als Vater im Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils nicht als Kind im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KGG. Personen, die auf Grund von § 1 KGG anspruchsberechtigt sind, erhalten bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen Kindergeld nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 a. a. O. aber auch für Pflegekinder. Nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 1 Satz 3 a. a. O. gelten als Pflegekinder (ausgenommen den Fall der Versorgung durch Großeltern oder Geschwister) "alle Pflegekinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 15. September 1953 (BGBl. I, 1355)". Der Tatbestand eines Pflegekindschaftsverhältnisses ist gemäß Nr. 146 Abs. 2 der zu § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. f des Einkommensteuergesetzes (EStG) erlassenen Einkommensteuerrichtlinien für das Kalenderjahr 1953 (BStBl. 1954 I, 77) in jedem Falle erfüllt ("alle Pflegekinder ..."), wenn das Pflegekind im Haushalt der Pflegeeltern seine Heimat hat und wenn zwischen Ihnen und dem Pflegekind ein familienartiges, auf die Dauer berechnetes Band besteht (BFH-Urteil vom 17. Dezember 1952, BStBl. 1953 III, 74). Diese Voraussetzungen waren nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der erkennende Senat gebunden ist (§ 163 SGG), bei U K im Verhältnis zum Kläger gegeben. Zu Recht ist das LSG - entgegen der vom SG vertretenen Auffassung - davon ausgegangen, daß zur Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses die Aufnahme durch ein Ehepaar (beide Ehegatten gemeinsam) nicht erforderlich ist. Ein Pflegekind im Sinne des EStG und damit auch des KGG kann vielmehr ebenso von einzelnen Personen aufgenommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 17. Dezember 1952 a. a. O.; Witting-Meier, KGG Handbuch, § 2 Anm. 8). Da das uneheliche Kind im Haushalt und auf Kosten des Klägers lebt sowie zusammen mit seinen ehelichen Kindern laufend versorgt und erzogen wird, ist davon auszugehen, daß es dort seine Heimat hat. Ein auf die Dauer berechnetes Band ist zu bejahen, da das Zusammenleben des Kindes Ursula Knudsen mit dem Kläger und seinen Familienangehörigen sich bereits über mehrere Jahre erstreckte. Eine "für alle Zeit geltende Bindung" wird nicht gefordert (vgl. Käß, Die Kindergeldgesetze, § 2 Anm. 5). Das Bestehen eines Pflegekindschaftsverhältnisses ist nicht deshalb zu verneinen, weil der Pflegevater das zwischen ihm und dem Pflegekind bestehende Band jederzeit lösen und sich auf die unterhaltsrechtlichen Beziehungen zu dem von ihm erzeugten Kinde beschränken kann (vgl. Rüdiger, Das Kindergeldrecht S. 77; Sixtus-Haep, Das Kindergeldgesetz § 2 Anm. 5 und 6; SG Düsseldorf, Urteil vom 15. März 1956 in SGb 1956, 365). Es entspricht gerade dem Wesen einer Pflegekindschaft, das hier - im Gegensatz etwa zur Adoption (§§ 1741 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) - strengere rechtliche oder zeitliche Bindungen nicht gegeben sind (vgl. Schiekel, Anm. zum Urteil des SG Düsseldorf vom 15. März 1956 a. a. O.). Auch die Alimentationspflicht verwehrt es nicht, den Unterhaltsberechtigten als Pflegekind des Unterhaltspflichtigen gelten zu lassen (vgl. SG Trier, Urteil vom 18. Juli 1956 in Breithaupt 1957, 27 ff), wenn für diesen eigenen Tatbestand die gesetzlichen Voraussetzungen und Bedingungen erfüllt sind. Die Vorschriften der §§ 1708 ff BGB regeln die Gewährung des Unterhalts in Geldbeträgen für das eheliche Kind, besagen aber nichts über dessen Aufnahme in den Haushalt des Erzeugers. Nach § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG wird durch die Verweisung auf das Einkommensteuerrecht für die Pflegekindschaft neben der "Aufnahme in den Haushalt" wesentliches Merkmal das "familienartige Band". Für diesen von der Rechtsprechung entwickelten Begriff ist die tatsächliche Gestaltung der Hausgemeinschaft zwischen Pfleger und Kind von entscheidender Bedeutung. Demzufolge ist auf die sachlichen - allerdings nicht bloß "äußeren" - Lebensbedingungen abzustellen. Das Pflegekind darf nicht nur "Kostgänger" sein und nicht allein zwecks Einsparung der Unterhaltsrente (§ 1710 BGB) aufgenommen werden. Es muß wie "zur Familie gehörig" angesehen und behandelt werden (vgl. Käß a. a. O., Anm. 