Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrente bei Vollendung des 27. Lebensjahres. Bestreiten des Lebensunterhaltes. Unterhaltssicherung. angemessener Unterhalt. tarifliche Entlohnung. tatsächliche Arbeitstätigkeit. Aufklärungspflicht des Vorsitzenden
Orientierungssatz
1. Zur Frage, ob für eine gebrechliche Waise, die vor und nach Vollendung des 27. Lebensjahres insgesamt 15 Monate eine Halbtagsbeschäftigung gegen vollen Tariflohn ausgeübt hat, ein Anspruch auf Weiterzahlung der Waisenrente über das 27. Lebensjahr hinaus, besteht.
2. SGG § 112 Abs 2 S 2 beinhaltet auch, daß die Beteiligten über die Sach- und Rechtslage Aufklärung erhalten und mit ihnen die rechtliche Bedeutung ihres Vorbringens erörtert wird. Der Vorsitzende hat auch im Interesse einer sachgemäßen Entscheidung dagegen Vorsorge zu treffen, daß einem Beteiligten durch bloßes Übersehen oder ein unvollständiges Prozeßbegehren Nachteile entstehen. Es soll vermieden werden, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die sie in Verkennung der Rechtslage nicht erwartet haben, wozu sie aber bei rechtzeitiger Erkennung der Erheblichkeit Tatsachen vorgebracht hätten.
Normenkette
BVG § 45 Abs 3 S 1 Buchst c Fassung: 1971-01-25; BGB § 1602 Abs 1 Fassung: 1896-08-18, § 1610; SGG § 112 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.03.1978; Aktenzeichen L 9 V 376/77) |
SG Stade (Entscheidung vom 23.03.1977; Aktenzeichen S 1 Vs 144/76) |
Tatbestand
I
Die am 17. Mai 1944 geborene Klägerin hatte nach dem Tode ihres gefallenen Vaters bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente bezogen. Sie begehrt deren Wiedergewährung wegen Gebrechlichkeit.
Die Klägerin leidet an einem chronischen Nervenleiden (Schizophrenie mit leichter Debilität). Sie war nach dem Besuch der Sonderschule mit Unterbrechungen als Packerin, Lagerarbeiterin und ua von Januar 1971 bis April 1972 halbtags als Ladenhilfe beschäftigt. Ihren Waisenrentenantrag lehnte die Versorgungsverwaltung mit der Begründung ab, die Klägerin sei bei Vollendung des 27. Lebensjahres nicht gebrechlich gewesen (Bescheid vom 16. Juni 1976, Widerspruchsbescheid vom 8. November 1976).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin sei bei Vollendung des 27. Lebensjahres in der Lage gewesen, ihren angemessenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie sei bei der Beschäftigungsfirma auf eigenen Wunsch und nur deswegen ausgeschieden, um die Pflege ihrer Mutter zu übernehmen. Dem Umstand, daß die Klägerin keine vollwertige Arbeitskraft gewesen sei, komme keine Bedeutung zu, da sie vollen Tariflohn erhalten habe.
Die Klägerin rügt mit der zugelassenen Revision die unrichtige Rechtsanwendung. Für die Frage, ob sie die Mittel für ihre Existenzsicherung mit eigenen Kräften habe erwerben können, sei nicht die Tatsache ihrer Beschäftigung, sondern ihre Fähigkeit zur Erwerbsarbeit wichtig gewesen. An diesen Fähigkeiten habe es gefehlt. Sie habe den Weg von und zur Arbeitsstelle nur in Begleitung zurücklegen können und habe bei der Arbeit ständiger Aufsicht und Mithilfe bedurft. Die hierzu gemachten Beweisangebote seien deutlich genug gewesen, um als Beweisanträge gewertet werden zu können. Unschwer sei zu erkennen gewesen, daß der Geschäftsführer sowie die Arbeitskollegen als Zeugen bezeichnet werden sollten. Insoweit sei die Fragepflicht nach § 112 Abs 2 Satz 2 iVm § 153 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Zudem habe das LSG die für die Entscheidung naheliegenden Beweise nicht erhoben. Auf diesen Verfahrensmängeln beruhe das Urteil. Ferner habe das LSG angenommen, die Klägerin sei "offenbar" ausgeschieden, um die Pflege der Mutter zu übernehmen. Dafür habe es keine beweiskräftigen Feststellungen getroffen und den abweichenden Sachvortrag der Klägerin unberücksichtigt gelassen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade zurückzuweisen.
Der Beklagte stellt keinen förmlichen Antrag.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen. Das Berufungsurteil beruht auf erfolgreich gerügten Verfahrensmängeln.
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin auf Waisenrente verneint. Es hat die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs 3 Buchst c des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als nicht gegeben erachtet. Maßgebend für die Beurteilung des Waisenrentenanspruches ist das ab Antragstellung - August 1974 - geltende Recht (BSG SozR Nr 13 zu § 45 BVG). Nach der vorgenannten Gesetzesvorschrift idF des 3. NOG-KOV vom 28. Dezember 1966 (Bundesgesetzblatt I S 750) und des Gesetzes zur Änderung sozialrechtlicher und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder vom 25. Januar 1971 (Bundesgesetzblatt I S 65) ist Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres für eine Waise zu gewähren, die infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen spätestens bei Vollendung des 27. Lebensjahres außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, solange dieser Zustand dauert. Sonach wird neben der Gebrechlichkeit der Waise (vgl BSGE 14, 83, 84 = SozR Nr 3 zu § 1267 der Reichsversicherungsordnung -RVO-; 19, 245 = SozR Nr 9 zu § 1267 RVO) gefordert, daß sie als deren Folge außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Wie aus der Wortwahl "bei Vollendung des 27. Lebensjahres" hervorgeht, müssen die genannten Voraussetzungen der Gebrechlichkeit sowie des Unvermögens der Existenzsicherung bereits zu diesem Zeitpunkt vorliegen (BSGE 17, 35).
Nach den nicht angefochtenen und somit für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist die Klägerin infolge des bestehenden chronischen Nervenleidens gebrechlich. Jedoch sei, so meint das LSG, infolge der vor und nach Vollendung des 27. Lebensjahres insgesamt 15 Monate lang ausgeübten Halbtagsbeschäftigung als Verkaufshilfe in einem Lebensmittelgeschäft gegen vollen Tariflohn erwiesen, daß die Klägerin für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen könne. Darauf, daß sie nach Auskunft des Arbeitgebers keine vollwertige Arbeitskraft gewesen sei, habe es nicht anzukommen. Ebensowenig habe ein mißglückter Arbeitsversuch vorgelegen. Die Klägerin habe ihr Arbeitsverhältnis "offenbar" gelöst, um die Pflege ihrer Mutter, die an Multipler Sklerose leide, zu übernehmen. Diese Erwägungen sind nicht geeignet, die in der Sache zu treffende Entscheidung zu tragen.
Das Berufungsgericht hätte bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhaltes nicht allein darauf abstellen dürfen, daß die Klägerin als Verkaufshilfe tariflich entlohnt worden ist. Das LSG hat zwar richtig erkannt, daß die Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht allein einem ärztlichen Sachverständigen obliegt. Den erhobenen Befunden ist nicht ein solches Gewicht beizumessen, daß eine tatsächliche Arbeitstätigkeit demgegenüber völlig belanglos wäre (BSG SozR 2200 § 1267 Nr 12). Jedoch hatten nicht nur mehrere ärztliche Sachverständige (Medizinaldirektor Dr. R und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G ) ein ausreichendes Erwerbsvermögen der Klägerin in der maßgeblichen Zeit in Abrede gestellt. Vielmehr hat auch die Arbeitgeberfirma die Auskunft erteilt, die Klägerin sei keine vollwertige Arbeitskraft und nicht in der Lage gewesen, eine volle Woche durchzustehen. Zudem hatte die Klägerin in der Berufungsinstanz vorgetragen, sie habe den Weg von und zur Arbeitsstelle nur in Begleitung zurücklegen können; sie habe am Arbeitsplatz unter ständiger Aufsicht gestanden; sie sei auch nur zu einfachen Handreichungen herangezogen worden; zudem habe ihr Stiefvater selbst mindestens viermal nach Absprache mit dem Geschäftsführer der Firma bei Inventuraufnahmen für die Klägerin einspringen müssen. Dieses Vorbringen ist nach § 45 Abs 3 Buchst c BVG erheblich. Der Pfleger der Klägerin hatte sich im Berufungsverfahren bereit erklärt, "auf Hinweis des Gerichts entsprechende Beweisangebote zu machen".
Diese Beweisangebote waren in ihrer Aussage so eindeutig, daß sie als Beweisanträge iSd § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zu gelten haben. Aus ihnen war das Beweisthema ohne weiteres erkennbar. Die Klägerin beruft sich auf den Geschäftsführer sowie die Arbeitskollegen, woraus zu folgern ist, daß diese als Zeugen benannt werden sollten. Die Benennung der Anschriften war entbehrlich, weil sie dem LSG aus den Versorgungsakten bekannt sein mußten. Demnach hätte das Berufungsgericht ohne ein Dazutun der Klägerin die erforderlichen Beweiserhebungen durchführen können. Wenn es hiervon abgesehen hat, liegt darin ein wesentlicher Mangel im Verfahren (§ 103 SGG).
Ferner hat das LSG die ihm nach § 112 Abs 2 Satz 2 iVm § 153 SGG obliegende Fragepflicht verletzt, Danach hat der Vorsitzende das Sachverhältnis und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern und dahin zu wirken, daß sie sich über erhebliche Tatsachen vollständig erklären sowie angemessene und sachdienliche Anträge stellen. Dazu gehört, daß die Beteiligten über die Sach- und Rechtslage Aufklärung erhalten und mit ihnen die rechtliche Bedeutung ihres Vorbringens erörtert wird. Art und Umfang der Erörterungen werden wesentlich bestimmt durch die persönlichen Verhältnisse der Beteiligten, deren Gewandtheit und Fähigkeit, die Sach- und Rechtslage zu übersehen und die nötigen Folgerungen daraus zu ziehen. Der Vorsitzende hat auch im Interesse einer sachgemäßen Entscheidung dagegen Vorsorge zu treffen, daß einem Beteiligten durch bloßes Übersehen oder ein unvollständiges Prozeßbegehren Nachteile entstehen (vgl BGH NJW 1975, 1744, 1745). Es soll vermieden werden, das die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die sie in Verkennung der Rechtslage nicht erwartet haben, wozu sie aber bei rechtzeitiger Erkennung der Erheblichkeit Tatsachen vorgebracht hätten (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm 4 zu § 122 SGG).
Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht von dem in SozR 1500 § 160 Nr 13 veröffentlichten Beschluß ab. Dort ist entschieden worden, daß ein in der Tatsacheninstanz unterbliebener Beweisantrag nicht über den Umweg des § 106 Abs 1 und des § 112 Abs 2 Satz 2 SGG zur Zulassung der Revision führen kann. Die Prozeßlage, die hier zu beurteilen ist, unterscheidet sich dadurch, daß vorliegendenfalls von gestellten Beweisanträgen auszugehen ist, die allenfalls noch zu vervollständigen waren.
Das Berufungsgericht wird die aufgezeigten Ermittlungen anzustellen haben. Es darf allerdings bei der gebotenen Prüfung nicht mehr von derselben Rechtsgrundlage ausgehen, die es seiner - aufgehobenen - Entscheidung zugrunde gelegt hat.
§ 45 BVG unterscheidet für die Gewährung der Waisenrente drei Zeitabschnitte: Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres erhält die Waise unabhängig von einer Erwerbstätigkeit stets Rente. Für den folgenden Zeitabschnitt bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres ist hingegen von Bedeutung, daß die Waise infolge der in § 45 Abs 3 BVG genannten Gründe außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und deswegen nach der im Versorgungsrecht typisierenden Betrachtungsweise davon ausgegangen werden kann, daß sie ohne den Tod des schädigungsbedingt verstorbenen Elternteils weiterhin von diesem unterhalten worden wäre. Für die Bewilligung der Waisenrente über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus ist Voraussetzung, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Vollendung des maßgeblichen Lebensjahres zur Existenzerhaltung außerstande ist. Entsprechend dieser Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente (vgl BVerfGE 17, 1, 10; 25, 167, 195; 28, 324, 348) liegt es nahe, an den Begriff der Unterhaltsberechtigung iSd allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften (§ 1602 Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-) anzuknüpfen (vgl das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des 4. Senats vom 29. Mai 1979 - 4 RJ 33/78 -). Denn auch dort ist unterhaltsberechtigt nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Folglich kann hinsichtlich der Höhe des Unterhaltsanspruchs auf die entsprechenden zivilrechtlichen Vorschriften (§ 1610 Abs 1 BGB) zurückgegriffen werden. Danach bestimmt sich das Maß des zu gewährenden Unterhalts nach der Lebensstellung des Bedürftigen (angemessener Unterhalt). Im Einklang damit schreiben die VV Nr 1 zu § 45 BVG iVm VV Nr 18 zu § 33b BVG vor: "Ein Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es einen angemessenen Lebensunterhalt nicht durch Einkünfte aus einem Vermögen, durch Einkünfte aus einer gegenwärtigen oder früheren Tätigkeit oder nach Vollendung des 27. Lebensjahres durch Unterhaltsleistungen seines Ehegatten oder früheren Ehegatten bestreiten kann". Somit ist die zu § 1259 RVO aF (vgl nunmehr § 1257 Abs 3 Satz 2 und § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO) ergangene grundsätzliche Entscheidung des Reichsversicherungsamtes (RVA im An 1930 IV 339 - Nr 3804), die auf den notwendigen - nicht den angemessenen - Unterhalt abgestellt hatte, nicht mehr anwendbar.
Folglich wird das LSG zu prüfen haben, welchen Nettoarbeitslohn die Klägerin während ihrer Beschäftigung erzielt hatte. Deckt dieser Lohnbetrag nicht den auf die persönlichen Belange der Klägerin bezogenen - angemessenen - Unterhalt, ist damit allerdings noch nicht erwiesen, daß die Klägerin zur Bestreitung des angemessenen Unterhalts außerstande war und gegebenenfalls noch ist. Davon könnte nur ausgegangen werden, wenn die Klägerin bei Vollendung des 27. Lebensjahres und danach nicht in der Lage war, einer Ganztagsbeschäftigung nachzugehen. Hätte die Klägerin hingegen ihre Leistungsbereitschaft aus familiären Gründen - Pflege der Mutter - auf eine Halbtagstätigkeit beschränkt, müßte dies unbeachtet bleiben. Für eine solche persönliche Leistungseinschränkung deuten die vom Berufungsgericht beigezogenen Arbeitsamtsakten in gewisser Weise hin. Jedoch wäre die Verwertung dieser Verwaltungsakten zur ausreichenden und umfassenden Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens (BSG SozR Nr 40 und 56 zu § 128 SGG) ohne weitere Ermittlungen nur zulässig gewesen, wenn die Beteiligten dies im Prozeßverfahren hätten gelten lassen wollen. Sind die Beteiligten hingegen damit nicht einverstanden, ergibt vielmehr ihr Sachvortrag eine gegensätzliche Darstellung, wovon nach der Einlassung der Klägerin im Berufungsverfahren auszugehen ist, muß eine Beweisaufnahme durchgeführt werden (BSG SozSich 76, 312 = Breithaupt 1977 S. 25).
Das LSG hat bei der nunmehr gebotenen Entscheidung, die die vorstehenden rechtlichen Gesichtspunkte beachten muß, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen