Leitsatz (amtlich)

Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rekurses gegen das Urteil eines bayerischen OVA ist nach den §§ 131, 132, 133, 134 RVO, nicht nach § 67 SGG, zu beurteilen, wenn die Rekursfrist noch im Jahre 1951 abgelaufen ist.

 

Normenkette

RVO § 131 Fassung: 1924-12-15, § 132 Fassung: 1924-12-15, § 133 Fassung: 1924-12-15, § 134 Fassung: 1924-12-15; SGG § 67 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

1.) Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. April 1954 wird zurückgewiesen.

2.) Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der Antrag des Klägers, ihm eine Rente nach dem Bayer. Körperbeschädigten - Leistungsgesetz (B.KB-LG) zu gewähren, wurde durch Bescheid des Versorgungsamts ... abgelehnt, da die Gesundheitsstörung des Klägers mit schädigenden Einflüssen des Kriegsdienstes nicht zusammenhänge. Seine Berufung wurde durch Urteil des Oberversicherungsamts ... vom 17. Oktober 1951 als unbegründet zurückgewiesen. Eine Ausfertigung des Urteils, die für den Prozeßbevollmächtigten des Klägers, ..., bestimmt war, wurde vom Oberversicherungsamt ... an den Verband der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen (VdK) - Bezirksstelle Oberfranken - in Bayreuth abgesandt und ist dort lt. einer von dem Zustellungsbevollmächtigten unterzeichneten Empfangsbestätigung am 31. Oktober 1951 eingegangen. Durch Vermittlung des Vorsitzenden des Ortsverbandes des VdK am Wohnort des Klägers wurde diesem die Urteilsausfertigung am 29. November 1951 ausgehändigt.

Gegen das Urteil des Oberversicherungsamtes ... hat der Kläger mit einem von ihm selbst unterzeichneten, am 1. Dezember 1951 beim Versorgungsamt ... eingegangenen Schriftsatz vom 29. November 1951 Rekurs beim Bayerischen Landesversicherungsamt eingelegt. Von diesem auf die Versäumung der Rekursfrist hingewiesen, hat der Kläger in einem am 22. März 1952 beim Bayer. Landesversicherungsamt eingegangenen Schriftsatz vom 19. März 1952 beantragt, ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen; er sei an der verspäteten Rekurseinlegung schuldlos, weil er erst am 29. November 1951 in den Besitz der Urteilsausfertigung gekommen sei.

Die am 31. Dezember 1953 anhängige und damals noch unerledigte Sache ist nach § 215 Absatz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 auf das Bayerische Landessozialgericht übergegangen. Dieses hat durch Urteil vom 23. April 1954 die Berufung des Klägers als verspätet verworfen. Das Landessozialgericht stützt seine Entscheidung darauf, daß der Kläger die Rekursfrist, die (nach § 128 RVO) einen Monat betrug, versäumt habe und daß sein Antrag, ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen, nicht nach § 67 Absatz 1 SGG, sondern nach § 131 RVO in der damals geltenden Fassung zu beurteilen sei. Nach dieser Vorschrift sei aber der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unbegründet, weil die Fristversäumnis auf ein unentschuldbares Verhalten des Prozeßbevollmächtigten des Klägers, ..., zurückzuführen sei; der Kläger sei mithin nicht durch einen unabwendbaren Zufall an der Wahrung der Frist verhindert worden. Das Landessozialgericht hat folgendes festgestellt: Die Urteilsausfertigung ist nach ordnungsmäßiger Zustellung am 31. Oktober 1951 an den Zustellungsbevollmächtigten ..., Sozialreferent bei der Bezirksgeschäftsstelle Oberfranken des VdK in Bayreuth, von diesem an die Bezirksgeschäftsstelle des VdK in Fürth, von dort am 12. November 1951 an die Kreisgeschäftsstelle des VdK in ... übersandt worden - mit dem Vermerk, daß gegen das am 31. Oktober 1951 zugestellte Urteil von der Bezirksgeschäftsstelle Rekurs nicht eingelegt worden sei. Die Kreisgeschäftsstelle hat die Urteilsausfertigung dem ersten Vorsitzenden des Ortsverbandes in ... zugeleitet, bei dem sie einige Tage lag, bis er sie am 29. November 1951 dem Kläger aushändigte. Ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten ist nach der Auffassung des Landessozialgerichts darin zu erblicken, daß weder er selbst noch die übrigen Prozeßbevollmächtigten trotz des langen Instanzenweges innerhalb des VdK (Bayreuth-Fürth-Wunsiedel-Weißenstein) geeignete Vorkehrungen getroffen haben, um die sichere und schnelle Übermittlung des angefochtenen Urteils zu gewährleisten und dem Kläger Kenntnis vom Zeitpunkt des Ablaufs der Rechtsmittelfrist zu geben. Im übrigen wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen dieses ihm am 5. Juli 1954 zugestellte Urteil, in welchem die Revision nach § 162 Absatz 1 Nr. 1 Halbsatz 1 SGG zugelassen wurde, hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen und dem Revisionsbeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Zur Begründung der Revision macht der Kläger geltend, die Berufungsfrist sei zwar durch eine Reihe unglücklicher Umstände versäumt worden, jedoch liege ein unabwendbarer Zufall vor, der es rechtfertige, ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen. Der Kläger ist außerdem der Auffassung, daß im vorliegenden Fall die ihm günstigere Vorschrift des § 67 Absatz 1 SGG für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand maßgebend sei. Im übrigen wird auf die klägerischen Schriftsätze vom 18. August 1954 und vom 7. Februar 1955 Bezug genommen. Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 21. Januar 1955 beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt, aber unbegründet.