5 zu § 2 KGG); im Rahmen dieser natürlichen Einheit soll es Versorgung, Erziehung und Heimat finden. Darüber hinaus jedoch ist eine "ethische und soziale Gleichstellung" des Pflegekindes mit den ehelichen Kindern des Pflegevaters für den Tatbestand nach § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG - entgegen der Auffassung des LSG - nicht erforderlich. Das Pflegekindschaftsverhältnis unterscheidet sich von dem durch Abstammung, Legitimation oder Adoption begründeten Kindschaftsverhältnis auch sonst dadurch, daß Pflegekinder den ehelichen, für ehelich erklärten oder adoptierten Kindern anderweit nicht gleichgestellt sind (z. B. im Familienrecht, Erbrecht). Im übrigen bildet den Regelfall der Pflegekindschaft nicht das uneheliche Kind, das gemeinsam mit der leiblichen Mutter bei seinem Erzeuger Aufnahme findet; deswegen sind dafür offenbar auch keine besonderen, von der allgemeinen Regelung abweichenden Bedingungen getroffen worden. Sachlich und rechtlich ändert an der Pflegekindeigenschaft der Ursula Knudsen also der Umstand nichts, daß ihr nach der Feststellung des LSG die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes verschafft werden könnte, weil eine Heirat des Erzeugers und Pflegevaters mit der Kindesmutter möglich ist, wenn beide Willen und Bereitschaft dazu aufbrächten. Für die Pflegekindschaft im Sinne des Kindergeldrechts kommt es allein auf das tatsächlich bestehende Verhältnis zwischen Pfleger und Pflegekind an, nicht aber darauf, in welchen Beziehungen die Mutter des Kindes zu dem Pflegevater steht (vgl. Witting-Meier, KGG Handbuch, § 2 Anm. 8; Schiekel, SGb 1956, 366). Ethisch und pädagogisch bildet zwar im allgemeinen eine Ehe die günstigste und vollkommenste Grundlage für die Betreuung und Formung junger Menschen. Der Kindergeldgesetzgebung ist jedoch nicht die Aufgabe gesetzt, Eheschließungen zu bewirken, wie allein schon aus der Vorschrift des § 2 Abs. 1 Nr. 5 KGG ersichtlich wird, die den Anspruch auf Kindergeld auch für uneheliche Kinder eröffnet. Infolgedessen bleibt für die Entscheidung des vorliegenden Falles nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 KGG auch ohne Belang, daß Pflegevater und Kindesmutter möglicherweise in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, die moralischen Bedenken begegnet, obschon sie hierzu offenbar nicht durch wirtschaftliche Gründe bewogen wurden, die auf Erhaltung einer Versorgungsrente oder ähnlicher Einkünfte der Kindesmutter abzielen ("Onkelehe"), und obwohl ebensowenig ein Ehebruch (§ 172 des Strafgesetzbuches - StGB -; § 1312 BGB) in Betracht kommt, weil beide Beteiligten nicht (mehr) verheiratet sind. Durch die den tatsächlichen Umständen nach gebotene Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses wird ferner der Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 GG, "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung", nicht verletzt, weil der Gesetzgeber selbst den besonderen Tatbestand des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG in das Kindergeldrecht eingeführt hat. Dieser ist aber auch dann erfüllt, wenn der Erzeuger das uneheliche Kind und dessen Mutter in den gemeinschaftlichen Haushalt aufgenommen hat (vgl. Witting-Meier a. a. O. § 2 Anm. 7 und 8; Schiekel Anm. 5 zu § 2 KGG; LSG Berlin in BB 1957, 269; LSG Bremen in SGb 1957, 348 ff; anderer Auffassung Lauterbach/Wickenhagen, Die Kindergeldgesetzgebung 1956 § 2 KGG S. IV/41). Im Einklang mit den Rechtsvorschriften erscheint es auch dem gesunden Menschenverstand richtig und vernünftig, wenn ein uneheliches Kind zusammen mit der leiblichen Mutter und dem Erzeuger sowie überdies noch in Gemeinschaft weiterer Kinder heranwächst, statt daß es fremden Menschen überlassen wird.
Nach alledem hat U K als Pflegekind (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 KGG) des Klägers zu gelten.
Die Urteile des LSG und des SG sowie der Bescheid der Beklagten vom 21. März 1956 mußten daher aufgehoben werden.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Es war zu beachten, daß unbeschadet der mit Zustimmung der Beklagten erfolgten, teilweisen Klagerücknahme (Leistungsanspruch) der Kläger sachlich in vollem Umfange obsiegt hat.
Fundstellen
NJW 1961, 701 |
MDR 1961, 450 |