Entscheidungsstichwort (Thema)
Absolute Fahruntüchtigkeit und unternehmensbezogene Umstände
Leitsatz (redaktionell)
Auch wenn eine absolute Fahruntüchtigkeit vorliegt ist zu prüfen, ob als Unfallursache eventuell unternehmensbezogene sonstige Umstände für das Zustandekommen des Unfalls rechtlich wesentliche Mitursachen gewesen sind.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. März 1973 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) bis 4) ist am 20. Mai 1970 auf einer Geschäftsreise mit dem Kraftwagen tödlich verunglückt.
Der Versicherte war Diplom-Landwirt und Angestellter der Firma M, F und E-K GmbH in H. Am Unfalltag hatte er mit dem firmeneigenen Wagen im Auftrag seines Arbeitgebers u. a. einen Kunden in C aufgesucht. Auf der Weiterfahrt zur Eier-Vertriebszentrale in L kam der Versicherte gegen 18.15 Uhr auf der Kreisstraße 264 bei K in einer Rechtskurve von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Straßenbaum. An den Folgen der dabei erlittenen Verletzungen starb er an der Unfallstelle. Die Alkoholbestimmung im Blut ergab nach dem Gutachten des Dr. G in O. vom 22. Mai 1970 eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von ca. 2,7 0 / 00 . Durch Bescheid vom 28. Juli 1970 lehnte die Beklagte die Gewährung von Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Witwenrente an die Klägerin zu 1) sowie von Waisenrente an die Kläger zu 2) bis 4) ab, weil der Versicherte infolge Alkoholeinwirkung fahruntüchtig und die Fahruntüchtigkeit die allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gerichtete Klage der Kläger abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1971). Aufgrund der Behauptung der Kläger, daß die von Dr. G untersuchte Blutprobe nicht die des Versicherten gewesen sei, hat das SG u. a. ein Gutachten des Dr. G vom 13. Dezember 1970 beigezogen und in der mündlichen Verhandlung am 27. Oktober 1971 den Oberarzt Dr. J vom Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Akademie in L als Sachverständigen gehört. Ferner hat das SG in der mündlichen Verhandlung den Polizeihauptwachtmeister A und den Unfallzeugen S vernommen. Die Kläger haben sich hinsichtlich der Unfallursachen u. a. auf ein von ihnen vorgelegtes Gutachten des Dipl.-Ingenieurs P in O vom 21. Oktober 1970 bezogen. Auf die Berufung der Kläger hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) antragsgemäß das erstinstanzliche Urteil sowie den Bescheid vom 28. Juli 1970 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Klägerin mit einem neuen Bescheid Hinterbliebenenleistungen zu gewähren (Urteil vom 15. März 1973). Das LSG hat in der mündlichen Verhandlung erneut den Unfallzeugen S vernommen und den Ingenieur S aus Bad S als Sachverständigen gehört. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung der Kläger sei zulässig, denn seit der gegenüber der Klageschrift vorgenommenen Änderung des Klageantrags erfasse das Begehren der Kläger nach dem Inhalt ihres Vorbringens nur die Ansprüche auf Witwen- und Waisenrente. Es könne daher dahingestellt bleiben, ob die Berufung im Hinblick auf die Verfahrensrügen der Kläger gemäß § 150 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig sei. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe der angefochtene Bescheid, soweit die Beklagte mit ihm die Rentengewährung abgelehnt habe, mit der Rechtsordnung nicht im Einklang, denn die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Witwen- und Waisenrenten seien sämtlich erfüllt. Zwar habe bei dem Versicherten zur Unfallzeit infolge unternehmensfremden Alkoholgenusses mit einer BAK von 2,7 0 / 00 Fahruntüchtigkeit bestanden. Diese habe jedoch bei vergleichender Wertung sämtlicher in Betracht kommender Unfallursachen nicht derart zu dem Unfall beigetragen, daß hätte festgestellt werden können, der Versicherte wäre im nüchternen Zustand wahrscheinlich nicht verunglückt, der Alkoholgenuß sei also die rechtlich allein wesentliche Unfallursache.