Das Landessozialgericht hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteiles eine Feststellung über die Versäumung der Rekursfrist nur in dem einzigen Satz getroffen: "Der Rekurs ist verspätet eingelegt worden, so daß die jetzige Berufung als verspätet gilt". Aus dem Zusammenhang mit dem Urteilstatbestand kann aber entnommen werden, daß das Landessozialgericht offensichtlich folgendes feststellen wollte: Da das Urteil des Oberversicherungsamtes ... dem Kläger am 31. Oktober 1951 rechtswirksam zugestellt wurde, ist die Rekursfrist nach den §§ 125, 128 RVO am Freitag, dem 30. November 1951, abgelaufen, und da der Rekurs erst am 1. Dezember 1951 eingelegt wurde, die Rekursfrist um einen Tag überschritten.

Der Kläger hat nichts geltend gemacht, was dieser tatsächlichen Feststellung widerspricht. Das Landessozialgericht ist daher bei der Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit Recht von diesem Sachverhalt ausgegangen.

Für die Einlegung des Rekurses gegen das Urteil des Oberversicherungsamtes galten die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), die erst mit dem Inkrafttreten des SGG, dem 1. Januar 1954, aufgehoben wurden. Die Zulässigkeit, einem Beteiligten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen mit der Wirkung, daß ein verspätet eingelegtes Rechtsmittel als rechtzeitig gilt, ist sowohl nach altem wie nach neuem Recht an einen bestimmten Tatbestand geknüpft, nämlich daran, daß der Beteiligte durch die im Gesetz näher bezeichneten Umstände (§ 131 RVO, § 67 Abs. 1 SGG) verhindert war, die Rechtsmittelfrist einzuhalten. Der Ablauf der Rekursfrist und die Beseitigung des Hindernisses, auf das sich der Kläger beruft, fallen noch in das Jahr 1951; selbst der Zeitpunkt, an welchem der Kläger spätestens von der Versäumung der Rechtsmittelfrist Kenntnis erhielt, liegt noch vor dem 1. Januar 1954, dem Tag des Inkrafttretens des SGG.

Das Landessozialgericht hat ohne Rechtsirrtum angenommen, daß auf diesen Sachverhalt das alte Verfahrensrecht anzuwenden ist, weil er unter seiner Herrschaft verwirklicht worden ist. Wie in der Rechtslehre und in der Rechtsprechung der Zivilgerichte allgemein anerkannt ist, findet bei einer Änderung des Rechts das neue Prozeßrecht in der Regel auch in Rechtsstreitigkeiten Anwendung, die bei dem Eintritt des Rechtswechsels schon anhängig sind. Dies gilt aber grundsätzlich nur in Bezug auf zukünftige Handlungen und Vorgänge, dagegen nicht, soweit reine Rechtswirkungen von solchen Handlungen oder Unterlassungen in Frage kommen, die bei Inkrafttreten des neuen Rechts bereits abgeschlossen vorliegen. Ihre Wirkungen beurteilen sich in Ermangelung einer besonderen Übergangsvorschrift nach dem alten Recht.

Vgl. Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, I. Teil, S. 28, § 12 II 3;

Stein-Jonas, ZPO, 14. Aufl., Bd. 2 S. 1189, Art. VII der Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13. Februar 1924, Note I;

RGZ 16, 398 (Beschluß vom 10. Juni 1886);

RGZ 48, 404 (406);

RGZ 110, 160 (162).

Ist die Rechtsmittelfrist, gegen deren Versäumung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt wurde, schon vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes abgelaufen und ist außerdem das Hindernis, auf das der Antrag gestützt wurde, vorher beseitigt worden, so ist nicht nach § 67 SGG, sondern nach den §§ 131 bis 134 RVO zu beurteilen, ob der Hinderungsgrund rechtserheblich ist. Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, das in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1914 ohne weiteres davon ausging, daß der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rekurses gegen ein im Jahre 1913 zugestelltes Urteil eines Oberversicherungsamtes in einer Unfallversicherungssache nach altem Recht zu beurteilen war (vgl. Entscheidungen Nr. 2732 und 2733, AN des RVA 1914, S. 665, und 666=EuM des RVA Bd. 3 S. 56 und 54).

Nach § 131 Abs. 1 RVO kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur erteilt werden, wenn die Verhinderung auf einen "unabwendbaren" Zufall zurückzuführen ist. Das Landessozialgericht hat aus dem von ihm festgestellten Sachverhalt ohne Verletzung des Gesetzes den Schluß gezogen, daß ein unabwendbarer Zufall im Sinne dieser Vorschrift nicht die Ursache der Fristversäumnis war. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers konnte ihn über die notwendigen Schritte zur Wahrung der Rekursfrist belehren. Im übrigen war der Kläger, da er am 29. November 1951 in den Besitz der Urteilsausfertigung kam, nicht gehindert, dafür zu sorgen, daß die von ihm unterzeichnete und vom gleichen Tage datierte Rekursschrift spätestens am folgenden Tag bei einer inländischen Behörde einging, wodurch die Frist gewahrt worden wäre (§ 129 RVO). Die Auffassung des Landessozialgerichts findet noch eine weitere Stütze darin, daß nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Oberversicherungsamt ... der Kläger im Termin vom 17. Oktober 1951 persönlich anwesend und daher in der Lage war, seinem mit erschienenen Prozeßbevollmächtigten den Auftrag zu geben, Rekurs gegen das in diesem Termin verkündete Urteil einzulegen.

Die Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags und Verwerfung der Berufung als verspätet durch das Landessozialgericht ist daher zu Recht erfolgt.

Die Entscheidung im Kostenpunkt beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2373467

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