Leitsatz (amtlich)

AVG § 24 Abs 2 (= RVO § 1247 Abs 2) enthält alternativ 2 Tatbestände, die Erwerbsunfähigkeit zu begründen vermögen. Kann der Versicherte eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben, sind also die Voraussetzungen des AVG § 24 Abs 2 Alternative 1 gegeben, so liegt Erwerbsunfähigkeit vor; es bedarf dann keiner Prüfung der Frage, ob der Versicherte nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (AVG § 24 Abs 2 Alternative 2). Kann der Versicherte seine Erwerbstätigkeit noch in gewisser Regelmäßigkeit ausüben, sind also die Voraussetzungen des AVG § 24 Abs 2 Alternative 1 nicht gegeben, so sind auch die Voraussetzungen des AVG § 24 Abs 2 Alternative 2 zu prüfen; die Voraussetzungen des AVG § 24 Abs 2 Alternative 2 können auch dann erfüllt sein, wenn der Versicherte noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben, aber nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann. Läßt sich nicht feststellen, daß ein nur noch beschränkt Erwerbsfähiger - obwohl er dies will - mit der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann, so sind die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit iS des AVG § 24 Abs 2 ebenfalls erfüllt. (Fortführung BSG 1963-05-28 12/4 RJ 142/61 = BSGE 19, 147).

 

Normenkette

AVG § 24 Abs. 2 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 24 Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1247 Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1247 Abs. 2 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 1963 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Mit Bescheid vom 4. Mai 1959 gewährte die Beklagte dem Kläger, geboren am 24. August 1914, vom 1. September 1958 an Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit der Klage begehrte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe zog die Versorgungsakten und mehrere ärztliche Gutachten und Befunde bei; durch Urteil vom 30. Mai 1961 wies das SG die Klage ab. Die Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 26. Februar 1963 zurück: Nach den ärztlichen Gutachten sei der Kläger, obwohl er Versorgungsrente wegen der Folgen einer Gehirnerschütterung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. beziehe und unter Berücksichtigung auch seiner sonstigen Gesundheitsstörungen fähig, eine Erwerbstätigkeit von wenigstens drei Stunden täglich noch mit gewisser Regelmäßigkeit auszuüben, und zwar sowohl in seinem bisherigen Beruf als technischer Zeichner als auch mit leichten körperlichen Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes; Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung bedeute dasselbe wie "volle Erwerbsunfähigkeit" in der Unfallversicherung, also den vollen Verlust der Fähigkeit, die Arbeitskraft wirtschaftlich zu verwerten; diese Voraussetzung sei jedenfalls nicht erfüllt, solange - wie bei dem Kläger - die Leistungsfähigkeit noch mindestens 20 v. H. der Leistungsfähigkeit eines gesunden Versicherten betrage; da der Kläger sonach nicht die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 1. Alternative, erfülle, komme es auf die Frage, ob er durch Erwerbstätigkeit nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen könne (§ 24 Abs. 2 AVG, 2. Alternative), nicht an; der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 24 Abs. 2 AVG sei nur zu bejahen, wenn der Versicherte weder einer Erwerbstätigkeit noch mit gewisser Regelmäßigkeit nachgehen noch mit einer Erwerbstätigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen könne; wenn ein berufsunfähiger Versicherter trotz seines geminderten Leistungsvermögens noch einer Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nachgehen könne, komme es auch nicht darauf an, ob für ihn geeignete Arbeitsstellen vorhanden seien; es sei nicht Aufgabe der Sozialversicherungsträger und der Gerichte, einem in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten Arbeitsstellen nachzuweisen, dazu seien die Sozialversicherungsträger und die Gerichte auch gar nicht in der Lage; es bleibe der Initiative des Versicherten überlassen, wie er die verbliebene Arbeitskraft nutzen wolle. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 15. März 1963 zugestellt.

Am 22. März 1963 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist begründete er die Revision am 17. Mai 1963: Erwerbsunfähig im Sinne von § 24 AVG sei ein Versicherter schon dann, wenn er zwar wegen seines Leidenszustandes noch im gewissen Umfang arbeiten, einen Arbeitsplatz aber wegen dieses Leidenszustandes nicht mehr finden könne, weil es für ihn geeignete Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebe; insoweit habe das LSG noch Ermittlungen anstellen müssen und es habe diese Ermittlungen auch mit Aussicht auf Erfolg anstellen können.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.

II.

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.

Das LSG hat festgestellt, der Kläger - der bereits Rente wegen Berufsunfähigkeit bezieht - sei trotz seiner Wehrdienstbeschädigung und seiner sonstigen Leiden nach den ärztlichen Gutachten fähig, wenigstens noch drei Stunden täglich in gewisser Regelmäßigkeit eine Erwerbstätigkeit in seinem früheren Beruf oder durch leichte körperliche Arbeiten auf dem "allgemeinen Arbeitsmarkt" auszuüben. Gegen diese Feststellung sind Revisionsrügen nicht geltend gemacht, sie ist daher für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG). Das LSG hat aber nicht allein schon auf Grund dieser Tatsache zu dem Ergebnis kommen dürfen, der Kläger sei nicht erwerbsunfähig im Sinne von § 24 Abs. 2 AVG. Nach dieser Vorschrift ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Das bedeutet nicht - wie das LSG meint -, daß erwerbsunfähig ist, wer weder die Voraussetzungen der 1. Alternative noch die Voraussetzungen der 2. Alternative dieser Vorschrift erfüllt. Durch das Wort "oder" unterscheidet das Gesetz alternativ zwei Tatbestände, die Erwerbsunfähigkeit zu begründen vermögen; Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG darf deshalb nicht schon dann verneint werden, wenn die 1. Alternative des § 24 Abs. 2 AVG nicht vorliegt. In dem Urteil des BSG vom 28. Mai 1963 (BSG 19, 147 ff., 151) ist deshalb zutreffend gesagt, daß es zwar dann, "wenn der Kläger die Voraussetzungen der 1. Alternative des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= § 24 Abs. 2 AVG) erfüllt", wenn er also eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht ausüben kann, nicht der Prüfung bedarf, ob die Voraussetzungen der 2. Alternative vorliegen, daß aber dann, wenn die Voraussetzungen der 1. Alternative nicht vorliegen, wenn also der Kläger - wie im vorliegenden Fall - eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit noch ausüben kann, weiter zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen der 2. Alternative dieser Vorschrift erfüllt sind. Die Voraussetzungen der 2. Alternative können auch dann erfüllt sein, wenn ein Versicherter noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben kann. Das Gesetz sagt nicht, erwerbsunfähig sei der Versicherte, der "eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben" oder "durch Erwerbstätigkeit keine Einkünfte mehr erzielen kann"; es verlangt nicht "volle" Erwerbsunfähigkeit. Erwerbsunfähig ist deshalb auch der Versicherte, der zwar noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben kann, der aber nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann, sei es nun, weil seine Kräfte für den Erwerb höherer Einkünfte nicht ausreichen, sei es, weil es Stellen, in denen er mit den ihm verbliebenen Kräften noch erwerbstätig sein kann, nicht gibt. Dabei kommen - wie es in dem Urteil BSG 19, 147 ff, 149, 151 zutreffend dargelegt ist - in der Regel nur Tätigkeiten in abhängiger Stellung in Betracht und es scheiden Tätigkeiten aus, für die es freie oder besetzte Arbeitsplätze in zumindest nennenswerter Zahl am Wohnort oder in dessen näherer, täglich zu erreichender Umgebung nicht gibt. Ob solche Erwerbsmöglichkeiten vorhanden sind, haben die Rentenversicherungsträger und im Streitfall die Gerichte jeweils nach den Umständen des Einzelfalles zu prüfen und festzustellen; es bleibt nicht, wie das LSG meint, der "Initiative" des Versicherten überlassen, "wie er die verbliebene Arbeitskraft nutzen will". Der Versicherte hat nicht das Risiko zu tragen, daß er die verbliebene Arbeitskraft durch "Erwerbstätigkeit" möglicherweise - obwohl er dies will - nicht nutzen und mehr als nur geringfügige Einkünfte nicht mehr "erwerben" kann.

Bei der Rechtsanwendung darf der "Plan des Gesetzgebers", nach dem Gebiete des gesellschaftlichen Lebens geordnet und durch Gesetzesbegriffe umschrieben sind, nicht außer acht bleiben (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1963, BSG 20, 41, 43, ferner Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen, Archiv des Öffentlichen Rechts, Bd. 82, 1957, 163 ff, 168). Nach dem "Plan", auf dem das System der sozialen Sicherung in Deutschland beruht, soll der Versicherte gerade das Risiko insbesondere des Alters, der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nicht selbst tragen, dieses Risiko wird ihm durch das Altersruhegeld und die Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit abgenommen. Es trifft nicht zu, daß der Rentenversicherungsträger und im Streitfall die Gerichte Feststellungen darüber, ob für einen in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten noch Erwerbsmöglichkeiten vorhanden sind, nicht treffen können. Solche Feststellungen werden zwar oft nicht einfach zu treffen sein, es ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sich die Sozialversicherungsträger und die Gerichte Unterlagen hierfür beschaffen und sich eine Überzeugung bilden können. In manchen Fällen wird bereits eine Auskunft des zuständigen Arbeitsamts darüber Aufschluß geben; auch wenn sich die Arbeitsämter in ihrer Vermittlungstätigkeit in der Hauptsache auf die Vermittlung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einstellen, so liegt es doch nicht außerhalb ihres Aufgabenbereichs, auch Arbeitskräfte, die nur beschränkt einsatz- und erwerbsfähig sind, in die Vermittlungstätigkeit einzubeziehen (vgl. dazu Buchwitz, in "Die Arbeiterversorgung" 1964, 57, 59; 61 bis 63 und "Richtlinien für die Arbeitsvermittlung", herausgegeben vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, September 1962, Nr. 10, 12, 31 ≪1≫); die Arbeitsämter sind jedenfalls in der Lage zu übersehen, ob und inwieweit in ihrem Bereich überhaupt Erwerbsmöglichkeiten für beschränkt Erwerbsfähige vorhanden sind; darüber hinaus können für ihren örtlichen Bereich möglicherweise auch Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, Hauptfürsorgestellen sowie Gewerbeaufsichtsämter Auskünfte geben. Soweit die Rentenversicherungsträger und die Gerichte solche Ermittlungen anzustellen haben, werden sie damit nicht "gewissermaßen als Arbeitsamt" für die in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten tätig, sie haben nicht - wie die Arbeitsämter - Arbeitsuchenden freie Arbeitsstellen nachzuweisen, sie haben vielmehr nur sich selbst ein Bild über die Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen, die auf dem Arbeitsmarkt allgemein und (oder) in bestimmten beruflichen Tätigkeiten für die in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten bestehen, weil davon die Entscheidung über das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 24 Abs. 2 AVG abhängt. Sind solche geeignete Erwerbsmöglichkeiten vorhanden, dann kann der Versicherte nicht als erwerbsunfähig angesehen werden, es bleibt dann ihm überlassen, ob er diese Möglichkeiten nutzt. Läßt sich dagegen nicht feststellen, daß für einen in der Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten Erwerbsmöglichkeiten vorhanden sind, durch die er "mehr als nur geringfügige Einkünfte" erzielen kann, so ist davon auszugehen, daß die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 24 Abs. 2 AVG gegeben sind.

Das LSG hat sonach im vorliegenden Falle § 24 Abs. 2 AVG möglicherweise unrichtig angewandt, weil es nicht geprüft hat, ob der Kläger durch eine Erwerbstätigkeit von drei Stunden täglich - sei es in seinem zuletzt ausgeübten Beruf als technischer Zeichner oder in seinem früher lange Jahre hindurch ausgeübten Beruf als gelernter Mechaniker, sei es durch andere Tätigkeiten, die er nach den Feststellungen des LSG auf dem "allgemeinen Arbeitsmarkt" ausüben kann - mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben.

Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen, auf die es insoweit ankommt, fehlen. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325460

BSGE, 133

NJW 1964, 1874

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