Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.12.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1988 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die in Polen wohnhafte Klägerin hat im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Witwenversorgung nach ihrem im Jahre 1955 verstorbenen Ehemann geltend gemacht, der im Krieg als Angehöriger der Wehrmacht verwundet worden war. Das klageabweisende Urteil vom 20. November 1987, nach dessen Rechtsmittelbelehrung die Berufung innerhalb von drei Monaten nach Zustellung beim Landessozialgericht (LSG) oder beim SG eingehen mußte, wurde der Klägerin im Wege der öffentlichen Zustellung zugestellt, weil die Zustellung in Polen durch polnische Behörden oder konsularische oder diplomatische Vertretungen der Bundesrepublik keinen Erfolg versprach. Die Öffentliche Zustellung erfolgte in der Weise, daß das Urteil am 21. Dezember 1987 an die Gerichtstafel geheftet worden ist. Gleichzeitig wurde der Klägerin das Urteil durch einfachen Brief am 21. Dezember 1987 übersandt. Mit Schreiben vom 5. April 1988, eingegangen beim SG am 14. April 1988, legte die Klägerin Berufung ein und führte zur Einhaltung der Frist aus, sie habe das Urteil am 8. Januar 1988 erhalten, somit wegen der Maßgeblichkeit des Eingangs bei der Post mit ihrem Schreiben die Dreimonatsfrist eingehalten. Das LSG hat mit Urteil vom 14. Dezember 1988 die Berufung wegen Fristversäumnis verworfen: Das Urteil des SG gelte nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) als am 4. Januar 1988 zugestellt. Die Berufungsfrist sei am 5. April 1988 abgelaufen, da der 4. April 1988 ein Feiertag gewesen sei. Der Klägerin sei keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da sie die Frist nicht ohne Verschulden versäumt habe. Ohne Verschulden habe sie lediglich annehmen können, daß die Frist am 8. April 1988 ende, weil ihr das mit einfachem Brief übersandte Urteil erst am 8. Januar 1988 zugegangen sei. Aber die unverschuldet falsch errechnete Frist habe die Klägerin schuldhaft versäumt, weil sie trotz der anderslautenden Rechtsmittelbelehrung zur Fristwahrung die Aufgabe bei der Post als maßgeblich angesehen habe.
Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie rügt, daß das LSG die Berufung als unzulässig verworfen habe, anstatt ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Sie habe die Berufungsfrist schuldlos versäumt, weil es ihr nicht möglich gewesen sei, die maßgebliche Frist zutreffend zu berechnen.
Die Klägerin beantragt,
unter Änderung der angefochtenen Urteile und der zugrundeliegenden Bescheide den Beklagten zu verurteilen, Witwenteilversorgung zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Das LSG hätte die Berufung nicht wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verwerfen dürfen. Es ist schon zweifelhaft, ob die Klägerin die Berufungsfrist überhaupt versäumt hat; jedenfalls ist ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Es kann offenbleiben, ob die Klägerin die Berufungsfrist schon deshalb gewahrt hat, weil die Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils iS des § 66 Abs 2 SGG unrichtig erteilt war und deshalb die Berufung noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung eingelegt werden konnte, was die Klägerin getan hat. Zweifel an der richtigen Erteilung der Rechtsmittelbelehrung bestehen deswegen, weil die öffentliche Zustellung durch Aushängen an der Gerichtstafel im Inland (vgl § 15 VwZG) erfolgt ist und es sich damit anstelle einer Auslandszustellung um eine Inlandszustellung gehandelt haben könnte, die eine Rechtsmittelfrist von lediglich einem Monat zur Folge hat (§ 151 Abs 1 SGG). Bei falscher Angabe einer längeren anstatt der kürzeren zutreffenden Rechtsmittelfrist ist allerdings zweifelhaft, ob dann ebenfalls die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG oder höchstens die falsche Frist gilt (vgl in diesem Sinne Bundesverwaltungsgericht NJW 1967, 591; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 66 RdNr 9; Eyermann/Fröhler, VwGO, 9. Aufl, § 58 Anm 10; Redeker/ von Oertzen, VwGO, 9. Aufl, § 58 Anm 8; Steinwedel, SGb 1991, S 115, 117; anderer Auffassung Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 66 Anm 3e).
Weiterhin könnte die Rechtsmittelbelehrung deshalb unrichtig erteilt gewesen sein, weil sie keinen Hinweis darauf enthalten hat, wann das zuzustellende Urteil an der Gerichtstafel ausgehängt worden ist, obwohl eine zutreffende Fristberechnung (vgl § 15 Abs 3 VwZG) ohne diese Kenntnis nicht möglich ist. Auch eine in wesentlicher Hinsicht unvollständige Rechtsmittelbelehrung ist unrichtig iS des § 66 Abs 1 SGG (vgl BSGE 6, 256, 260 = SozR Nr 15 zu § 67 SGG; BSG SozR 1500 § 66 Nr 2). Zwar muß eine Rechtsmittelbelehrung nicht allen denkbaren tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten Rechnung tragen und den Beteiligten jede eigene Überlegung ersparen. Deshalb braucht die Rechtsmittelbelehrung nicht auch über alle Einzelheiten der Fristberechnung aufzuklären. Die konkrete Fristberechnung bleibt Sache der Beteiligten. Notfalls haben sie sich zu erkundigen (BVerfG MDR 1970, 531; NJW 1972, 1435; BSG SozR 1500 § 66 Nr 2 und Nr 6). Wie die Frist zur Einlegung der Berufung zu berechnen war, hätte der Klägerin aber auch ein rechtskundiger Berater nicht sagen können, ohne den Tag der Aushängung des Urteils zu kennen, der für den Fristbeginn maßgebend ist. Denn nach § 15 Abs 3 Satz 2 gilt das Schriftstück, das keine Ladung enthält, an dem Tage als zugestellt, an dem seit dem Tage des Aushängens zwei Wochen verstrichen sind. Die zur Berechnung des Fristbeginns erforderlichen Tatsachen hätten nur durch Erkundigung bei dem SG in Erfahrung gebracht werden können. Dies scheint dafür zu sprechen, daß die Rechtsmittelbelehrung nicht das Mindestmaß an Information enthalten hat, um eine zuverlässige Berechnung und vollständige Ausschöpfung der gesetzlich eingeräumten Rechtsmittelfrist zu gewährleisten, und damit iS von § 66 Abs 2 SGG unrichtig erteilt worden ist. Der Senat braucht dies nicht abschließend zu entscheiden.
Denn unter diesen Umständen hätte das LSG der Klägerin jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen (§ 67 SGG). Sie ist ohne Verschulden verhindert gewesen, rechtzeitig Berufung einzulegen, weil sie nicht berechnen konnte, wann die ihr mitgeteilte Frist zur Einlegung der Berufung ablief. Wie bereits ausgeführt, hätte selbst ein Rechtskundiger die Berufungsfrist nur zutreffend berechnen können, wenn er sich zuvor nach dem Tag der Aushängung des zuzustellenden Urteils erkundigt hätte. Dies zu verlangen, würde schon hohe Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines im Inland wohnenden, rechtskundigen Prozeßbeteiligten stellen. Ein in Polen wohnender, rechtsunkundiger Beteiligter, wie die Klägerin, die sich die erforderlichen Informationen nur im Schriftverkehr unter Inkaufnahme langer Postlaufzeiten verschaffen kann, wäre damit überfordert. Das BSG hat im Anschluß an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits wiederholt entschieden, daß im Sozialgerichtsverfahren besonderer Anlaß besteht, darauf zu achten, daß die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht überspannt werden (vgl BSGE 38, 248, 260 = SozR 1500 § 67 Nr 1 unter Hinweis auf BVerfGE 25, 158, 166; 26, 315, 318; 31, 388, 390; 34, 154, 156; BVerfG NJW 1974, 25; BSG SozR 1500 § 61 Nr 1). Verfahrensvorschriften sind nicht Selbstzweck; sie dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. Im Zweifel sind sie so auszulegen, daß eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglicht und nicht verhindert wird.
Daß die Klägerin die Frist, die sie zu Unrecht für maßgebend hielt, nicht eingehalten hat, ist kein Grund, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen, wie das LSG gemeint hat. Es ist unerheblich, ob es der Klägerin als Verschulden anzurechnen ist, daß sie trotz der anderslautenden Rechtsmittelbelehrung nicht den Eingang bei Gericht, sondern den Zeitpunkt des Absendens der Berufungsschrift als maßgebend angesehen hat. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dann zu gewähren, wenn die zutreffende “gesetzliche Verfahrensfrist” ohne Verschulden nicht eingehalten worden ist; sie ist nicht dann ausgeschlossen, wenn eine irrtümlich vorgestellte andere Frist schuldhaft versäumt worden wäre. Ein Verschulden, das für die Versäumung der Verfahrensfrist nicht ursächlich war, ist unbeachtlich (vgl BSG SozR 1500 § 67 Nr 3; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 67 Anm 7a S 219).
Das LSG wird nunmehr über die Berufung erneut und dabei auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen