Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.02.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 1988 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die jetzige Klägerin setzt als Sonderrechtsnachfolgerin den Rechtsstreit ihrer Mutter fort, die während des Revisionsverfahrens verstorben ist. Die ursprüngliche Klägerin, die in Rumänien lebte, begehrte Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Sozialgericht (SG) hat ihre Klage als unbegründet abgewiesen und das Urteil, in dem die Rechtsmittelbelehrung eine Drei-Monats-Frist für die Berufung angibt, durch Aushang ab 19. Januar 1987 öffentlich zugestellt, weil eine Zustellung auf diplomatischem Weg nach Auskunft der Deutschen Botschaft in Bukarest nicht möglich war. Mit zwei Schreiben vom 30. März 1987 bat die Klägerin das Landesversorgungsamt um Zustimmung zur Revision und beantragte beim SG, eingegangen am 21. April 1987, die Zulassung der Revision. Nachdem sie darüber belehrt worden war, daß eine Sprungrevision nicht zuzulassen sei, erklärte sie mit einem beim Landessozialgericht (LSG) am 15. September 1987 eingegangenen Schreiben vom 31. August 1987, sie hätte die Revision zur Beschleunigung des Verfahrens anstelle der Berufung wählen wollen, bitte nun aber, ihr Schreiben vom 30. März 1987 als Berufungsschrift zu werten. Das LSG hat die Berufung wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Das Schreiben vom 30. März 1987 hat es nicht als eine Berufungsschrift verstanden, weil die Klägerin darin ausdrücklich eine Revision angestrebt habe. Das Berufungsschreiben vom 31. August 1987 sei erst nach Ablauf der dreimonatigen Berufungsfrist, die am 15. Tag nach Beginn der Zustellungsaushängung begonnen habe, beim LSG eingegangen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren.
Die Klägerin vertritt mit der – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision die Ansicht, daß sie die Berufung rechtzeitig eingelegt habe. Schon das Schreiben vom 30. März 1987 an das SG sei als Berufungsschrift zu werten.
Die Berufungsfrist habe ein Jahr betragen (§ 66 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und sei deshalb gewahrt; denn die Rechtsmittelbelehrung sei unrichtig gewesen. Die angegebene Drei-Monats-Frist wegen einer Zustellung im Ausland sei durch die öffentliche Zustellung, eine Inlandszustellung, die eine Berufungsfrist von einem Monat zur Folge habe, überholt worden. Jedenfalls hätte der Klägerin wegen eines von ihr nicht zu vertretenden Rechtsirrtums über die Anfechtung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Die Klägerin hält einen Anspruch auf Witwenbehilfe nach § 48 BVG für begründet und beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid des Beklagten vom 19. August 1985 sowie den Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 1985 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenversorgung zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er tritt der Rechtsauffassung des LSG bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin hat insoweit Erfolg, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
Das LSG hätte eine Sachentscheidung treffen müssen und nicht die Berufung wegen Versäumens der Berufungsfrist nach § 158 Abs 1 SGG als unzulässig verwerfen dürfen.
Die Berufung ist nach § 151 Abs 1 SGG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils des SG schriftlich oder zur Niederschrift beim LSG einzulegen; die Berufungsfrist wird nach Abs 2 Satz 1 auch durch ein fristgerecht beim SG eingegangenes Schreiben gewahrt. Schon das erste an das SG gerichtete, dort am 21. April 1987 eingegangene Schreiben vom 30. März 1987 war eine Berufungsschrift. Diese Eingabe hat das LSG nicht zutreffend ausgelegt. Die Auslegung der Prozeßerklärung, die in erster Linie der Tatsacheninstanz obliegt, und zwar im Rahmen einer Tatsachenfeststellung für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG verbindlich, bindet in diesem Fall nicht; denn sie leidet an einem Rechtsfehler, den das BSG zu beurteilen hat (BSG SozR 4100 § 128a Nr 3 mN; BVerwG Buchholz 237.6 § 38 LBG Niedersachsen Nr 1; Für die Verfassungsbeschwerde: BVerfGE 71, 202, 204f). Für den Inhalt einer Berufungsschrift genügt das deutlich erkennbare Begehren nach einer Überprüfung des Urteils der ersten Instanz im Rechtsmittelweg; der Begriff „Berufung” braucht nicht unbedingt verwendet zu werden (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl 1987, § 151 Rz 11; Peters/Sautter/ Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 151 Rz 98 und 99; zur Klage: BSG SozR 2200 § 1300 Nr 1). Die ursprüngliche Klägerin brachte in ihrem bezeichneten Schreiben ihre Unzufriedenheit mit dem Urteil des SG deutlich genug zum Ausdruck und strebte erkennbar eine Kontrolle durch eine höhere Instanz an; sie beantragte unmittelbar eine Zulassung der Revision durch das SG als Voraussetzung für dieses Rechtsmittel. Sie wollte aber nicht um jeden Preis die zweite Instanz übergehen und direkt das Revisionsgericht anrufen. Veranlaßt wurde sie zu dem sachwidrigen Rechtsmittelbegehren durch die für sie unzureichende Belehrung, sie könne Berufung einlegen oder die Zulassung der Revision beantragen. Anstelle einer Berufung wäre die Revision nur in Betracht gekommen, wenn sie hätte zugelassen werden dürfen (BSGE 45, 78, 80 = SozR 1500 § 66 Nr 7). Für die Zulassung der Revision war aber keine der gesetzlichen Voraussetzungen gegeben (§ 161 Abs 1 und 2 Satz 1, § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG). Dies war der Klägerin, die sich in ihrem Heimatland nicht zureichend rechtlich beraten lassen konnte, nicht bekannt. Angesichts dieser für Richter leicht erkennbaren Sach- und Rechtslage mußte der aussichtslose Zulassungsantrag in ein sachgemäßes Berufungsbegehren umgedeutet werden.
Falls die Berufungsfrist von drei Monaten gemäß der Rechtsmittelbelehrung (§ 153 Abs 1 iVm § 87 Abs 1 Satz 2 SGG) maßgebend gewesen und der Beginn der Berufungsfrist durch die öffentliche Zustellung bestimmt worden wäre, hätte die Klägerin mit dem Eingang des bezeichneten Schreibens beim SG die Frist gewahrt (§ 64 SGG). Bei der öffentlichen Zustellung, die im Gerichtsverfahren ua dann zulässig ist, wenn im Ausland zugestellt werden müßte, diese Zustellung aber nicht ausgeführt werden kann (§ 63 Abs 1 und 2 SGG, § 2 Abs 1 Satz 3, § 15 Abs 1 Buchstabe c und Abs 6 Verwaltungszustellungsgesetz -VwZG-), gilt das öffentlich auszuhängende Schriftstück, an dessen Stelle auch eine Benachrichtigung darüber, daß und wo es eingesehen werden kann, ausgehängt werden kann (§ 15 Abs 2 VwZG), an dem Tag als zugestellt, an dem seit dem Tag des Aushängens zwei Wochen verstrichen sind (§ 15 Abs 3 Satz 2 VwZG). Das war hier der 3. Februar 1987. Der Eingang des Berufungsschreibens beim SG lag in der Frist von drei Monaten.
Diese Frist gilt jedoch nur bei einer Zustellung außerhalb des Geltungsbereiches des SGG. Ob diese Regelung auf Fälle der Ersatzzustellung iS des § 15 VwZG an einen im Ausland wohnenden Kläger entsprechend anzuwenden ist (ausgeschlossen bei Zustellung an einen inländischen Prozeßbevollmächtigten – BSG SozR 1500 § 151 Nr 4), ist allerdings fraglich. Die öffentliche Zustellung könnte eine solche im Inland sein. Sie setzt ua voraus, daß eine gebotene Zustellung im Ausland nicht möglich ist. In der Sondervorschrift des § 339 Abs 2 Zivilprozeßordnung für den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil (§ 338) wird die Zustellung im Ausland von der Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung alternativ unterschieden. Falls die öffentliche Zustellung eine solche im Inland gewesen wäre, bliebe es bei der einmonatigen Berufungsfrist, die mit dem Eingang des Schreibens vom 30. März 1987 beim SG versäumt gewesen wäre.
Aber die Berufungsfrist könnte dann wegen einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nach § 66 Abs 2 Satz 1 SGG auf ein Jahr seit der Zustellung verlängert worden sein, so daß sie sogar durch das klarstellende Schreiben vom 31. August 1987 gewahrt worden wäre. Unrichtig wäre die Rechtsmittelbelehrung dann insoweit, als sie wegen der öffentlichen Zustellung, falls diese eine nur einmonatige Frist in Gang setzte, diese statt der dreimonatigen hätte angeben müssen. Für solche Fälle ergibt sich die Frage, ob die notwendige Belehrung über die Berufungsfrist (BSGE 25, 31, 32 = SozR Nr 31 zu § 66 SGG) durch nachträgliche Berichtigung den beschwerten Beteiligten über den Beginn der Frist, der vom Datum des Aushangbeginnes abhängt, genau unterrichten müßte (abweichend von der Zustellung durch eingeschriebenen Brief – BSG SozR Nr 32 zu § 66 SGG). Die Klägerin konnte von sich aus darüber nicht genügend informiert sein. Jedenfalls war die im Urteil enthaltene Angabe, daß die Frist durch die Zustellung ins Ausland bestimmt werde, unrichtig (Peters/ Sautter/ Wolff, § 66 Anm 3e). Diese Belehrung konnte ursächlich für die verspätete Eingabe sein.
Über diese Rechtsfragen braucht der Senat nicht abschließend zu entscheiden. Jedenfalls hätte der Klägerin für den Fall einer Fristversäumnis eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs 1 SGG gewährt werden müssen; denn sie war ohne Verschulden verhindert, eine einmonatige Berufungsfrist zu wahren. Die Wiedereinsetzung war auch ohne Antrag nach § 67 Abs 4 Satz 3 SGG einzuräumen, weil die Klägerin binnen eines Monats nach zutreffender nachträglicher Belehrung über die Berufung ihr Rechtsmittelbegehren klargestellt hat (§ 67 Abs 2 Satz 1 bis 3 SGG). Das ausschlaggebende Hindernis für eine rechtzeitige Berufung war insbesondere nicht allein die rechtliche Unklarheit über die Voraussetzungen der Sprungrevision, sondern vor allem die Unkenntnis des Tages, an dem der öffentliche Aushang begann, und damit auch des davon abhängigen Tages, an dem das Urteil als zugestellt gilt (§ 15 Abs 3 Satz 2 VwZG), so daß die Berufungsfrist anläuft. Die Klägerin konnte aus ihrer Sicht annehmen, die Berufungsfrist beginne noch nicht, solange über ihren Antrag auf Zulassung der Sprungrevision nicht entschieden war. Außerdem stand für sie mangels entgegenstehender Belehrung nicht eindeutig fest, daß die öffentliche Zustellung, über die sie unterrichtet wurde, eine einmonatige Berufungsfrist in Gang setzte statt der dreimonatigen, die nach der Rechtsmittelbelehrung in dem Urteil angegeben wurde, von dem die Klägerin formlos ein Exemplar zugesandt bekam (§ 15 Abs 5 Satz 2 VwZG). Die rechtliche Verwirrung, die die Klägerin nicht durch Einholen eines zuverlässigen fachlichen Rates in ihrer Heimat beseitigen konnte, bestand bis zur formlosen Belehrung durch das SG.
Das LSG hat nun das Begehren der Klägerin sachlich zu prüfen und darüber sowie auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden. Für eine Sachentscheidung durch das BSG fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen.
Fundstellen