Es stehe fest, daß der Versicherte um 18.00 Uhr bei der Eier-V-Zentrale in L habe sein sollen, sich aber erst um etwa 18.00 Uhr von seinem Verhandlungspartner in C verabschiedet habe und daß er nach schneller Fahrt auf zum Teil kurvenreicher Strecke bereits gegen 18.15 Uhr am rund 22 km von C entfernten Unfallort gewesen sei. Der Versicherte habe mithin unter Zeitdruck gestanden und sei im Betriebsinteresse schneller gefahren, um mit möglichst geringer Verspätung in L einzutreffen. Obwohl nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. J bei einer hohen BAK die Hemmungs- und Steuerungsfähigkeit hochgradig eingeschränkt sei, was regelmäßig zu einem sorgloseren und wagnisbereiteren Verhalten führe, hatte jedoch der Versicherte die Sicherheitsgurte angelegt und, wie der Kraftfahrzeugverständige S betont habe, fahrtechnisch richtig reagiert, als er bemerkte, daß er nach links aus der Kurve herausgetragen werde. Dies beweise, daß hier für das schnelle Fahren nicht nur ein durch Alkoholeinwirkung bedingtes sorgloses, wagnisbereites Verhalten, sondern auch die Absicht, im Betriebsinteresse den Zeitverlust zu vermindern, entscheidend gewesen sei. Für die Höhe der Geschwindigkeit seien keine hinreichenden Anhaltspunkte vorhanden. Eine selbstgeschaffene Gefahr sei in dem schnellen Fahren nicht zu sehen. Neben der zum Teil betriebsbedingten hohen Geschwindigkeit habe auch der Straßenverlauf den Unfall rechtlich wesentlich mitverursacht. Hinsichtlich der Gestaltung der Unfallkurve stehe fest, daß sie infolge der Randbepflanzung mit Sträuchern und Bäumen nicht voll übersichtlich war und nach dem Gutachten des Kraftfahrzeugsachverständigen S sowie den Bekundungen des Zeugen S sich der Kurvenradius in Fahrtrichtung des Versicherten stetig verringerte. Bei symmetrischem Kurvenverlauf betrage die Kurvengrenzgeschwindigkeit 98 km/h. Die stetige Verringerung des Kurvenradius habe zur Folge, daß ein Kraftfahrer, der sich bei der Einfahrt in die Kurve mit seiner Fahrgeschwindigkeit auf den hier vorhandenen Kurvenradius einstelle, beim Durchfahren der Kurve im Bereich der stärksten Krümmung die dort zulässige Grenzgeschwindigkeit überschreite. Im Regelfalle werde der ortsunkundige Fahrer eine derart kurvenreiche Straße mit verminderter Geschwindigkeit befahren. Der Versicherte sei jedoch durch betriebsbedingten Zeitdruck veranlaßt worden, schneller zu fahren. Für die Mitursächlichkeit des Straßenverlaufs spreche ferner, daß nach den Ausführungen des Sachverständigen S kein auf Alkoholbeeinflussung hindeutender atypischer Kurvenunfall vorgelegen habe. Es habe sich vielmehr um einen alltäglichen Kurvenunfall infolge überhöhter Geschwindigkeit gehandelt, bei dem der Fahrer wegen der Fliehkraft in Schwierigkeiten gerate. Die Erwägung des Sachverständigen, daß ein erfahrener Fahrer in der Lage sei, den Kurvenverlauf sicherer einzuschätzen und aufgrund seiner Fahrerfahrung wirksamer zu reagieren, entfalle naturgemäß, wenn, wie im vorliegenden Fall, wegen betriebsbedingten Zeitdrucks ohnehin schon mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren werde. Für die Würdigung des Verhaltens des Verletzten sei bedeutsam, daß er, als er die Gefahr erkannt habe, nach links aus der Kurve herausgetragen zu werden, keine alkoholbedingte Fehlreaktion gezeigt habe. Anstatt scharf zu bremsen, habe er den Versuch unternommen, durch erhöhten Einschlag des Lenkrades gegenzusteuern und durch dosiertes Bremsen die Geschwindigkeit zu vermindern. Schließlich habe der Versicherte den Kraftwagen erst wenige Tage vor dem Unfall zur Verfügung gestellt erhalten. Bislang habe er ein um 23 PS schwächeres Fahrzeug gefahren. Mit dem Sachverständigen S sei davon auszugehen, daß der Versicherte mit dem Kurvenverhalten des neuen Wagens nicht schon voll vertraut gewesen sei, wobei hinzukomme, daß gerade das Fahren eines stärkeren Fahrzeuges leicht zum Schnellfahren verleite. Die tatsächlichen Feststellungen über die Bedingungen, die zum Zustandekommen des Unfalls des Versicherten beigetragen haben, ließen erkennen, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit ganz sicher rechtlich in der Weise mitgewirkt habe, daß der Versicherte mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve eingefahren sei. Daneben seien aber auch rechtlich wesentlich der betriebsbedingte Zeitdruck, die besondere Beschaffenheit der Unfallstelle und die Fahreigenschaften des neuen Geschäftswagens. Die Witterungsverhältnisse sowie die Unebenheiten der Fahrbahn in der Kurve seien dagegen unwesentliche Bedingungen für das Zustandekommen des Unfalls gewesen. Mängel am Fahrzeug hätten nicht bestanden. Durch den entgegenkommenden Zeugen S sei der Versicherte nicht nachweisbar behindert worden. Die Beklagte sei daher zur Gewährung der beantragten Hinterbliebenenrenten zu verurteilen gewesen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Tenor des angefochtenen Urteils begegne prozeßrechtlichen Bedenken. Dem im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Antrag sei nicht zu entnehmen, daß sich das Begehren der Kläger auf Witwen- und Waisenrente beschränkt habe. Vor dem SG sei von ihnen die Verurteilung zur Gewährung der Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung beantragt worden. Den gleichen Antrag hätten die Kläger auch im Berufungsverfahren gestellt. Falls die Revision keinen Erfolg haben sollte, müsse entweder die teilweise Unzulässigkeit der Berufung wegen der Ansprüche auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe ausgesprochen oder der Tenor mit den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils in Übereinstimmung gebracht werden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei weiter zu beanstanden, daß ihr die Niederschrift über die Vernehmung des Sachverständigen S vom 15. März 1973 nicht übermittelt worden sei. Nach dem Sitzungsprotokoll sei die Niederschrift zudem nicht den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt worden.
Die Feststellung des LSG, der Versicherte sei nicht infolge alkoholbedingter Enthemmung, sondern wegen betriebsbedingten Zeitdrucks besonders schnell gefahren, sei eine reine Vermutung. Da der Versicherte tot sei, bestehe keine Möglichkeit, irgendetwas darüber zu eruieren, weshalb er an der Unfallstelle besonders schnell gefahren sei. Angesichts der BAK von 2,7 0 / 00 verstoße es gegen die Logik und die Denkgesetze, die überhöhte Geschwindigkeit auf etwas anderes als die durch die BAK herbeigeführte Enthemmung des sich im Vollrausch befindlichen Versicherten zurückzuführen. Die Meinung des LSG über die Bewertung der Straßenkurve und deren Bedeutung für die Entstehung des Unfalls stehe im Widerspruch zum Akteninhalt. Danach sei die Kurve an der Unfallstelle nicht durch eine besondere Unfallhäufigkeit charakterisiert. Das LSG sei dadurch, daß es der Kurve eine rechtlich wesentliche Mitverursachung an dem Unfall beigemessen habe, von einem in Wirklichkeit nicht existierenden Erfahrungssatz ausgegangen und habe gegen die Logik und die Denkgesetze verstoßen. Bei logischer, konsequenter und sachgerechter Betrachtung könne es entgegen den Ausführungen des LSG gegenüber dem Ausmaß und den Auswirkungen der blutalkoholbedingten Enthemmung des Versicherten keine Rolle spielen, wenn er den um 23 PS stärkeren Kraftwagen tatsächlich erst seit wenigen Tagen vor dem Unfall gefahren habe. Das LSG hätte sich im übrigen nicht auf die entsprechenden Angaben des Versicherten verlassen dürfen, sondern hätte im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht den Arbeitgeber des Versicherten befragen müssen. Die Ermittlungen hätten wahrscheinlich ergeben, daß der Versicherte früher schon gleichstarke Wagen gefahren habe. Es entspreche auch der vom LSG außer acht gelassenen Erfahrung des täglichen Lebens, daß ein verständiger, pflichtbewußter, also nicht im Vollrausch befindlicher Kraftfahrer gerade dann besonders vorsichtig und verkehrsgemäß fahre, wenn er einen Kraftwagen zu steuern habe, mit dessen PS-Zahl und deren Auswirkungen er noch nicht hinreichend vertraut sei. Bei verfahrensmäßig rechtsirrtumsfreiem Vorgehen hätte das LSG zu dem Ergebnis kommen müssen, daß neben dem Vollrausch des Versicherten die betriebsbedingte Eile, der Zustand der Kurve und die mangelnde Vertrautheit mit dem Kraftwagen keine unfallversicherungsrechtliche Bedeutung als Mitursache an dem Unfall beizumessen sei. Das Problem der Verneinung jeglichen Versicherungsschutzes bei Volltrunkenheit eines Kraftfahrers sei im Hinblick auf die Herabsetzung der Blutalkoholgrenze für Kraftfahrer auf 0,8 0 / 00 seitens des Bundessozialgerichts (BSG) neu zu überdenken.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 15. März 1973 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG Lübeck vom 27. Oktober 1971 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 15. März 1973 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie tragen vor, daß sich das LSG bei der Prüfung der Statthaftigkeit der Berufung an das Sitzungsprotokoll der ersten Instanz gehalten habe. Daraus sei ersichtlich, daß die Klage auf die Hinterbliebenenrenten beschränkt worden sei. Auch aus der Berufungsbegründung und dem Sitzungsprotokoll der zweiten Instanz sei etwas anderes nicht zu entnehmen. Die Niederschrift über die Aussage des Sachverständigen S sei diesem vorgelesen und von ihm genehmigt worden. Ein Verfahrensverstoß liege insoweit nicht vor. Die Erwägungen des LSG zum Unfallgeschehen verstießen nicht gegen die Gesetze der Logik. Dem Vortrag, daß der Versicherte bei der zum Unfall führenden Fahrt unter betriebsbezogenem Zeitdruck gestanden habe, sei die Beklagte nicht entgegengetreten. Schon der erstinstanzliche Richter habe den Zeitdruck als unstreitig behandelt und den angebotenen Beweis nicht erhoben. Das Durchfahren einer Strecke von 22 km von Cloppenburg bis zur Unfallstelle in der Zeit von 18.00 Uhr bis 18.15 Uhr auf einer Landstraße zweiter Ordnung lasse zweifellos auf Zeitdruck schließen. Da widerspruchslos vorgetragen worden sei, daß der Versicherte um 18.00 Uhr zu einer Besprechung in Lohne verabredet gewesen sei, sei die Feststellung, daß der Versicherte im Betriebsinteresse den Zeitverlust durch schnelles Fahren habe aufholen wollen, fehlerfrei. Die Rüge, daß die Kurve unfallstatistisch nicht besonders auffällig sei, könne nicht durchgreifen, weil eine solche Statistik nicht existiere. Das LSG habe in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen S und dem maßstabgerechten Plan festgestellt, daß sich der Kurvenradius in Fahrtrichtung des Versicherten stetig verringere. Daraus habe sich das LSG zu Recht die Überzeugung gebildet, daß der Versicherte zunächst mit der ihm zulässig erscheinenden Grenzgeschwindigkeit in die Kurve hineingefahren sei und am Beginn der Verringerung des Kurvenradius in Schwierigkeiten geraten sei. Bei dem Unfall habe es sich um den typischen Geschehensablauf eines Unfalls durch Aus-der-Kurve-getragen-werden gehandelt. Es könne der Erfahrungssatz aufgestellt werden, daß die überwiegende Zahl vergleichbarer Unfälle so verlaufe. Hinsichtlich der mangelnden Vertrautheit des Versicherten mit dem am Unfalltag benutzten Kraftwagen habe sich das LSG auf die Angaben der Kläger verlassen können, denn die Beklagte habe diesen Punkt unstreitig werden lassen. Insoweit habe die Beibringungsmaxime der Zivilprozeßordnung (ZPO) zu gelten. Das LSG sei zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß der unternehmensfremde Alkoholgenuß nicht die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Die Einführung der Blutalkoholgrenze von 0,8 0 / 00 habe auf die Rechtsprechung zum Problem des Arbeitsunfalls bei Alkoholeinfluß keine Auswirkung.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Das LSG hat im angefochtenen Urteil nur über die Ansprüche der Kläger auf Witwen- und Waisenrente entschieden. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Auffassung des LSG zutrifft, die Kläger hätten bereits im erstinstanzlichen Verfahren ihr Begehren auf die Gewährung von Witwen- und Waisenrente beschränkt. Immerhin hatten sie in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 27. Oktober 1971 beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 1970 aufzuheben und ihnen Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Der Bescheid vom 28. Juli 1970 hatte ausdrücklich die Gewährung von Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Witwenrente an die Klägerin zu 1) sowie Waisenrente an die Kläger zu 2) bis 4) abgelehnt. Dies sind die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die nach § 589 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 RVO bei Tod eines Versicherten durch Arbeitsunfall in Betracht kommen (nach § 589 Abs. 1 Nr. 2 RVO auch noch Kosten für die Überführung des Verstorbenen an den Ort der Bestattung). Auch im Berufungsverfahren haben die Kläger wiederum beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 1970 (in der Sitzungsniederschrift vom 15. März 1973 mit falschem Datum: 14. April 1971) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen mit einem neuen Bescheid Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Eine Beschränkung nur auf Witwen- und Waisenrente ist hier ebenfalls nicht erkennbar. Das LSG hat jedoch ausschließlich über diese Leistungen entschieden. Damit steht allerdings der Urteilstenor in Widerspruch. Durch die Aufhebung des Bescheides vom 28. Juli 1970 ohne jede Einschränkung hat das LSG ihn nicht nur hinsichtlich der abgelehnten Ansprüche auf Witwen- und Waisenrente beseitigt, sondern darüber hinaus auch hinsichtlich der abgelehnten Ansprüche der Klägerin zu 1) auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe, ohne aber die Beklagte zur Gewährung dieser Leistungen an die Klägerin zu 1) zu verurteilen. Im Widerspruch zum Inhalt des angefochtenen Urteils steht der Urteilsausspruch auch insoweit, als er die Beklagte verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Damit sind regelmäßig alle in § 589 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 RVO bei Tod eines Versicherten durch Arbeitsunfall den Hinterbliebenen zuzuwendenden Leistungen zu verstehen. Da die Gründe des angefochtenen Urteils, die zur Auslegung eines unklaren Urteilstenors heranzuziehen sind (BSG 3, 135, 137; 4, 121, 123; 6, 97, 98; 14, 86, 88), hinreichend deutlich ergeben, daß das LSG nur über die Ansprüche auf Witwen- und Waisenrente entschieden hat, ist der Urteilsausspruch dahin zu lesen, daß der Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 1970 nur insoweit aufgehoben wird, als die Beklagte mit ihm die Gewährung von Witwen- und Waisenrente abgelehnt hat, und die Beklagte verurteilt wird, Witwen- und Waisenrente zu gewähren.
Es kann nach Zurückverweisung der Sache dem LSG überlassen bleiben, nochmals zu prüfen, ob die Kläger tatsächlich ihre Ansprüche beschränkt haben - mit dem Ergebnis, daß der Bescheid vom 28. Juli 1970 im übrigen bindend geworden ist (§ 77 SGG) - oder ob keine Beschränkung erfolgt ist und nur das LSG über die Ansprüche auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe (noch) nicht entschieden hat.
Die verfahrensrechtlichen Rügen in bezug auf die Vernehmung des Sachverständigen S sind nicht begründet. Nach § 122 Abs. 2 und 3 SGG (i. d. F. vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625) i. V. m. den §§ 160 Abs. 2 Nr. 3, 162 Zivilprozeßordnung - ZPO - (i. d. F. vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Entlassung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974 - BGBl I 3651) muß die Niederschrift über die Aussage eines Sachverständigen diesem und den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt werden. In dem Protokoll ist zu vermerken, daß dies geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben sind (SozR Nr. 6 zu § 122 SGG). Nach dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 15. März 1973 ist die Niederschrift der Bekundungen des Sachverständigen S sowohl diesem als auch den Beteiligten vorgelesen und von ihnen genehmigt worden. Es mag sein, daß die Beklagte den entsprechenden Protokollvermerk auf Bl. 144 der Akten des LSG übersehen hat. Daß die Niederschrift über die Vernehmung des Sachverständigen S der Beklagten nicht in Abschrift zugegangen ist, stellt keinen Verfahrensmangel dar.
Das LSG ist bei der sachlich-rechtlichen Beurteilung des Falles zutreffend zunächst davon ausgegangen, daß der verstorbene Versicherte infolge eines nicht betriebsbedingten Alkoholgenusses bei einer BAK von 2,7 0 / 00 fahruntüchtig war. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG, wonach mit dem Erreichen des Grenzwertes von 1,3 0 / 00 jeder Kraftfahrer - unabhängig von sonstigen Beweisanzeichen - absolut fahruntüchtig ist (BSG 34, 261 im Anschluß an BGHSt 21, 157). Entgegen der Ansicht der Beklagten besteht kein Anlaß, den Grenzwert schon mit 0,8 0 / 00 anzunehmen, nur weil die Führung eines Kraftfahrzeuges mit einer Alkoholmenge von 0,8 0 / 00 im Blut oder einer Alkoholmenge im Körper des Kraftfahrers, die zu einer solchen BAK führt, jetzt nach § 24 a Abs. 1 StVG(i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des StVG vom 20. Juli 1973 - BGBl I 870) als Ordnungswidrigkeit geahndet wird. Das Gutachten des Bundesgesundheitsamts "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (Kirschbaum-Verlag 1966, bearbeitet von Lundt und Jahn), auf dessen Empfehlung die Einführung des "Gefahrengrenzwertes" von 0,8 0 / 00 beruht, geht ausdrücklich davon aus, daß im Einzelfall eine Fahrunsicherheit nicht nachgewiesen zu werden brauche (vgl. Gutachten S. 47). Die auf Alkoholgenuß zurückzuführende absolute Fahruntüchtigkeit schließt den Versicherungsschutz - abgesehen vom Vollrausch - nur aus, wenn sie die rechtlich allein wesentliche Unfallursache im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm gewesen ist (BSG 12, 242, 245; 13, 9, 11; 14, 64, 66; 18, 101, 103; 34, 261, 262; 38, 127, 128). Ein Vollrausch hat bei dem verstorbenen Versicherten nicht vorgelegen. Die BAK von 2,7 0 / 00 reicht für die Annahme eines solchen Zustandes nicht aus (vgl. Patscheider "Hohe Blutalkoholkonzentration im Straßenverkehr" in Blutalkohol 1975, 291, 292). Im Vollrausch befindet sich ein Versicherter, wenn die Alkoholeinwirkung ihm jede Arbeitsleistung schlechthin unmöglich macht, er somit arbeitsunfähig ist (vgl. BSG 3, 116, 118; 12, 242, 245). Ein Kraftfahrer aber, der wie der verstorbene Versicherte sein Fahrzeug noch fahren, wenn auch infolge des Alkoholgenusses nicht mehr verkehrssicher führen konnte, ist einem im Zustand des Vollrausches befindlichen Versicherten nicht gleichzustellen (BSG 12 aaO).
Nach Meinung des LSG war die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit im vorliegenden Fall nicht die allein wesentliche Ursache des Unfalls, weil nicht habe festgestellt werden können, daß der Ehemann und Vater der Kläger im nüchternen Zustand wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. In Fällen der hier vorliegenden Art, in denen neben der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit andere anteilige Unfallursachen als erwiesen angesehen werden sind, bedarf es der Abwägung, ob die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit gegenüber den anderen Unfallursachen als die rechtlich allein wesentliche Ursache zu werten ist (BSG 18, aaO). Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Unfallursache, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß diese als rechtlich nicht wesentliche Mitursachen für die Frage der Verursachung unberücksichtigt bleiben müssen (BSG 12, 242, 245; 18, 101, 103; 34, 261, 262; 8. Senat 38, 127, 128).
In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG als Ursachen des Unfalls neben der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit festgestellt: eine infolge betriebsbedingten Zeitdrucks überhöhte Geschwindigkeit, den in Fahrtrichtung sich verringernden Radius der Kurve, an deren Ausgang es zum Unfall gekommen war, und das mangelnde Vertrautsein des verstorbenen Versicherten mit dem Kurvenverhalten des am Unfalltage benutzten firmeneigenen Kraftwagens. In bezug auf die letzten drei Feststellungen hat die Beklagte keine durchgreifenden Revisionsrügen vorgebracht. Sie beschränkt sich darauf zu behaupten, das LSG sei von in Wirklichkeit nicht existierenden Erfahrungssätzen ausgegangen und habe gegen die Logik und die Denkgesetze verstoßen, ohne dies näher darzulegen. Das Gericht ist im Revisionsverfahren an die tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 163 SGG), selbst wenn es sie durch die Beweisaufnahme nicht für gerechtfertigt halten sollte.
Entscheidend für die Aufhebung des angefochtenen Urteils ist die Fehlerhaftigkeit der im rechtlichen Bereich liegenden und daher im Revisionsverfahren voll nachprüfbaren Beurteilung, ob neben der vom LSG als rechtlich wesentlich bezeichneten Unfallursache der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit auch die festgestellten unternehmensbezogenen sonstigen Umstände für das Zustandekommen des Unfalls rechtlich wesentliche Mitursachen gewesen sind. Eine solche Beurteilung setzt eine abwägende Wertung der einzelnen Ursachen unter Berücksichtigung des Schutzgedankens der anzuwendenden Rechtsnorm voraus (BSG 12, 242, 246; 18, 101, 103, 105; 38, 127, 129). Das LSG hat dies zwar im Grundsatz nicht verkannt, jedoch eine ausreichende Abwägung nicht vorgenommen, insbesondere auch nicht die dafür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen.
Bei der vorzunehmenden wertenden Abwägung spielt das Ausmaß der Alkoholeinwirkung eine wesentliche Rolle (BSG 18, 101, 105). Denn die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit erhält ein qualitativ stärkeres Gewicht, je höher die BAK ist, da die Leistungseinbußen beim Kraftfahrer mit steigender BAK zunehmen. Das LSG hat sich über diese Zusammenhänge keine Aufklärung verschafft und auch nicht dargelegt, daß es die erforderlichen Kenntnisse selbst besitzt (BSG 21, 230, 234; SozR Nr. 33 zu § 103 SGG). Die Ausführungen des vom SG gehörten medizinischen Sachverständigen Dr. J, daß die Hemmungs- und Steuerungsfähigkeit des Versicherten hochgradig eingeschränkt gewesen sei und er sich in einem Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit befunden habe, reichen für eine abwägende Beurteilung nicht aus, auch wenn das LSG den Ausführungen des Sachverständigen hinzugefügt hat, daß ein solcher Zustand regelmäßig ein sorgloseres, wagnisbereites Verhalten zur Folge habe. Im vorliegenden Fall war eine wertende Beurteilung der einzelnen Unfallursachen ohne ein ausführliches verkehrsmedizinisches Gutachten nicht möglich. Nur dadurch hätte sich das LSG die Kenntnisse verschaffen können und müssen, in welchem Maße der verstorbene durch die hohe BAK von 2,7 0 / 00 in seiner Fahrtauglichkeit beeinträchtigt war. Die umfangreiche Alkoholforschung, insbesondere das Gutachten des Bundesgesundheitsamts (aaO), hat gezeigt, daß die Alkoholwirkung die gesamte Breite der Faktoren der Fahrtüchtigkeit erfaßt (vgl. S. 42 ff des Gutachtens). Das beginnt (vgl. Kaufmann "Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit" in Blutalkohol 1975, 301, 30 4 ff) mit Wirkungen auf die optische Wahrnehmungsfähigkeit (Beeinträchtigung des Raumsinnes, Unterschätzung von Entfernungen und Geschwindigkeiten, Einengung des Gesichtsfeldes, Augenzittern). Der alkoholisierte Fahrer hat Schwierigkeiten, die schon schlechte Wahrnehmung zu verarbeiten und auszuwerten. Auffassungsgabe und Aufmerksamkeit sind gestört, der Fahrer muß sich auf die einfachsten Funktionen, die oft automatisch ablaufen, konzentrieren. Dabei wird seine Leistungsfähigkeit voll in Anspruch genommen; für schwierigere Reaktionen ist kein Leistungspotential verfügbar. Geschwindigkeit, Genauigkeit und Stetigkeit der Reaktionen sind herabgesetzt. Die Entscheidungsfreudigkeit sinkt. Antriebssteuerung und die Fähigkeit, die einzelnen beim Fahren beteiligten Kräfte zu koordinieren, sind gestört. Das beruht auf einer Beeinträchtigung des gesamten zentralen Regulationssystems. Zu diesen Leistungsminderungen treten Persönlichkeitsänderungen hinzu. Der alkoholisierte Kraftfahrer überschätzt seine herabgesetzten Fähigkeiten, er wird nachlässig, sorglos und enthemmt. Er erkennt nicht die Gefahr, sondern meint vielmehr, daß er noch voll leistungsfähig sei und verhält sich dementsprechend. Der Fahrer geht ein größeres Risiko ein, welches er nicht beherrschen kann (vgl. auch Mueller, Gerichtliche Medizin, 2. Auflg. S. 1026 f).
Falls das LSG im Verfahren nach Zurückverweisung erneut zu der tatsächlichen Feststellung gelangen sollte, daß der Ehemann und Vater der Kläger aus betriebsbedingter Eile mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist, die Kurve, an dessen Ausgang sich der Unfall ereignete, in Fahrtrichtung des Versicherten einen sich verringernden Radius hatte, was durch entsprechende Maß angaben bisher nicht dargetan ist, und der Versicherte mit dem von ihm benutzten Kraftwagen nicht vertraut war, wird es einem verkehrsmedizinischen Sachverständigen Gelegenheit zu geben haben, aus seiner Sicht darzulegen, inwieweit alkoholbedingte Leistungseinbußen und Persönlichkeitsänderungen zum Unfallgeschehen beigetragen haben. Er wird u. a. auch dazu Stellung nehmen können, wie das Verhalten des Versicherten verkehrsmedizinisch zu beurteilen ist, der in alkoholisiertem Zustand (BAK 2,7 0 / 00 ) mit einem Kraftwagen, dessen Kurvenverhalten ihm angeblich nicht vertraut war, in eine durch Randbepflanzung mit Bäumen und Sträuchern nicht voll übersichtliche Kurve mit der für den Kurveneinlauf gerade noch möglichen Grenzgeschwindigkeit hineinfährt, insbesondere ob es sich dabei um einen auf Alkoholbeeinflussung hindeutenden Kurvenunfall gehandelt hat oder nicht (zum Versagen alkoholisierter Kraftfahrer beim Durchfahren von Kurven(vgl. Mueller aaO S. 1026). Die Ausführungen eines hierfür qualifizierten Sachverständigen werden das LSG in die Lage versetzen zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung des Schutzzweckes der anzuwendenden Rechtsnorm die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die beherrschende Unfallursache war oder ob daneben noch andere Ursachen den Unfall rechtlich wesentlich mitbedingt haben.
Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen